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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 03 vom 04.02.1999, Seite 9

Afrikanische Renaissance

Rückbesinnung auf eigene Werte (Teil 2)

Anstelle von Nachahmungen europäischer Werte eigene, alternative Gesellschaftsmodelle zu erproben, erwies sich in Afrika als kaum möglich. Die politische Unabhängigkeit gebar fast überall "neokoloniale Staaten", politische Gebilde, die weiterhin von den alten Mächten wirtschaftlich und politisch kontrolliert wurden.
  Ngugi wa Thiong'o nennt ein Beispiel:
  "Der äußere Druck ging vom Westen aus, der wollte, daß diese afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit und Blockfreiheit entschlossen auf der Seite der wirtschaftlichen und politischen Interessen des Westens aufrechterhielten. Wo ein Regime das konsequente Verlangen zum Ausdruck brachte, aus der westlichen Einflußsphäre auszubrechen, wurde ein Prozeß der Destabilisierung durch Wirtschaftssabotage und politische Intrigen in Gang gesetzt. Die Rolle der USA beim Sturz Lumumbas und der Etablierung des Militärregimes in Zaire mit Mobutu an der Spitze ganz zu Beginn … war ein Vorzeichen dafür, was kommen würde."
  In vielen Ländern Afrikas sind Straßen und Plätze nach Patrice Lumumba benannt. Er wurde im Juni 1960 zum ersten Regierungschef des unabhängigen Kongo gewählt. Lumumba stellte die Rohstoffe unter nationale Kontrolle und wollte sein Land so von den ehemaligen Kolonialmacht Belgien abnabeln. Für diese Tat mußte er sterben. Ein halbes Jahr nach seiner Wahl ließen westliche Geheimdienste in unheiliger Allianz mit UNO-Truppen Lumumba ermorden. So verhalfen sie dem langjährigen Diktator Mobutu zur Macht, der bis August letzten Jahres den Prototyp des Statthalters westlicher Wirtschaftsinteressen in Afrika darstellte und sein Land in den wirtschaftlichen und politischen Ruin führte.
  Die politische Einmischung Europas und der USA in die inneren Angelegenheiten afrikanischer Staaten sollte sich nach Lumumbas Tod noch häufig wiederholen. Etwa im westafrikanischen Burkina Faso, das sich Anfang der 80er Jahre in einem faszinierenden politischen Aufbruch befand.
  Der charismatische Hauptmann Thomas Sankara übernahm 1983 die Macht im damaligen Obervolta. Der neue Präsident änderte den von den Kolonialherren eingeführten Namen des Landes in Burkina Faso - "Land der freien und aufrechten Menschen".
  Sankaras politisches Credo lautete: "Ein Volk, das Hunger und Durst leidet, ist ein abhängiges Volk. Wir müssen den Hunger besiegen, um die Menschenwürde wiederherzustellen." Sankaras "Nationaler Rat der Revolution" setzte in Burkina Faso eine "Entwicklung aus eigener Kraft" in Gang. Er schränkte die Importe teurer Nahrungsmittel, Luxusgüter und Kleider aus Europa für die kleine städtische Elite ein, um den Lebensstandard der Landbevölkerung anheben zu können. Statt Nadelstreifenanzüge aus Paris trugen seine Minister wieder traditionelle Gewänder, und Sankara schaffte auch ihre Luxuslimousinen ab. Er kürzte die Gehälter von Regierungsangestellten und Lehrern, die zuvor mehr als ein Drittel des Staatsbudgets verschlungen hatten. Mit dem so eingesparten Geld ließ er in Hunderten von Dörfern Gesundheitsstationen und Schulen bauen. Zur Demokratisierung der Gesellschaft gehörte die Aufwertung der Provinzen und die Einrichtung von Gerichtshöfen in den Dörfern.
  Aber die revolutionäre Politik fand bei den Westmächten keinen Gefallen. Die Weltbank verweigerte Burkina Faso wirtschaftliche Unterstützung. Die einheimische Elite inszenierte am 15.Oktober 1987 einen Militärputsch. Thomas Sankara wurde ermordet. Mit ihm starb ein weiterer politischer Hoffnungsträger Afrikas. Seitdem regiert mit Blaise Compaoré, dem Führer der Putschisten, auch in Burkina Faso, dem "Land der freien und aufrechten Menschen", wieder ein Präsident, der den Segen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich hat.
