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Die Gewerkschaften sind am Ziel angelangt. Sie
brauchen nicht mehr zu kämpfen. Das haben die DGB-Kreise dieser Tage von
ihrem Bundesvorstand erfahren. Per Postschreiben teilte er ihnen mit, "daß
sich die politische Situation markant verändert hat. Die deutsche
Gewerkschaftsbewegung steht heute politisch nicht mehr in der Defensive und nicht in
der Konfrontation." Dies müsse am 1.Mai 1999 "deutlich
werden".
Da könnte sich doch der DGB, wenn das Kämpfen nun vorüber ist,
an seinem früheren Kampftag einfach demonstrativ auflösen... Aber so
weit geht der Bundesvorstand noch nicht.
Als Maiparole 1999 hat er beschlossen: "Neues Handeln: Für unser Land.
Mitgestalten, Mitbestimmen, Mitverantworten." Immer mitn mit,
mitn Schmidt, hieß es bei Tucholsky, obwohl Schmidt damals noch gar
nicht Kanzler war. Und Schröder nicht mal geboren.
In den fünf Jahrzehnten seit Bestehen der Bundesrrepublik haben die
Gewerkschaften für die Interessen der Lohnabhängigen gekämpft.
Ist das etwa seit Amtsantritt der SPD-geführten, von den Grünen
unterstützten Bundesregierung nicht mehr notwendig?
Vom "Ende der Bescheidenheit" sprach die IG Metall nach jahrelanger
lohnpolitischer Zurückhaltung. Werden unbescheidene Forderungen nun im
Konsens durchgesetzt?
Wie sollen die Gewerkschaften, derartig desorientiert, Bündnisse mit
Arbeitslosen, mit sozialen Bewegungen schließen können?
"Unser Land" - wem gehört es denn? Befindet es sich neuerdings in
Gemeineigentum? Im Gegenteil: Das meiste, was sich seit Generationen in
Gemeineigentum befunden hatte (Post und Bahn beispielsweise) ist in den vergangenen
Jahren privatisiert, also entnationalisiert oder durch die "Treuhandanstalt"
verschleudert worden.
Wer das "neue Handeln" der Gewerkschaften auf "unser Land"
orientiert, begeht einen verhängnisvollen Fehler. Sicher haben sich die
Organisationen der Lohnabhängigen auch in die nationale Politik einzumischen.
Mit der Kampagne "Deine Stimme für Arbeit und soziale
Gerechtigkeit" haben sie das 1998 richtig angefangen. Aber ist ihre Aufgabe mit
dem Regierungswechsel erfüllt? Wurden sie nur als Wahlhelfer gebraucht? Kann
es ihnen gleichgültig sein, ob dem Regierungswechsel ein Politikwechsel folgt
oder nicht? Haben sie sich nicht - unabhängig von jeder Regierungspolitik - vor
allem als Gegenpart des Kapitals zu verstehen, an dessen Macht sich durch die
Bundestagswahl nichts geändert hat? Das Kapital internationalisiert sich. Aber
der DGB beschränkt den Blick auf "unser Land".
Auch ein Plakat- und Postkartenmotiv wurde beschlossen: drei Mädchen, alle
blond - passend zur entpolitisierenden und nationalistischen Tendenz des
Mottos.
Von Interessen, die sich gegen das Kapital richten und aller Erfahrung nach auch mit
dem neuen Kabinett in Konflikt geraten können, wird, wenn es nach dem DGB-
Bundesvorstand geht, am 1.Mai 1999 nicht die Rede sein. Es sei denn, wir ignorieren
die zentrale Aussage und organisieren gemeinsam mit Arbeitslosen und sozialen
Bewegungen, namentlich denen der Migrantinnen und Migranten, einen 1.Mai, an dem
wir unsere Forderungen an die Politiker und die Unternehmer auf die Straße
tragen.
Manfred Klöpper
Aus: "Ossietzky", Nr.25, 1998. Der Autor ist Vorsitzender des DGB-
Kreises Oldenburg/Wilhelmshaven.