Sozialistische Zeitung |
Mitte Februar gab es ein Gipfeltreffen der besonderen Art: Bundeskanzler Gerhard Schröder traf sich
mit dem Vorstandsvorsitzenden von Daimler-Chrysler, Jürgen Schrempp. Schröder, der sich bereits vor seiner Wahl wiederholt als
"Automann" bezeichnet hatte, erklärte nach dem Treffen, er sei "Der Kanzler aller Autos". Im übrigen werde
er demnächst einen neuen Mercedes als Dienstfahrzeug anschaffen. Bisher fuhr Schröder einen Audi; schließlich ist er seit
langem Aufsichtsrat bei der Audi-Muttergesellschaft VW.
1998 wurden weltweit 51,9 Millionen Kraftfahrzeuge, darunter 37,1 Millionen Pkw, hergestellt. Das ist etwas weniger als im Vorjahr , aber
grundsätzlich immer noch Rekordniveau. Ein interessanter Aspekt dabei ist: Der Pkw-Absatz wächst überproportional dort,
wo auch die Armut und der Gegensatz zwischen reich und arm überproportional wachsen. In Teilen der "Dritten Welt", in
Osteuropa, in den EU-"Randstaaten" Portugal und Griechenland.
In Osteuropa steigt die Pkw-Produktion im Zeitraum 1996 und 1999 um 24,4% - von 1,894 Millionen auf 2,36 Millionen. In Griechenland
erhöhte sich im Zeitraum 1992 bis 1996 die Zahl der Pkw je 1000 Einwohner um 22% (von 184 auf 224); in Portugal im gleichen
Zeitraum gar um 41% (von 196 auf 277). Zum Vergleich: in der Bundesrepublik entwickelte sich die Pkw-Dichte in diesem Zeitabschnitt
"nur" um 5,6% (von 482 auf 509), trotz des sog. "Nachholbedarfs" in der ehemaligen DDR. In Finnland gab es sogar
eine Stagnation und in Schweden einen Rückgang dieser Quote, also eine leichte "De-Motorisierung". Doch das letztere sind
absolute Ausnahmen.
Weltweit steigt die Motorisierung enorm, während gleichzeitig der Schienenverkehr massiv zurückgedrängt wird. Ein
besonders krasses Beispiel: In China sollen in den kommenden fünf Jahren eine Million (sic!) Beschäftigte der Eisenbahn
entlassen werden.
Nun reden alle vom "Vorrang für die Schiene". Allgemein bekannt ist: Der motorisierte Individualverkehr (Pkw-Verkehr) ist
ökologisch unverträglich, volkswirtschaftlich extrem teuer und in der Alltagsmobilität irrational. Der Autoverkehr
zerstört Städte und Regionen; er trägt in der EU bereits zu mehr als der Hälfte aller Schadstoffemmissionen
bei.
Die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Pkw-Fahrers in Los Angeles liegt bei 18 km/h, diejenige eines Pkw-Fahrers in Athen bei 12 km/h. Das
ist die Geschwindigkeit eines sportlichen Fahrradfahrers. Die EU hat jüngst unter Kommisar Neill Kinnock ein Grünbuch
präsentiert, in dem konstatiert wird: Der Kfz-Verkehr ist volkswirtschaftlich gesehen stark defizitär.
Warum gibt es dann dennoch dieses Wachstum des Pkw bei gleichzeitigem Niedergang des öffentlichen Verkehrs im allgemeinen und des
Schienenverkehrs im besonderen?
Die Antwort kann auf zwei Ebenen gegeben werden. Da ist zunächst die Macht des Faktischen. Die Autoindustrie - und die mit ihr
verbundenen Industrien - sind weltweit der Machtfaktor Nummer eins. Beim Umsatz der hundert größten Konzerne der Welt
entfallen 60% auf Konzerne, die die bestehende Autogesellschaft formen: Öl, Ölverarbeitung, Reifen, Autoindustrie, Flugzeugbau
und Konzerne jedes G7-Staates. Die Banken, Versicherungen und die Bauindustrie wären hinzuzurechnen; so ist der Hauptaktionär
von Daimler-Chrysler die Deutsche Bank.
Damit verfügt diese "Industrie der Autolobby" über das entscheidende spezifische Gewicht in der
Weltökonomie.
Die zweite Ebene, die die Welt-Allmacht des Autos beantwortet, lautet: Schmieren, schmieren, schmieren. Diese dreifache Korrumpierung und
Subventionierung sieht wie folgt aus:
Da ist als erstes die persönliche Korruption. Die politischen Entscheidungsträger im allein übriggebliebenen Kapitalismus
verfügen als individuelles Statussymbol über einen Pkw der Luxusklasse mit exquisiter PS-Potenz. Das gilt für die
Politmafiosi in Moskau und Peking ebenso wie für den erwähnten "Kanzler aller Autos" in Bonn. Diese Pkw stehen
ihnen unentgeltlich zur Verfügung. Oft werden sie ihnen von der Autoindustrie förmlich aufgedrängt.