 
  Bessere Geschäfte mit Alleinherrschern
  Bis heute verweisen Intellektuelle in Afrika auf Sankaras Reformen, Lumumbas Pläne und Fanons Analysen, wenn sie Visionen für eine selbstbestimmte und eigenständige Entwicklung des Kontinents entwerfen. Visionen, die sich nicht verwirklichen ließen, weil dem Westen im Namen des Kalten Krieges alle Mittel recht waren, um selbst in einem wirtschaftlich eher unbedeutenden Land wie Burkina Faso gesellschaftliche Alternativen zu bekämpfen - und erst recht, um in rohstoffreichen Ländern wie Zaire ihre wirtschaftliche Vorherrschaft von Diktatoren sichern zu lassen.
  Die gemeinsame Ölförderung war noch der wirtschaftliche Hebel, mit dem der Westen in Nigeria über Jahrzehnte wechselnde Militärregime an der Macht hielt, die die Intellektuellen des Landes verfolgen und ermorden ließen. Auch der erste afrikanischen Nobelpreisträger für Literatur, Wole Soyinka, eine der bekanntesten politischen Stimmen des Kontinents, war von der Todesstrafe bedroht und verbrachte vier Jahre im Exil. Wole Soyinka wundert sich über die undemokratische Haltung der Europäer:
  "Außerhalb Afrikas werde ich immer noch mit der Frage konfrontiert, was wohl mit unseren Ländern passieren würde, wenn die Alleinherrscher abdanken müßten. Da käme es doch sicher zu ethnischen Konflikten und Religionskriegen, zu Korruption, Regionalinteressen und Grenzkonflikten zwischen Clans und Staaten. Mythenbildung dieser Art betreiben insbesondere die Konzerne, die mit Diktatoren gute Geschäfte machen. Warum? Weil es für sie einfacher ist, ihre Profite zu maximieren, wenn sie es nur mit einer einzigen Person zu tun haben. Mit einem Alleinherrscher lassen sich leichter Geschäfte aller Art machen, auch illegale, als z.B. mit einem gewählten Parlament, das die Interessen der Bevölkerung vertritt, über Kontrollausschüsse verfügt und alles, was dazu gehört."
  In Nigeria bspw. lebt trotz reicher Rohstoffvorkommen, darunter vor allem Erdöl, die große Mehrheit der Bevölkerung in extremer Armut. Der Grund: die Ölförderung, die immerhin 80 Prozent der Staatseinnahmen erbringt, wird von internationalen Konzernen wie Shell, BP und Chevron kontrolliert. Die korrupten Machthaber haben ihnen das Land verkauft.
  Auch das Ende des Kalten Krieges hat an diesen Verhältnissen bislang wenig verändert. Nicht nur in Nigeria. Im Gegenteil. Wole Soyinka: "Während des Kalten Krieges konnten oppositionelle Gruppen in Afrika die ideologischen Differenzen der Großmächte untereinander noch für sich nutzen und aus dem Osten Unterstützung bekommen. Heute ist dies nicht mehr möglich. Dafür geht allerdings auch die Tendenz zurück, sich Ideen von anderswo auszuborgen. Ein gebranntes Kind scheut eben das Feuer."
 
  Sozialismus ist eine universelle Philosophie
  Auch mit den sozialistischen Vorgaben aus Osteuropa haben einige afrikanische Länder von Algerien bis Mosambik zwiespältige Erfahrungen gemacht, vor allem mit falschen, auf Großprojekte zielende Entwicklungsstrategien und mit den undemokratischen und bürokratischen Erscheinungsformen des Einparteiensystems.
