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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.05 vom 04.03.1999, Seite 13

"Ich könnte jederzeit umgebracht werden"

Öcalan-Anwalt legt Mandat nieder

Der Saal ist gut gefüllt, Radio-, Fernsehstationen und Zeitungen, sie alle haben ihre JournalistInnen geschickt. Mit ihnen füllen auch Polizei und Geheimdienste, die in und um das Gebäude, mit und ohne Uniform vertreten sind, den Saal. Vor dem Eingang haben sich Schlägertrupps der faschistischen MHP versammelt, die in der BRD unter dem Namen "Graue Wölfe" agieren. Vor laufenden Kameras und vor den Augen der Polizei attackieren sie die nahenden Anwälte Öcalans, die hier eine Pressekonferenz abhalten möchten.
  Zwei von ihnen war es am Vortag trotz erheblicher Gefährdung gelungen, dem PKK-Vorsitzenden auf der Gefängnisinsel Imranli einen Kurzbesuch abzustatten. Der Insel haftet die zweifelhafte Tradition an, daß der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident der Türkei, Adnan Menderes, 1961 dort von einem Staatssicherheitsgericht wegen Amtsmißbrauchs verurteilt und exekutiert wurde.
  Einer der beiden Anwälte, die kurz mit ihrem Mandanten sprechen konnten, ist Ahmed Zeki Okcuoglu, der seit langem schon als PKK-Kritiker bekannt ist. Ahmed Zeki Okcuoglu kennt den PKK-Vorsitzenden noch aus früheren Zeiten. Die beiden haben während ihrer Studienzeit zusammen in einer Wohngemeinschaft gelebt. Danach trennten sich ihre Wege, bis die Ereignisse sie am vergangenen Donnerstag in jenem Raum auf der Gefängnisinsel wieder zusammenführten. Doch nicht die alten Bande sind es, die Okcuoglu bewogen haben, Öcalans Verteidigung zu übernehmen. Er habe das Videoband im Fernsehen gesehen, das den PKK-Vorsitzenden im Flugzeug von Nairobi nach Istanbul und später mit verbundenen Augen vor der türkischen Flagge zeigt. Diese Bilder, die alle Kurden zutiefst beleidigen, hätten für Okcuoglu den Ausschlag gegeben, zusammen mit seiner Frau Eren Keskin, ebenfalls Anwältin und Vizevorsitzende des Menschenrechtsvereines IHD, die Verteidigung Öcalans zu übernehmen.
  Ähnlich ging es weiteren 15 AnwältInnen, die sich trotz massiven öffentlichen Drucks zu diesem Schritt bereit fanden. Osman Baydemir, ebenfalls Vizevorsitzender des IHD; M. Selim Okcuoglu und Aysel Tugluk von der Rechtsforschungsstiftung TOHAV; sowie die Anwälte Hatice Korkut, Irfan Dündar, Imam Sahin, Medeni Ayhan, Ahmed Avsar, Mükrime Tepe, Gül Altay, Derya Bayir, Dogan Erbas, Filiz Kostak, Cihan Erbas und Immihan Yasar.
  Einen Tag vor der Pressekonferenz war es Ahmed Zeki Okcuoglu nach mehreren Anläufen endlich möglich, gemeinsam mit Hatice Korkut die Erlaubnis zu bekommen, ihren Mandanten nach zehn Tagen Haft endlich aufzusuchen. Bereits zwei Tage zuvor hatte er es erfolglos mit Osman Baydemir, Eren Keskin und zwei weiteren Kollegen versucht. Mit Verweis auf das schlechte Wetter wurden sie von örtlichen Beamten und Sicherheitskräften zurückgewiesen und mußten - von einer aufgebrachten Ansammlung von MHP-Leuten bedroht - unverrichteter Dinge wieder abziehen.
  Am Donnerstag gelang es Okcuoglu und Korkut zwar, den PKK-Vorsitzenden für zwanzig Minuten zu sehen, ein Gespräch über die Verteidigung war ihnen jedoch nicht möglich. In Begleitung eines Haftrichters und zweier maskierter Soldaten, die jedes Wort protokollierten, durften sie Öcalan lediglich zu seinem Gesundheitszustand befragen. Öcalan berichtete, daß er rund um die Uhr verhört werde. Okcuoglu berichtete nach der Rückkehr, Öcalan habe gesundheitlich einen akzeptablen Eindruck gemacht und lediglich über Augen- und Ohrenschmerzen geklagt. Er sei als Anwalt jedoch besorgt über mögliche psychische Auswirkungen der Isolation und der Dauerverhöre.
  Auf dem Rückweg von der Insel wurden die Anwälte in der Hafenstadt Mudanye erneut vom faschistischen Mob angegriffen und mit Steinen beworfen.
