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Eine Jahrhundertbilanz" vorlegen wollen - kurz
vor dem kommenden Jahrtausend - Gisbert Schlemmer, Horst Schmitthenner und
Eckart Spoo als Herausgeber eines im VSA-Verlag erschienen Buches*. Dort wird
versucht, die Frage zu beantworten, ob wir einem "Kapitalismus ohne
Gewerkschaften" entgegengehen. Neben hochrangigen
Gewerkschaftsfunktionären kommen Wissenschaftler, Publizisten unnd die Basis
zu Wort.
In dem Kapitel "Bilanz und Ausblick" fragt Arno Klönne, ob die
Gewerkschaften sich "auf einem geordneten Rückzug befinden";
Gisbert Schlemmer meint, daß "die Zeit für Reformen knapp
wird"; Horst Schmitthenner fordert eine "Neuverteilung der
Lebensschancen" im Übergang zum 21.Jahrhundert; Klaus Peter Kisker
sieht uns "am Ende der kurzen Prosperität".
Die Frage nach der "Einheitsgewerkschaft" wird gestellt und die
Entwicklung der sozialen Milieus und Klassen vom Proletariat zur "Neuen
Mitte" behandelt; für einen "starken DGB" wird geworben,
und das Problem der "innergewerkschaftlichen Demokratie" ist nicht
unterschlagen worden. Im Kapitel "Gegenwehr und Umgestaltung", fragt
Michael Wendt, ob das "Ende des Verzichts" erreicht ist, und sieht in der
Rückkehr zum Keynesianismus einen Weg nach vorn.
Joachim Bischoff und Richard Detje von der Zeitschrift Sozialismus liefern gut
aufbereitetes statistisches Material, das auch Vergleiche mit anderen Ländern
ermöglicht. Sie zeigen auf, wie in der laufenden Abwärtsbewegung die
Weichen so gestellt werden können, daß Organisation und Programmatik
"aus der Logik bloßer Abwehrschlachten" herauskommen. Die
historische Kapitalismuskritik in der Arbeiterbewegung in Form von Räten,
Sozialisierung und Wirtschaftsdemokratie wird ebenso behandelt wie der Versuch, eine
gesellschaftliche Alternative über den Keynesianismus hinaus zu
entwickeln.
Die "Basis" kommt mit den Fragen zu Wort, ob Gewerkschaftsarbeit im
Betrieb ein "Auslaufmodell" ist und Gewerkschaften eine
"Artenschutzkommission" brauchen. Gefordert wird auch "offensiv
gegen Standortdebatte und neoliberale Wirtschaftspolitik zu agieren", und Loni
Mahlein, ehemaliger Chef der IG Druck und Papier, wird mit dem Ausspruch zitiert:
"Ohne progressive Theorie keine progressive Praxis".
Im Kapitel "Auftrag der Aufklärung" taucht leider zum einzigen
Male mit Stephanie Odenwald eine Frau auf, die kenntnisreich aufzeigt, wie die
fantastisch angestiegene Anzahl von Studenten eine "Illusion der
Chancengleichheit" geschaffen hat. Sie behandelt insbesondere die Probleme der
beruflichen Bildung und sieht eine zukunftsgerichtete gewerkschaftliche Politik darin,
"Notlagen und Lebensperspektiven Jugendlicher mehr Aufmerksamkeit zu
widmen".
Unter dem banalen Titel "Aus der Geschichte lernen - Gewerkschaften und
Bildung" versteht Jörg Wollenberg es, uns phantasievoll in den Vorband
des 1.Mai vom Jahr 2006 zu versetzen, an dem der hundertjährige Geburtstag
von Wolfgang Abendroth gefeiert wird. "Frank Deppe griff zur Trompete, Arno
Klönne zur Balalaika und Georg Benz spielte Klavier", berichtet
Wollenberg. Nachdenklich seien alle geworden, als Lisa Abendroth und Detlef Hensche
Texte aus der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss vorlasen.
Der 1938 aus Wien vertriebene und in Tel Aviv lebende Historiker Walter Grab
erinnerte an die verdrängten revolutionären Traditionen in der deutschen
Geschichte und an die Jakobiner, die er der Öffentlichkeit wieder
zugänglich machte, insbesondere an Georg Friedrich Rebmann, der schon 1798
schrieb: "Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk
erhalten!"
Nachdem Jörg Wollenberg dann aufzeigt, daß auch die Koalition unter
Kanzler Schröder gegen die Macht der Konzerne und die sich
verschärfende Massenarbeitslosigkeit wenig ausrichten konnte und die
rechtsaußen angesiedelte Partei Zulauf erhielt, sieht er voraus, wie der soziale
Protest nach "Jahren der Anpassung und Zurückhaltung in der
gewerkschaftlichen Bildungsarbeit endlich wieder seinen Ausdruck findet". Und
dann folgt ein Feuerwerk über "Bildungsarbeit als Erziehung zum
systematischen und selbständigen Denken und politischen Handeln" - ein
Ergebnis von Wollenbergs profunder Kenntnis und Erfahrung im Bereich der
Volksbildung. Das Vergnügen, dies zu lesen, soll nicht vorweggenommen
werden. Allerdings könnte die in Geburtswehen liegende PDS-nahe Rosa-
Luxemburg-Stiftung für Gesellschaftsanalyse und politische Bildung hier
wichtige Anregungen erhalten.
Das "politische Mandat" der Gewerkschaften wird von Peter Strutynski
kritisch in der schwierigen Beziehung von Gewerkschaften und Friedensbewegung
gesehen. Bodo Ramelow allerdings zeigt, daß "ungewöhnliche
Maßnahmen unsere Stärke" und "Gewerkschaftsarbeit gegen
Resignation und Rechtsradikalismus durchaus möglich" sind.
Manch ein Wessi-Gewerkschafter, der leichtfertig über Ossi-Kollegen urteilt,
wird sich wundern, wenn er über mutige Aktionen im Osten erfährt, mit
denen die Gewerkschaften auch ein politisches Mandat wahrnehmen.
Den Abschluß bildet der Korrespondent der Humanité, Pierre Levy, mit
der Forderung mehr Demokratie zu wagen und "schrittweise
länderübergreifende Kooperationen aufzubauen, um in einem politischen
Gedankenaustausch voneinander zu lernen".
Wer immer sich nicht aufgrund "persönlicher Befindlichkeiten",
sondern qualifiziert an der Diskussion über Gewerkschaftspolitik beteiligen will,
wird an diesem kontrovers angelegten ca. 200 Seiten starken Buch nicht
vorbeikommen. Wenn - was zu hoffen ist - bald eine zweite Auflage erfolgt, wäre
es hilfreich, Kurzbiografien über die Verfasser der Beiträge zu bringen,
die auch ihr Wirkungsfeld offenlegen.
Jakob Moneta
*Kapitalismus ohne Gewerkschaften?, Hamburg (VSA) 1998, 32 DM.