  Doch auch die "Demokratisierung", die der Westen Anfang der 90er Jahre zum Teil unter großem Druck einforderte, und die damit verbundene sogenannte "marktwirtschaftliche" Ausrichtung hat vielen afrikanischen Staaten bislang wenig Erfolg beschert. Die angeblich so segensreich wirkenden Kräfte des freien Markts haben sie noch tiefer in die Abhängigkeit und damit in die Armut getrieben. Der Ägypter Samir Amin arbeitet in der senegalesischen Hauptstadt Dakar als Koordinator des Forum du Tiers Monde, einer Organisation, die die Probleme der Welt aus dem Blickwinkel des Südens analysiert. Anfang 1998 sagte er bei einer Tagung zum Thema "Globalisierung":
  "Die Gleichsetzung Markt gleich Demokratie und alles, was man nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesagt hat, ist reiner Quatsch. Das ist alles nur Propaganda im schlechtesten Sinne des Wortes. Der Markt ist in Wirklichkeit die Antithese der Demokratie."4 Statt dessen fordert Amin eine andere Vision von Globalisierung. Dazu müßte man in der derzeit stattfindenden grundsätzlichen ideologischen Auseinandersetzung in die Offensive gehen. Die Regulierung müßte neu legitimiert werden, denn ohne Regulierung gäbe es keine Demokratie. Afrika müßte wegkommen von der exklusiven und ausschließenden Logik des Kapitals. Langfristig gesehen brauche die Erde eine weltweite sozialistische Gesellschaft, auch wenn der Übergang dahin ein paar Jahrhunderte dauern könne. "Ich bin Ägypter, ich denke langfristig. Da sind 100 oder 200 Jahre so gut wie nichts, angesichts der Geschichte, die wir haben."4
  Auch der nigerianische Nobelpreisträger Wole Soyinka bezeichnet sich weiterhin als Sozialist. Der senegalesische Schriftsteller Ousmane Sembène betont bis heute den Wert der marxistischen Theorie, wenn er die kapitalistische Gesellschaft kritisiert und analysiert. Und die Autorin Ama Ata Aidoo aus Ghana sagt:
  "Sozialismus ist eine Philosophie. Auch wenn die Sowjetunion sie nicht verwirklicht hat, heißt das noch nicht, daß sie ein für allemal gescheitert ist. Die Leute, die das behaupten, kämen nie auf die Idee zu sagen: ‚Nun, da wir sehen, welche Schwierigkeiten es in Südostasien gibt oder was aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion geworden ist, müssen wir eingestehen, daß der Kapitalismus gescheitert ist.' Diese doppelzüngige Diskussion ärgert mich. Die Experimente sozialistischer Gesellschaften waren erfolglos, weil Sozialismus eine Vision von menschlichem Leben und humanistischen Werten erfordert, eine Achtung anderer und somit eine Disziplin, die wir offensichtlich noch nicht aufgebracht haben - weder in Europa noch in Afrika. Sozialismus ist auch keine europäische, sondern eine universelle Philosophie, da er von der Idee ausgeht, Dinge gemeinschaftlich zu regeln. Deshalb sagen viele Afrikaner: Sozialismus war immer afrikanisch, weil unsere Gesellschaften traditionell kollektiv organisiert waren, nicht nur innerhalb der Familien, sondern auch bei der gemeinschaftlichen Bebauung des Landes."
  Auf der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen gewinnen in Afrika zunehmend auch traditionelle Formen des Zusammenlebens und Bezüge auf die eigene, vorkoloniale Geschichte - verbunden mit der Kritik an der von außen aufgezwungenen und von den Eliten nachgeahmten "Moderne" - an Bedeutung.
  Jean-Marie Teno, Filmemacher aus Kamerun, arbeitet derzeit an einem Film darüber, welche Folgen die westliche Vorstellung von "Moderne" für Afrika hatte und hat. Als Ende der 80er Jahre die Weltmarktpreise für die wichtigsten Exportprodukte zusammenbrachen, geriet sein Land in eine tiefe Rezession. In deren Gefolge strauchelte auch das Bankensystem, ein System, das aus der Kolonialzeit übernommen worden war.
