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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 18.02.1999, Seite 4

Mit Keynes gegen die Erwerbslosigkeit

Achthundert Gewerkschafter und Erwerbslosenvertreter kamen am Donnerstag und Freitag vergangener Woche in Brüssel zu einer "Versammlung für Vollbeschäftigung" zusammen. Eingeladen hatten der Europäische Gewerkschaftsbund, das Erwerbslosennetzwerk ENU und einige linke EU-Parlamentarier.
  "Die Zeit des Achselzuckens ist vorbei", so Frieder-Otto Wolf, der für die deutschen Grünen im Straßburger Parlament sitzt. Mit dem Antritt der neuen Regierung in Bonn scheint endlich der Weg frei für eine Beschäftigungsinitiative der Europäischen Union. Wohin die Reise geht, ist noch offen, aber, so Wolf, "nun geht der Streit zumindest um Konzepte". Und da will man dabei sein, auch wenn einige skeptisch bleiben: "Wir waren sehr schockiert", so ein Gewerkschafter aus dem britischen Birmingham, "daß die Blair-Regierung, kaum daß sie an der Macht war, amerikanische Flexibilisierungskonzepte einführte."
  Zur Einstimmung gab Reagan Scott von der britischen Transportarbeitergewerkschaft einen Überblick über die gegenwärtige Situation in der Europäischen Union. 18-20 Millionen Arbeitsplätze würden nach offizieller Lesart fehlen, die registrierte Arbeitslosenrate beträgt 10,9%. Doch selbst diese hohen Zahlen seien untertrieben. 25 Millionen Arbeitsplätze müssten geschaffen werden, bevor von Vollbeschäftigung die Rede sein könne. Wachstum alleine kann kein Ausweg sein, so Scott, denn das müsste langfristig über 3% liegen, um einen substantiellen Abbau der Arbeitslosigkeit zu erzielen. Das wäre allerdings deutlich oberhalb dessen, was in der EU im vergangenen Jahrzehnt erzielt wurde, und angesichts der sich abzeichnenden Rezession, vor der mehrere Redner warnten, vollkommen illusorisch.
  Dennoch wurden in der abschließend verabschiedeten "Europäischen Konvention für Vollbeschäftigung" vor allem keynesianische Rezepte zur Ankurbelung der Wirtschaft aufgelistet: Die Zinsen müssten gesenkt und die rigide Sparpolitik beendet werden. Öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung sowie Lohnerhöhungen sollen die Nachfrage in Gang bringen. Unterschiedliche Auffassungen klangen nur bei der Frage an, was von dem Programm der Transeuropäischen Netzwerke zu halten ist, das von manchen wegen der darin vorgesehenen Straßenbauvorhaben kritisiert wurde.
  Einig war man sich darin, daß es einer koordinierten EU-Politik bedürfe, damit beschäftigungspolitische Maßnahmen nicht durch einen Steuersenkungswettbewerb unterlaufen werden. Eine solche gemeinsame Politik müsse auch der Europäischen Zentralbank Vorgaben machen können, und die Steuern auf Kapital und Gewinne harmonisieren.
  Nicht zuletzt wurde eine Verkürzung der Arbeitszeit gefordert, wobei man sich jedoch nicht auf eine Form festlegte, sondern 20% weniger Lebensarbeitszeit als Richtschnur vorgab. Auf die Forderung nach einem Mindestlohn konnte man sich nicht einigen. Zu groß scheint noch die Kluft zwischen mitteleuropäischen Gewerkschaftern, die vor allem ihre Facharbeiterklientel im Auge haben, und irischen Erwerbslosen, die täglich mit der Armut konfrontiert sind.
  Wolfgang Pomrehn
 


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