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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 18.02.1999, Seite

Kapitalismus ohne Gewerkschaften?

Buchbesprechung

Eine Jahrhundertbilanz" vorlegen wollen - kurz vor dem kommenden Jahrtausend - Gisbert Schlemmer, Horst Schmitthenner und Eckart Spoo als Herausgeber eines im VSA-Verlag erschienen Buches*. Dort wird versucht, die Frage zu beantworten, ob wir einem "Kapitalismus ohne Gewerkschaften" entgegengehen. Neben hochrangigen Gewerkschaftsfunktionären kommen Wissenschaftler, Publizisten unnd die Basis zu Wort.
  In dem Kapitel "Bilanz und Ausblick" fragt Arno Klönne, ob die Gewerkschaften sich "auf einem geordneten Rückzug befinden"; Gisbert Schlemmer meint, daß "die Zeit für Reformen knapp wird"; Horst Schmitthenner fordert eine "Neuverteilung der Lebensschancen" im Übergang zum 21.Jahrhundert; Klaus Peter Kisker sieht uns "am Ende der kurzen Prosperität".
  Die Frage nach der "Einheitsgewerkschaft" wird gestellt und die Entwicklung der sozialen Milieus und Klassen vom Proletariat zur "Neuen Mitte" behandelt; für einen "starken DGB" wird geworben, und das Problem der "innergewerkschaftlichen Demokratie" ist nicht unterschlagen worden. Im Kapitel "Gegenwehr und Umgestaltung", fragt Michael Wendt, ob das "Ende des Verzichts" erreicht ist, und sieht in der Rückkehr zum Keynesianismus einen Weg nach vorn.
  Joachim Bischoff und Richard Detje von der Zeitschrift Sozialismus liefern gut aufbereitetes statistisches Material, das auch Vergleiche mit anderen Ländern ermöglicht. Sie zeigen auf, wie in der laufenden Abwärtsbewegung die Weichen so gestellt werden können, daß Organisation und Programmatik "aus der Logik bloßer Abwehrschlachten" herauskommen. Die historische Kapitalismuskritik in der Arbeiterbewegung in Form von Räten, Sozialisierung und Wirtschaftsdemokratie wird ebenso behandelt wie der Versuch, eine gesellschaftliche Alternative über den Keynesianismus hinaus zu entwickeln.
  Die "Basis" kommt mit den Fragen zu Wort, ob Gewerkschaftsarbeit im Betrieb ein "Auslaufmodell" ist und Gewerkschaften eine "Artenschutzkommission" brauchen. Gefordert wird auch "offensiv gegen Standortdebatte und neoliberale Wirtschaftspolitik zu agieren", und Loni Mahlein, ehemaliger Chef der IG Druck und Papier, wird mit dem Ausspruch zitiert: "Ohne progressive Theorie keine progressive Praxis".
  Im Kapitel "Auftrag der Aufklärung" taucht leider zum einzigen Male mit Stephanie Odenwald eine Frau auf, die kenntnisreich aufzeigt, wie die fantastisch angestiegene Anzahl von Studenten eine "Illusion der Chancengleichheit" geschaffen hat. Sie behandelt insbesondere die Probleme der beruflichen Bildung und sieht eine zukunftsgerichtete gewerkschaftliche Politik darin, "Notlagen und Lebensperspektiven Jugendlicher mehr Aufmerksamkeit zu widmen".
  Unter dem banalen Titel "Aus der Geschichte lernen - Gewerkschaften und Bildung" versteht Jörg Wollenberg es, uns phantasievoll in den Vorband des 1.Mai vom Jahr 2006 zu versetzen, an dem der hundertjährige Geburtstag von Wolfgang Abendroth gefeiert wird. "Frank Deppe griff zur Trompete, Arno Klönne zur Balalaika und Georg Benz spielte Klavier", berichtet Wollenberg. Nachdenklich seien alle geworden, als Lisa Abendroth und Detlef Hensche Texte aus der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss vorlasen.
  Der 1938 aus Wien vertriebene und in Tel Aviv lebende Historiker Walter Grab erinnerte an die verdrängten revolutionären Traditionen in der deutschen Geschichte und an die Jakobiner, die er der Öffentlichkeit wieder zugänglich machte, insbesondere an Georg Friedrich Rebmann, der schon 1798 schrieb: "Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk erhalten!"
  Nachdem Jörg Wollenberg dann aufzeigt, daß auch die Koalition unter Kanzler Schröder gegen die Macht der Konzerne und die sich verschärfende Massenarbeitslosigkeit wenig ausrichten konnte und die rechtsaußen angesiedelte Partei Zulauf erhielt, sieht er voraus, wie der soziale Protest nach "Jahren der Anpassung und Zurückhaltung in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit endlich wieder seinen Ausdruck findet". Und dann folgt ein Feuerwerk über "Bildungsarbeit als Erziehung zum systematischen und selbständigen Denken und politischen Handeln" - ein Ergebnis von Wollenbergs profunder Kenntnis und Erfahrung im Bereich der Volksbildung. Das Vergnügen, dies zu lesen, soll nicht vorweggenommen werden. Allerdings könnte die in Geburtswehen liegende PDS-nahe Rosa- Luxemburg-Stiftung für Gesellschaftsanalyse und politische Bildung hier wichtige Anregungen erhalten.
  Das "politische Mandat" der Gewerkschaften wird von Peter Strutynski kritisch in der schwierigen Beziehung von Gewerkschaften und Friedensbewegung gesehen. Bodo Ramelow allerdings zeigt, daß "ungewöhnliche Maßnahmen unsere Stärke" und "Gewerkschaftsarbeit gegen Resignation und Rechtsradikalismus durchaus möglich" sind.
  Manch ein Wessi-Gewerkschafter, der leichtfertig über Ossi-Kollegen urteilt, wird sich wundern, wenn er über mutige Aktionen im Osten erfährt, mit denen die Gewerkschaften auch ein politisches Mandat wahrnehmen.
  Den Abschluß bildet der Korrespondent der Humanité, Pierre Levy, mit der Forderung mehr Demokratie zu wagen und "schrittweise länderübergreifende Kooperationen aufzubauen, um in einem politischen Gedankenaustausch voneinander zu lernen".
  Wer immer sich nicht aufgrund "persönlicher Befindlichkeiten", sondern qualifiziert an der Diskussion über Gewerkschaftspolitik beteiligen will, wird an diesem kontrovers angelegten ca. 200 Seiten starken Buch nicht vorbeikommen. Wenn - was zu hoffen ist - bald eine zweite Auflage erfolgt, wäre es hilfreich, Kurzbiografien über die Verfasser der Beiträge zu bringen, die auch ihr Wirkungsfeld offenlegen.
  Jakob Moneta
 
  *Kapitalismus ohne Gewerkschaften?, Hamburg (VSA) 1998, 32 DM.
 


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