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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 03 vom 04.02.1999, Seite 15

Stachel Trotzki

Band 3 der "Schriften" erschienen

Schon äußerlich merkt man, daß sich hier etwas verändert hat. Der Schutzumschlag ist nicht mehr im charakteristischen Hellgrau der ersten Bände, sondern in ästhetisch enttäuschendem Dunkelblau gehalten. Auch das im Impressum angegebene Druckdatum 1997 stimmt nicht, denn mehr als ein Jahr lang lagen die fertigen Druckfahnen ungedruckt beim Rasch und Röhring Verlag in Hamburg. Es fehlte dem finanziell angeschlagenen Verlag bisher an entsprechenden Mitteln.
  Die Rede ist von den lange angekündigten nächsten Teilbänden der Schriften-Edition Leo Trotzkis. Nun sind die ersten beiden von insgesamt vier Teilbänden endlich erschienen. Passend zur Debatte um das Schwarzbuch des Kommunismus läßt sich sagen, denn versammelt sind hier Trotzkis Bücher, Artikel, Reden und Briefe zum Thema "Linke Opposition und IV.Internationale" bis zum Jahre 1928. (Die Schriften bis 1940 füllen die nächsten zwei Teilbände.)
  Das meiste davon ist zwar aus entsprechenden Kleinverlagen der 70er Jahre bekannt, doch gibt es in dieser Ausgabe auch manch unveröffentlichtes und viel neuübersetztes. Vor allem jedoch werden die Texte ausführlich und wissenschaftlich kommentiert, um "die Kluft zu überbrücken, die den heutigen Leser von der Erfahrungswelt Trotzkis und seiner Generation trennt", sagt der Herausgeber Helmut Dahmer in einem Interview (in: "Utopie kreativ", Nr.97/98, November/Dezember 1998).
  "Ich möchte einen politischen Klassiker des 20.Jahrhunderts, der dem Bürgertum Feind und den Stalinisten ein Greuel war, und bei dem man sich aus erster Hand über die russische Revolution, Stalins totalitäre Despotie, den ‚Großen Terror' und die Alternativen dazu informieren kann, durch eine wissenschaftliche Edition seiner Schriften für die Überlieferung retten", so Dahmer.
  Das erwies sich bisher schwieriger als gedacht. Den ersten historischen Anlauf mußte er Anfang der 70er Jahre nach der Veröffentlichung der Deutschland-Schriften Trotzkis aufgeben. Der zweite, ehrgeizigere Versuch begann Anfang der 80er Jahre. Großzügig gesponsert von Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Stiftung für Wissenschaft und Kultur, endete die Unterstützung 1994 ohne Angabe von Gründen. Gerade mal vier von insgesamt 20 Teilbänden waren erschienen, sechs weitere so gut wie vollendet. Ohne Mittel und Mitarbeiter versucht nun Dahmer, die weitere Herausgabe dieser sechs Bände zu organisieren.
  "Die wirklichen Gründe der derzeitigen Finanzierungschwierigkeiten bestehen natürlich darin, daß Trotzki im Bewußtsein von Mäzenen und Stiftungen mit der Oktoberrevolution und mit dem Schicksal der Sowjetunion verbunden ist. Mitgefangen - mitgehangen. Er war (neben Lenin) der Hauptverantwortliche für den Oktoberaufstand; er war der Organisator des Sieges der Roten Armee im Bürgerkrieg. In den Augen seiner Kritiker macht es ihn nicht sympathischer, daß er seit 1923 der hellsichtigste und militanteste Kritiker des sich herausbildenden Stalinismus war, denn Trotzki attackierte Stalins totalitäres Regime, weil es die Arbeiterselbstverwaltung in der Sowjetunion und Arbeiterrevolutionen in Deutschland oder in Spanien blockierte", sagt Dahmer.
  Liest man sich in die beiden Bände hinein, so fällt schnell auf, warum Leo Trotzki ein Stachel im Fleische der Linken war und ist. Mit bemerkenswerter Härte des Denkens, bedenkt man seine damalige Rolle als führender Repräsentant des von ihm kritisierten Systems, geht er dem sich stalinisierenden Sowjetsystem zunehmend kompromißloser auf den Grund, gibt sich seit Ende 1923 nicht mehr zufrieden mit den üblichen fatalistischen Ausreden, warum es im nachrevolutionären Sowjetrußland immer schiefer läuft.
  Seit 1923 ändert sich ihm die Situation grundlegend. Die damals noch scheinbar temporären Niederlagen des internationalen Proletariats schlagen um in eine falsche Politik der sowjetrussischen Führung von Partei und Kommunistischer Internationale. Diese führt er zurück auf den um sich greifenden Bürokratismus der herrschenden Kaste.
  Anders jedoch als alle andere innerkommunistischen Oppositionen jener und der späteren Zeit, führt er diesen Bürokratismus nicht auf mangelnde Reife oder Erziehung, nicht unmittelbar auf rückständige Bedingungen und schlechte Gewohnheiten oder ähnliches zurück: "Die Auffassung, der Bürokratismus sei nur der Inbegriff schlechter Verwaltungsusancen, ist des Marxismus unwürdig. Der Bürokratismus ist eine gesellschaftliche Erscheinung, nämlich ein bestimmtes System der Verwaltung von Menschen und Sachen."
  Damit ist der prinzipielle Bruch Trotzkis mit dem von ihm selbst mitgestalteten System angezeigt und er legt den Finger auf die entscheidende Wunde: "Doch die nachleninsche Führung hat die Feindseligkeit der Diktatur des Proletariats gegen die bürgerliche Pseudo-Demokratie allmählich auf die grundlegenden Garantien der proletarischen Demokratie ausgedehnt, auf denen die Partei beruht und ohne die man die Arbeiterklasse und den Arbeiterstaat nicht führen könnte."
  Man kann heutzutage streiten, inwiefern Trotzkis und der Linken Opposition Alternativen historisch realisierbare Alternativen waren. Nicht streiten sollte man heute, daß es die politisch einzig ernstzunehmenden Alternativen waren. Dies sollte ausreichen, die Trotzki-Schriften nicht nur anständig zu edieren, sondern sie auch aufmerksam zu lesen und ernsthaft zu diskutieren. Inwieweit dies geschieht, bleibt ein untrüglicher Indikator für die Erneuerungskraft einer sozialistischen Linken.
  Christoph Jünke
 
  *L.Trotzki, Schriften 3 - Linke Opposition und IV.Internationale, Bd. 3.1 1923-1926, Band 3.2 1927-1928 (Hg. H.Dahmer u.a.), Hamburg (Rasch und Röhring) 1997 [1998], zusammen 1421 Seiten, je Band 98 DM.