  Jean-Marie Teno: "Das Ziel der kolonialen Banken war nie, die Wirtschaft vor Ort, in Kamerun selbst, zu fördern. Vielmehr halfen diese Banken den großen europäischen Unternehmen, so viele Reichtümer wie möglich aus unserem Land herauszuschaffen. Nach der Unabhängigkeit hat unsere Regierung zwar ihre eigenen Leute in die Aufsichtsräte dieser Banken entsandt. Aber die gehorchten stets ergeben der Regierung. Und wenn die Regierung Kredite aufnehmen wollte, wurden sie ihr gewährt, auch wenn klar war, daß die Gelder nie zurückgezahlt würden. Das Geld stammte natürlich von den kleinen Leuten, den einfachen Bankkunden, die bald mit leeren Händen dastanden. Da konnte jemand kommen und eine Million Francs bei einer Bank einzahlen und zwei Minuten später, wenn er 100.000 davon wieder abheben wollte, erklärten ihm die Kassierer der Bank, es sei kein Geld mehr da. Als Folge dieser Entwicklung erlebte bei uns das traditionelle Kreditsystem der sog. Tantin einen enormen Aufschwung. Das heißt: die Leute legen privat Geld zusammen und entscheiden selbst darüber, wem sie damit für welches Projekt einen Kredit gewähren. Der wesentliche Unterschied ist, daß dieses Geld vor Ort, in unserem eigenen Land investiert wird. Seit die Gründung von Kooperativen in Kamerun wieder erlaubt ist, sind viele solcher Finanzkooperativen entstanden, die genau funktionieren wie die traditionelle Tantin. Selbst der Landwirtschaftsminister hat inzwischen zugeben müssen, daß erst das traditionelle Kreditsystem der Tantin die Wirtschaft in den Dörfern wieder ans Laufen gebracht hat. Inzwischen vertreten selbst führende Ökonomen die Ansicht, daß es höchste Zeit ist, ein afrikanisches Wirtschaftssystem zu entwickeln, das unseren kulturellen Gewohnheiten und Traditionen entspricht und von den Menschen verstanden und akzeptiert wird."
  Tatsächlich existieren ähnliche Kreditsysteme in fast allen afrikanischen Ländern. Auch andere nie aufgegebene Formen des Überlebens und der gegenseitigen Unterstützung der Menschen auf dem Land und in den Armenvierteln der Städte geraten wieder ins Blickfeld: Beerdigungsgesellschaften, Dorfgemeinschaften, Nachbarschaftshilfen, Vereinigungen von Marktfrauen, Kooperativen - die Basisorganisationen des Volkes. Schon haben Vertreter der neuen Politikergeneration wie Thabo Mbeki in Südafrika und Yoweri Museveni in Uganda eine "Afrikanische Renaissance" ausgerufen, die optimistische und auf Transformation gerichtete Besinnung auf die eigenen Werte. "Afrikanische Renaissance" meint aber auch die selbständige Überwindung eigener Fehler und despotischer Herrschaft sowie den Abschied von Europa.
  Dani Nabudere, Politikprofessor aus Uganda auf einem Kongreß 1995 zur neuen selbstbewußten Entschlossenheit der Afrikaner: "Modernisierung im heutigen Sinne heißt Verwestlichung, und dieser Ansatz hat zur Zerstörung vieler einheimischer Gesellschaften in Afrika und anderen Teilen der Dritten Welt geführt. Wir können diesen Weg der ‚Entwicklung' nicht mehr hinnehmen. Wir müssen den Völkern der Welt die Gelegenheit geben, ihre eigenen Wege des Fortbestehens zu suchen. Das sollte im Kontext ihrer Kulturen und ererbten Errungenschaften geschehen. Das gibt uns Hoffnung, daß wir aus der Krise heraus eine wirkliche Volksrevolution von unten schaffen."
  Birgit Morgenrath/Karl Rössel (Rheinisches JournalistInnenbüro)
 
  Zitate aus:
  1. M'Hamed Chérif und I.Serageldin in: A.Imfeld (Hg.), Chamäleon und Chimäre. Afrikanische Standpunkte, Berlin 1994.
  2. Ngugi wa Thiong'o, Essay über die Befreiung afrikanischer Kulturen, Münster 1995.
  3. F.Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Reinbek 1968.
  4. S.Amin in: W.Kreissl-Dörfler (Hg.), Schicksal Globalisierung, München 1998.
  5. D.Nabudere in: Afrika zwischen Krise und Hoffnung (Hg. Heinrich-Böll-Stiftung), Berlin 1995.