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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.05 vom 04.03.1999, Seite

Europäische Beschäftigungspolitik

Wettbewerb um "Senkung der Lohnkosten"

Ein europäischer Beschäftigungspakt ist das zweitwichtigste Ziel, das die Bundesregierung in der Zeit ihrer EU-Präsidentschaft erreichen will. Die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit befaßten sich auf ihrer Konferenz Ende Januar mit dem Stand der Planungen in der EU. Den nachstehenden Vortrag hielt MARIE-PAULE CONNAN aus Brüssel, Mitarbeiterin von Georges Debunne, Mitbegründer und Vorstandmitglied des Europäischen Gewerkschaftsbunds.

Im Herbst 1997 hat der EU-Beschäftigungsgipfel in Luxemburg Leitlinien zur Beschäftigungspolitik beschlossen - nach dem Gipfel in Amsterdam, aber noch bevor dessen Verträge von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert worden wären. Die Leitlinien wurden so verkündet, daß die Hoffnung geweckt werden sollte, die Europäische Union - die bis dahin einzig auf den Gemeinsamen Markt und die Einheitswährung orientiert war - werde sich künftig offiziell um Beschäftigung kümmern.
  Aber das Vertragswerk von Amsterdam schreibt vor, daß die Luxemburger Leitlinien zur Beschäftigung ebenso wie die aus dem Amsterdamer Beschäftigungskapitel folgenden Empfehlungen und Direktiven unbedingt mit dem Stabilitätspakt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) und mit den Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien vereinbar sein müssen. Diese sind so konzipiert, daß sie dem Markt, dem Wettbewerb und dem Profit dienen und sind für die Mitgliedstaaten zwingend.
  Will man also wissen, welche beschäftigungswirksamen Gesetze vorbereitet werden, muß man die Texte studieren, die die Generaldirektion für Wirtschafts- und Finanzfragen ausarbeitet, nicht die der Generaldirektion für Beschäftigung und Soziales. Die Texte der ersteren ("Wachstum und Beschäftigung im Rahmen der Stabilität der EWU", EU-Kommission 1998; und "Empfehlungen der Kommission für die Großen Leitlinien der Wirtschaftspolitik", EU-Kommission 1998) fordern, die Systeme der sozialen Sicherheit müßten produktiv werden, die Bandbreite der Löhne nach unten erweitert werden. Damit begibt sich die EU in einen gefährlichen Wettlauf um die Senkung der Löhne und der Sozialleistungen: "Um das gewünschte Ergebnis einer Ausdehnung der Lohnskala nach unten zu erzielen, müssen die Lohnkosten für gering qualifizierte Beschäftigung um 20 bis 30 Prozent gesenkt werden, wie dies z.B. in den USA in den 70er und 80er Jahren der Fall war. Um Wirkung zu zeigen, müßte eine solche Maßnahme außerdem in Europa von einer entsprechenden Senkung der Arbeitslosenunterstützung und der sozialen Leistungen begleitet sein, damit die ,Armutsfalle‘ vermieden wird."
  Der Rhythmus, in dem das Europäische Parlament (EP) seine Beratungen abhält, ist äußerst gedrängt und läßt den Mitgliedstaaten keine Zeit für eine demokratische Debatte über die auf europäischer Ebene ausgehandelten Gesetz und Verträge. Der Vertrag von Amsterdam wurde im Juni 1997 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet; der Gipfel in Luxemburg im November 1997 beschloß die Beschäftigungspolitischen Leitlinien; auf dem Gipfeltreffen in Cardiff im Juni 1998 wurde die Empfehlung für die Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien verabschiedet; der Gipfel in Wien im Dezember 1998 beschloß Leitlinien zur Beschäftigung. Die Mitgliedstaaten drohen damit, sich gegenseitig anzuschwärzen, wenn sie nicht Gesetze erlassen, die bei den Sozialleistungen (Gesundheit, Rente, Arbeitslosenunterstützung) sparen. Die EU-Regierungen reagieren mit immer rigoroseren sozialen Kontrollmaßnahmen gegen die Opfer der Erwerbslosigkeit und gegen die "mitessenden" Frauen.
  Der soziale Rückschritt ist möglich, weil der Gemeinsame Markt und die Einheitswährung es so verlangen - darin liegt ein großes demokratisches und soziales Defizit. Jede Maßnahme kann mit qualifizierter Mehrheit durchgesetzt werden. Ein einzelner Staat kann diesen Prozeß nicht aufhalten. Nur durch eine Ausweitung der qualifizierten Mehrheit und der Mitbestimmung des Europaparlaments in Fragen der Beschäftigung und der sozialen Sicherheit könnten die Risiken der sozialen Regression gemindert und Möglichkeiten für soziale Fortschritte offengehalten werden. Nach dem Europa des Marktes und des Geldes muß jetzt dringend das demokratische und soziale Europa erbaut werden.