Im jüngsten Skandal um das Olympische Komitee IOC stellte sich heraus: Einzelne Götter dieses Olymps verlangten von den
Bewerberländern ungeniert Pkw der Luxusklasse, wenn sie sich für Melbourne als Austragungsort der Olympischen Spiele
entscheiden sollten. In einem Brief der Daimler-Benz AG hieß es: "...sprechen wir die ergebendste Bitte aus, daß wir,
hochverehrter Herr Ministerpräsident, Ihnen diesen Wagen zur Verfügung stellen dürfen, um seine Fahreigenschaften
eingehend kennenzulernen." Der Brief ist auf den 12. Januar 1934 datiert und richtete sich an den damaligen Ministerpräsidenten
Göring, der sich kurz darauf als Chef der Deutschen Luftwaffe mit Aufträgen für Daimlers Rüstungsindustrie
"bedanken" sollte.
Da ist zum zweiten das Schmieren über Steuern, genauer die Subventionierung der Dienst- und Geschäftswagen durch die jeweilige
Steuerpolitik. Fast alle großen Industrieländer verfügen über steuerliche Begünstigungen für
Dienstwagen.
Unter anderem gibt es in der Regel keine exakte Grenze, wann ein steuerlich geförderter Dienstwagen geschäftlich und wann er
privat genutzt - und dann weiter steuerlich begünstigt - wird. Eine Untersuchung für den Londoner Stadtverkehr ergab: Bei 67%
aller Pkw in London handelt es sich entweder um Geschäfts- und Dienstwagen oder diese werden bei ihren Fahrten zur
Arbeitsstätte und zurück vom Arbeitgeber in einer anderen Weise subventioniert. An anderer Stelle heißt es in einem
Fachblatt: "In einigen Unternehmen stellen die Ausgaben für Geschäftswagen den nach den Lohn- und Gehaltsausgaben
zweitgrößten Posten dar."
Besieht man anstelle des "end of the pipeline" die Autoproduktion selbst, dann ergeben sich die folgenden Relationen: In wichtigen
Industrieländern liegt der Anteil der Geschäftswagen an allen Neuwagenverkäufen zwischen 30 und 50% - in
Westdeutschland lag er z.B. 1988 bei 34%, in den USA bei 25%, in Großbritannien bei 63%. Damit wird eine umfassende
Subventionierung der Pkw-Flotte der Welt über die Steuerpolitik beschrieben. Denn indem die völlig aufgeblähten Kosten
für Geschäftswagen als normale Geschäftskosten gelten, werden sie in vollem Umfang steuermindernd - als Abschreibungen
- in den Gewinn- und Verlustrechnungen eingesetzt.
Und da ist zum dritten das Schmieren der Autoindustrie durch Staatsknete - feiner ausgedrückt: deren direkte Subventionierung durch
dieLandesregierungen mit dem Segen der EU. Heute entsteht nach einer neuen Studie des britischen "Economist" in Europa kein
einziges Werk zum Bau von Kfz, dessen Bau nicht massiv subventioniert worden wäre.
Drei exemplarische Beispiele: Daimler-Chrysler rechnet für ein neues Werk in Ostdeutschland mit 200 Millionen Mark staatlicher
Unterstützung. BMW erwartet von der britischen Regierung eine halbe Milliarde Mark, wenn die Produktion der BMW-Tochter Rover in
Großbritannien erhalten bleibt. Der US-Bundesstaat Alabama unterstützt nach Berechnungen der "New York Times"
jeden Arbeitsplatz im neuen Mercedes-Autowerk in diesem Bundesstaat mit 200.000 US-Dollar. All diese Gelder fließen an Konzerne,
die Jahr für Jahr Rekordgewinne vermelden - so gerade jüngst wieder im Fall Daimler-Chrysler.
Und vor allem: diese Subventionierung steht in krassem Gegensatz zum Schienenverkehr. Hier kommt es insbesondere in Europa Jahr für
Jahr zu einem Abbau von staatlicher Hilfe mit der Perspektive des Verbots jeder Subventionierung. Dies ist die Essenz der Bahnprivatisierung.
Mit ihr ist meist eine Trennung von Fahrweg und Betreibergesellschaften verbunden. Die Europäische Union verlangt in einer Richtlinie
von den Bahngesellschaften eine kostengerechte Bezahlung für das Befahren der Trassen. In der Folge werden sog. unrentable
Bahnstrecken abgebaut, wird massenhaft Personal reduziert und sinken die Standards für Service und Sicherheit. Was wiederum
logischerweise die Leute in die Showrooms der Autokonzerne und von der Schiene und vom öffentlichen Verkehr in den Pkw-Verkehr
bzw. zum Luftverkehr treibt.
Gegen diese Automotorisierung und Bahnzerstörung gibt es Widerstand. So gab es Ende November 1998 einen europaweiten Streik der
Bahngewerkschaften - die Führung der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) beteiligte sich fast als einzige nicht an
dieser Aktion. Die Gegendemonstration zum nächsten EU-Gipfel in Köln im Juni 1999 wird zumindest teilweise von diesem Thema
geprägt sein.
Der Sekretär für internationale Angelegenheiten der griechischen Eisenbahnergewerkschaft, Nikolas Babassis, kündigte
jüngst an, aus Griechenland werde ein Sonderzug mit 400 bis 450 Teilnehmern zum Gipfel nach Köln fahren. Damit soll u.a. gegen
die EU-Richtlinie zur "Reform" der Bahngesellschaften protestiert werden. Babassis: "In Griechenland sollen innerhalb von
fünf Jahren die staatlichen Zuschüssefür der Bahn komplett auslaufen. Damit verbunden ist ein Entlassungsplan für
3000 der noch 11.000 Bahnbeschäftigten."
Winfried Wolf