  "Die Verteidigung ist niedergelegt", verkündete Ahmed Zeki Okcuoglu folglich auf der Pressekonferenz des Folgetags. "Der türkische Staat garantiert meine Sicherheit nicht. Ich könnte jederzeit umgebracht werden - nicht nur mir selbst, sondern auch meinen Angehörigen ist massiv gedroht worden. Wir werden die Verteidigung nur fortsetzen, wenn die USA unsere Sicherheit garantiert." Es bestehe die Gefahr einer Lynchjustiz. Der Anwalt führte weiter aus, auch Kollegen und deren Familien hätten anonyme Anrufe und Todesdrohungen erhalten. Berichten zufolge seien auch Unbeteiligte mit demselben Familiennamen belästigt worden.
  Sein Kollege Osman Baydemir war kurz zuvor auf dem Weg zur Pressekonferenz von der Polizei festgenommen worden. Öcalan habe im Verhör behauptet, daß Baydemir ein PKK-Mann sei, berichteten türkische Medien.
  Wie Baydemir war es in der vergangenen Woche bereits sieben Anwälten von TOHAV ergangen, die in Diyarbakir festgenommen wurden.
  In zahlreichen Stadtteilen fast aller Städte der Türkei haben nach der völkerrechtswidrigen Verschleppung des PKK-Vorsitzenden Proteste stattgefunden. Parallel zu den flächendeckenden Protesten erschüttert eine Verhaftungswelle gegen die zivile Opposition das ganze Land. In den mehrheitlich kurdischen Städten Diyarbakir, Adana, Malatya, Iskenderum, Mardin, Batman, Aydin, Kayseri, Izmir, Van, Mersin, Urfa, Gaziantep, Elazig und Istanbul prägen Straßenschlachten das tägliche Bild. In Diyarbakir wurde auf DemonstrationsteilnehmerInnen geschossen. Auch in Istanbul erteilte der Polizeichef den Befehl, Demonstrierenden in die Beine zuschießen. Die Protestierenden errichteten Barrikaden und steckten Autoreifen in Brand. Insbesondere in den Außenbezirken der größeren Städte herrschte nach Einbruch der Dunkelheit Ausnahmezustand. Molotowcocktails flogen durch die Luft, mit Gasflaschen beladene Lkw, zahlreiche Pkw, mehrere Geschäfte und eine Tankstelle gingen in Flammen auf.
  Militär und Polizei haben die öffentlichen Verkehrsverbindungen zu diesen Stadtteilen unterbrochen. Spezialeinheiten der Polizei griffen wahllos Jugendliche auf und nahmen sie fest. Bis heute finden laufend Hausdurchsuchungen statt. Es wurde beobachtet, daß Sicherheitskräfte Kurden aus ihren Autos zerrten und verprügelten.
  In Istanbul wurde der Mesopotamische Kulturverein von der Polizei durchsucht und geschlossen. Das gesamte Archiv, Bücher, Zeitschriften und dem Verein gehörende Akten, wurde beschlagnahmt. Der Kulturverein Med-Kom wurde ebenso von Polizeieinheiten überfallen wie die Radiostationen Özgür Radyo, Umut Radyo und Yön-FM. Auch Büros des IHD wurden angegriffen.
  In der kurdischen Metropole Diyarbakir sind die KleinhändlerInnen in den Ausstand getreten. Ihre Läden blieben geschlossen. Die Polizei nahm 200 LadenbesitzerInnen fest und öffnete bis zu 1000 Läden gewaltsam. Im Viertel Huzurevieri wurde auf die Polizei, die die Jalousien von Läden gewaltsam öffnen wollte, geschossen. Auch die Schüler- und Studentenproteste dauern an. Viele Eltern weigern sich, ihre Kinder zur Schule zu schicken.
  Auch in Batman hat der überwiegende Teil der HändlerInnen ihre Geschäfte geschlossen. Der zuständige Gouverneur versuchte, in Zusammenarbeit mit der Militärführung von Batman die Ladenbesitzer dazu zu zwingen, ihre Geschäfte wieder zu öffnen. Einige Läden wurden gewaltsam geöffnet.
  In Mersin wurde der Stadtteil Cay Mah am 22.2. abgeriegelt. Spezialeinheiten haben die Häuser durchsucht und 40 Menschen festgenommen. Die Satellitenantennen wurden zerstört. Während der Nacht verhängten die Behörden in diesem Stadtteil den Ausnahmezustand. Spezialeinheiten wurden in Schulen und Ambulanzen stationiert.
  Auch in den Gefängnissen verstärkt sich der Widerstand. Zahlreiche politische Gefangene traten in den Hungerstreik. Auch die früheren DEP-Abgeordneten Hatip Dicle, Leyla Zana, Selim Sadak und Orhan Dogan, die in Ankara inhaftiert sind, haben sich dem Hungerstreik angeschlossen. 12 Gefangene in unterschiedlichen Gefängnissen zündeten sich aus Protest an. Ein Gefangener starb.