  Jetzt ist den Erwerbslosen ein neuer Beschäftigungspakt angekündigt worden. Die Staats- und Regierungschefs haben einen solchen "Vertrauenspakt für Beschäftigung" bereits auf dem Gipfeltreffen in Essen 1995 angekündigt; auf dem Brüsseler Gipfel 1994 hatten sie ein Weißbuch "Wachstum, Wettbewerb, Beschäftigung" vorgestellt. Das Ergebnis der bisherigen Bemühungen ist ein Anstieg der Erwerbslosigkeit und eine wachsende Zahl von Menschen, die in ungeschützter Beschäftigung, Armut, Elend und Verzweiflung leben. Was kann aus einem solchen Beschäftigungspakt werden, wenn er in den Beton der Beschäftigungspolitischen Leitlinien von Luxemburg gegossen wird, die den Dogmen der neoliberalen Politik folgen und den Erwerbslosen die Schuld daran geben, daß sie keine Arbeit haben? Diese Leitlinien empfehlen, die Arbeitslosenversicherung in eine "Versicherung für Beschäftigungsfähigkeit" umzuwandeln und von einer passiven zu einer aktiven Beschäftigungspolitik überzugehen (d.h. nach dem Modell des US-amerikanischen "workfare" die Erwerbslosen zur Zwangsarbeit zu verdonnern). Die Erwerbslosen werden als "nicht zu beschäftigen", "nicht anpassungsfähig" und "ohne Unternehmungsgeist" abgestempelt. Die EU fordert von den Mitgliedstaaten, daß sie Maßnahmen ergreifen, damit Erwerbslose "beschäftigbar" und anpassungsfähig werden und ihren eigenen Arbeitsplatz schaffen - ohne je die Unternehmenspraktiken von Entlassungen und Neueinstellungen in Frage zu stellen.
  Im März stellt die EU für 1999 neue Große Wirtschaftspolitische Leitlinien vor. Sie sollen im kommenden Juni in Köln verabschiedet werden.
  Die Europäische Kommission will die Wirtschaftspolitischen Leitlinien zur Richtschnur für ein "Kommuniqué über Beschäftigung" nehmen, das dem Kölner Gipfel im Juni 1999 vorgelegt werden soll. Erneut wird geprüft, welche beschäftigungspolitischen Maßnahmen die Mitgliedstaaten für 1999 ergriffen haben (und wie sie sich mit den Wirtschaftspolitischen Leitlinien vereinbaren lassen). Es steht zu befürchten, daß die Regierungen wieder alles daran setzen, als Musterschüler dazustehen und statistisch niedrigere Zahlen und Kosten der Erwerbslosigkeit zu präsentieren - bis hin zum Ausschluß derer aus den sozialen Sicherungssystemen, die ihren "guten Willen" bei der Suche nach Arbeit, Annahme von Arbeit oder Schaffung sog. selbständiger Arbeit nicht unter Beweis gestellt haben. Dieser Trend zeichnet sich in den Gesetzestexten, die die verschiedenen Regierungen vorbereiten, schon ab.
  Die Vertreter der Erwerbslosenorganisationen aus den Ländern der Europäischen Union auf der Kölner Konferenz haben festgestellt und fordern:
  1. Es muß gemeinsam gehandelt werden, um eine soziale Bewegung aufzubauen, die den Kampf der Erwerbstätigen und der Erwerbslosen gegen ungeschützte Beschäftigung, erzwungene Teilzeitarbeit und Arbeitsverträge zu nicht existenzsichernden Löhnen zusammenschweißt.
  2. Wenn wir gemeinsam kämpfen, können wir eine andere Gesellschaft durchsetzen, die sich auf die Solidarität zwischen den Beschäftigten und den Erwerbslosen in Europa, dem Norden und dem Süden, Europa und den sog. Entwicklungsländern stützt.
  3. Den europäischen Streik der Eisenbahner haben wir begrüßt als Beispiel eines Kampfs für mehr Einfluß der Beschäftigten und BürgerInnen auf die Gestaltung Europas.
  4. Die skandalöse Schere zwischen Löhnen und oberen Einkommen muß angegriffen werden. Die Bereicherung der einen führt zur Verarmung der anderen.
  5. Der öffentliche Dienst muß verteidigt und ausgebaut werden.
  6. Die sozialen Rechte sind nicht teilbar: das Recht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen; das Recht auf ein garantiertes individuelles, existenzsicherndes Einkommen; das Recht auf ein Privatleben; das Recht auf Wohnung. Das Recht auf ein garantiertes, existenzsicherndes Einkommen muß ein individuelles sein, weil die Kontrollen über das Familienleben allzu oft mit Angriffen auf das Privatleben einhergehen.
  7. Sozialdumping ist eine mögliche Konsequenz der Währungsunion. Es muß verboten werden, weil es zu einem gefährlichen Wettlauf um Lohnsenkung führt.
  8. Die Staats- und Regierungschefs müssen sich im Juni in Köln verpflichten, bei der Kommission die Vorbereitung von zwei Leitlinien in Auftrag zu geben, die vom neuen EP und von den Parlamenten der Mitgliedstaaten diskutiert werden müssen:
  - eine europäische Rahmenrichtlinie über die Verkürzung der Arbeitszeit ohne Flexibilisierung und ohne Lohnkürzung;
  - eine europäische Rahmenrichtlinie über ein individuelles, garantiertes Mindesteinkommen, mit einer Anpassung nach oben - nicht nach unten und auch nicht an einen Durchschnitt. Jedes Land muß ein eigenes Minimum fixieren, unter das niemand rutschen darf, wenn er/sie keine Beschäftigung und kein eigenes Einkommen hat.
  Köln, 24.1.1999
 


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