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Achthundert Gewerkschafter und
Erwerbslosenvertreter kamen am Donnerstag und Freitag vergangener Woche in
Brüssel zu einer "Versammlung für Vollbeschäftigung"
zusammen. Eingeladen hatten der Europäische Gewerkschaftsbund, das
Erwerbslosennetzwerk ENU und einige linke EU-Parlamentarier.
"Die Zeit des Achselzuckens ist vorbei", so Frieder-Otto Wolf, der
für die deutschen Grünen im Straßburger Parlament sitzt. Mit dem
Antritt der neuen Regierung in Bonn scheint endlich der Weg frei für eine
Beschäftigungsinitiative der Europäischen Union. Wohin die Reise geht,
ist noch offen, aber, so Wolf, "nun geht der Streit zumindest um Konzepte".
Und da will man dabei sein, auch wenn einige skeptisch bleiben: "Wir waren sehr
schockiert", so ein Gewerkschafter aus dem britischen Birmingham,
"daß die Blair-Regierung, kaum daß sie an der Macht war,
amerikanische Flexibilisierungskonzepte einführte."
Zur Einstimmung gab Reagan Scott von der britischen Transportarbeitergewerkschaft
einen Überblick über die gegenwärtige Situation in der
Europäischen Union. 18-20 Millionen Arbeitsplätze würden nach
offizieller Lesart fehlen, die registrierte Arbeitslosenrate beträgt 10,9%. Doch
selbst diese hohen Zahlen seien untertrieben. 25 Millionen Arbeitsplätze
müssten geschaffen werden, bevor von Vollbeschäftigung die Rede sein
könne. Wachstum alleine kann kein Ausweg sein, so Scott, denn das
müsste langfristig über 3% liegen, um einen substantiellen Abbau der
Arbeitslosigkeit zu erzielen. Das wäre allerdings deutlich oberhalb dessen, was
in der EU im vergangenen Jahrzehnt erzielt wurde, und angesichts der sich
abzeichnenden Rezession, vor der mehrere Redner warnten, vollkommen
illusorisch.
Dennoch wurden in der abschließend verabschiedeten "Europäischen
Konvention für Vollbeschäftigung" vor allem keynesianische
Rezepte zur Ankurbelung der Wirtschaft aufgelistet: Die Zinsen müssten gesenkt
und die rigide Sparpolitik beendet werden. Öffentliche Investitionen in
Infrastruktur und Bildung sowie Lohnerhöhungen sollen die Nachfrage in Gang
bringen. Unterschiedliche Auffassungen klangen nur bei der Frage an, was von dem
Programm der Transeuropäischen Netzwerke zu halten ist, das von manchen
wegen der darin vorgesehenen Straßenbauvorhaben kritisiert wurde.
Einig war man sich darin, daß es einer koordinierten EU-Politik bedürfe,
damit beschäftigungspolitische Maßnahmen nicht durch einen
Steuersenkungswettbewerb unterlaufen werden. Eine solche gemeinsame Politik
müsse auch der Europäischen Zentralbank Vorgaben machen
können, und die Steuern auf Kapital und Gewinne harmonisieren.
Nicht zuletzt wurde eine Verkürzung der Arbeitszeit gefordert, wobei man sich
jedoch nicht auf eine Form festlegte, sondern 20% weniger Lebensarbeitszeit als
Richtschnur vorgab. Auf die Forderung nach einem Mindestlohn konnte man sich nicht
einigen. Zu groß scheint noch die Kluft zwischen mitteleuropäischen
Gewerkschaftern, die vor allem ihre Facharbeiterklientel im Auge haben, und irischen
Erwerbslosen, die täglich mit der Armut konfrontiert sind.
Wolfgang Pomrehn