  Zeitgleich begann eine landesweite Verhaftungswelle gegen die prokurdische Partei Hadep. Alle Hadep-Büros und die Parteizentrale in Istanbul wurden von der Polizei gestürmt. Insgesamt wurden alleine in Istanbul 500 Mitglieder festgenommen. Die Bibliothek der Parteizentrale wurde zerstört. Das Gebäude ist immer noch besetzt. Auch in anderen Städten - so in Mardin, Kiziltepe, Elazig, Urfa, Hakkari, Kayapinar, Nizip, Bingöl, Malatya, Mersin, Iskenderum und Antep - wurden Hadep-Büros überfallen und Mitglieder verhaftet, darunter auch KandidatInnen für die kommende Parlamentswahl am 18.April. In Mersin hat die Polizei aus dem Büro heraus türkische Flaggen aufgehängt. Frauen, die sich zu dieser Zeit im Gebäude aufhielten, wurden von Polizisten sexuell belästigt.
  Während der Demonstrationen wurden nach Angaben des Menschenrechtsvereines bis zum 24.Februar landesweit 3369 Menschen inhaftiert. 61 erlitten teilweise schwere Verletzungen, 3 Menschen verloren ihr Leben.
  Neben den Massenverhaftungen an zivilen Oppositionellen zieht die türkische Regierung weitere Register der Aufstandsbekämpfung. Im Siegesrausch versucht sie die Verwirrung der kurdischen Organisationen zu nutzen, die gesamte demokratische Opposition auf einen Schlag zu erledigen.
  Gegen die Partei Hadep wurde ein sofortiges Betätigungsverbot ausgesprochen. Als Begründung mußten angebliche Aussagen Öcalans herhalten, daß Hadep vollständig von der PKK kontrolliert werde. Seit dem Wochenende verbreiten türkische Medien die Nachricht, Öcalan habe im Verhör erklärt, auch die Menschenrechtsvereine IHD und der islamische Mazlum-Der befänden sich vollständig unter Kontrolle der PKK. Es ist daher damit zu rechnen, daß die Menschenrechtsvereine das nächste Ziel auf der Liste darstellen werden.
  Auf der psychologischen Ebene zielt Ankara darauf ab, die gesamte kurdische Bevölkerung durch gezielte Demütigungen zu desillusionieren. Seit der Verschleppung Öcalans strahlen die türkischen Fernsehsender pausenlos ein kurzes Video auf allen Kanälen aus, das den PKK-Vorsitzenden in entwürdigender Weise bei seiner Überführung in die Türkei zeigt.
  Zeitgleich verbreiten die Medien angebliche Aussagen aus den Verhören des PKK-Chefs. So wird behauptet, Öcalan appelliere an die Guerillakämpfer, sich zu ergeben. Flugblätter mit dem angeblichen Öcalan-Appell werden von Flugzeugen zu Hunderttausenden über den Bergen Kurdistans abgeworfen, um die Kämpfer zur Kapitulation zu bewegen.
  Gleichzeitig ruft auch Ministerpräsident Bülent Ecevit GuerillakämpferInnen auf, ihre Waffen niederzulegen und sich zu stellen. Er kündigte ein sog. Reuegesetz an, das den Kollaborateuren teilweise Straffreiheit und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zusichern werde. Er rufe die "jungen Menschen in den Bergen und den Höhlen auf, ihre Familien und ein humanes Leben zurückzugewinnen", verkündete Ecevit. "Reicht uns die Hände und helft mit bei der Entwicklung unseres Volkes."
  Flankiert wird das Versprechen nach persönlicher Straffreiheit mit der Ankündigung umfangreicher wirtschaftlicher Investitionen im Kriegsgebiet, die dort infrastrukturelle Defizite, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und die gesundheitliche Unterversorgung bekämpfen sollen.
  Unterdessen sind türkische Streitkräfte zu einer erneuten Großoffensive in das nordirakische Südkurdistan einmarschiert. Dabei sollen 10.000 Soldaten im Einsatz sein.
  Auch in Nordkurdistan weiten sich die Kämpfe aus. Sie richten sich derzeit hauptsächlich gegen die protestierende Zivilbevölkerung. Die militärische Aufstandsbekämpfung findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Die kurdischen Gebiete der Türkei dürfen von ausländischen Journalisten nicht mehr betreten werden. Sie werden in Diyarbakir zur Umkehr gezwungen.
  Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Repression feierte die Mehrheit der türkischen Öffentlichkeit den Sieg über den sogenannten "Babymörder". In Erzurum und Kirikkale zogen organisierte Menschenansammlungen mit Musikinstrumenten durch die Straßen. Auf Friedhöfen fanden Gedenkveranstaltungen für gefallene Soldaten statt. Öcalans Festnahme sei der Triumph der großen Türkei, lautete der Titel des Massenblatts Hürriyet.
  Knut Rauchfuss
 


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