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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 03 vom 04.02.1999, Seite 11

Absage an Sozialdemokratie

Erfolgreiche Europakonferenz der EuroMärsche

Mehr als 700 Teilnehmer einer Konferenz der "Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung, Rassismus und Ausgrenzung" kamen am 23./24.Januar in der Universität Köln zusammen. "Das erinnert mich an die Studentenbewegung in den 60er Jahren, als Universitäten regelmäßig Raum politischer Auseinandersetzungen waren", so ein in die Jahre gekommener Aktivist. Doch zumindest zwei Unterschiede sind offensichtlich: Diesmal kommt das Protestpotential aus ganz Europa und umfaßt weit mehr als das studentische Mileu. Zwei Tage lang diskutierten Gewerkschafter, Erwerbslose, Flüchtlinge, Studierende und MigrantInnen aus ganz Europa und einigten sich neben einer Großdemonstration am 29.Mai auf die Durchführung eines Gegengipfels und internationaler Märsche Ende Mai und Anfang Juni.
  "Wir wissen, daß allein eine starke und koordinierte internationale soziale Bewegung weitreichende soziale Veränderungen und eine Umverteilung der Reichtümer erzwingen kann", heißt es in einem allgemeinen Aufruf zur europaweiten Demonstration, an der nach Angaben der EuroMärsche mindestens 30.000 Menschen teilnehmen werden.
  Schon mehrere Tage vorher werden aus Brüssel 1500 Franzosen, Belgier und Spanier nach Köln marschieren. Von Prag aus ist eine Fahrradtour geplant, aus Athen wird sich ein Balkanzug, an dem sich Aktivisten aus der Türkei, Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien beteiligen, in Bewegung setzen. In Deutschland werden Erwerbslose gemeinsam mit der "Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen" mehrere Märsche durchführen.
  Ein zusätzlicher Aufruf von Gewerkschaftern der französischen SUD, der CGT, der FO, der italienischen Sin Cobas, der spanischen CGT, dem griechischen Gewerkschaftsdachverband, der deutschen ÖTV und NGG sowie einigen Vertretern der IG Metall und HBV fordert "die gesamte europäische Gewerkschaftsbewegung" ebenfalls zur gemeinsamen Demonstration mit den "Arbeitslosen und Ausgegrenzten" auf. Daß ein sozialdemokratisch regiertes Europa ihre Forderungen nach radikaler Arbeitszeitverkürzung oder Ausbau der sozialen Sicherung einlösen wird, zweifeln die Gewerkschaftsaktivisten an. Sie sprechen sich aus "für einen Politikwechsel, der die neoliberalen Angriffe beendet".
  "Unser Protest richtet sich auch gegen die Maastrichter Verträge, den Stabilitätspakt und die Dikatatur der Zentralbank", betont Patrice Spadoni vom Pariser Koordinationsbüro der EuroMärsche. Denjenigen, die sich eine Fahrt von weit her nach Köln nicht leisten können, empfiehlt ein weiterer Redner, "den Transport mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostenlos zu nutzen". Das hatten bei anderen europäischen Mobilisierungen schon italienische und französische Aktivisten praktiziert.
  Im Anschluß an die Großdemonstration wird vom 30.Mai bis zum 2.Juni ein Gegengipfel stattfinden. Neben Foren zu Frauen, Umwelt, Weltwirtschaft und Bildung wird sich ein "Parlament der Erwerbslosen" treffen, das aus "lokalen Delegierten von kämpfenden Bewegungen, Verbänden und Gewerkschaften aller Länder" zusammengesetzt sein soll. Es wird eine europäische Forderungscharta ausarbeiten und verlangen, von den Regierenden empfangen zu werden. Geplant ist auch eine Fachtagung von Flüchtlingsorganisationen, Migranten und antirassistischen Initiativen, die ihre Arbeit ebenfalls europaweit koordinieren wollen. Einen separaten Gegengipfel plant ein "linksradikales Bündnis gegen EU- und Weltwirtschaftsgipfel" vom 4. bis 6.Juni.
  Das französische Erwerbslosennetzwerk APEIS hatte am Wochenende bewußt eine Migrantin algerischer Abstammung auf das Podium geschickt, weil "Frauen und MigrantInnen" am schwersten von der Erwerbslosigkeit betroffen sind. Angesichts von 8 Millionen Franzosen, die unterhalb der offiziellen Armutsgrenze leben müssen, übt auch sie scharfe Kritik an "der ‚linken' Regierung, die mit Unterstützung eines Teils der Gewerkschaften, vor allem der sozialdemokratisch orientierten CFDT, weiteren Sozialabbau betrieben hat".
  "Den Gegensatz der Interessen von Kapital und Arbeit klärt man nicht im Dialog, sondern im Kampf", meinte der Landesvorsitzende des Arbeitslosenverbands aus Mecklenburg-Vorpommern, Gerd-Erich Neumann. Deshalb sollten "Selbsthilfe und Beratungsarbeit nicht als Selbstzweck" begriffen, sondern "zur Mobilisierung genutzt werden".
  Der renommierte Lateinamerikaforscher Leo Gabriel sprach sich zudem dafür aus, "die Festung Europa nicht nur von innen, sondern auch von außen zu sprengen". Zu diesem Zweck werden die EuroMärsche einen Teil ihrer Aktionen gemeinsam mit der brasilianischen Landlosenbewegung MST und 500 Bauern und Bäuerinnen aus Indien durchführen, die sich zur Zeit des EU- und zwei Wochen später stattfindenden G7-Gipfels ebenfalls in Europa aufhalten werden. Damit wollen sie auch "auf die negativen Auswirkungen des Freihandels und die globalen Implikationen der EU-Politik aufmerksam machen".
  Gerhard Klas