Sozialistische Zeitung |
Langsam ging die Sonne unter. Auf die stehenden Lokomotiven und Waggons, auf die stillen Werkstätten
und Schuppen, auf die weißen Villen und die Lehmhäuser, auf die Hütten und die armseligen Verschläge legte sich ein
bläulicher, zarter Schatten … So nistete sich … der Streik ein, ein unbegrenzter Streik, der vielen Menschen entlang der ganzen
Eisenbahnstrecke Leid brachte, aber vielen auch Anlaß war, nachzudenken. Als der Rauch nicht mehr über die Savanne strich,
begriffen sie, daß eine Zeit vorüber war, die Zeit, von der ihre Vorfahren ihnen berichteten, die Zeit, in der Afrika ein
Gemüsegarten war. Jetzt herrschte die Lokomotive über ihr Land. Indem sie über 1500 Kilometer ihre Fahrt anhielten,
wurden sie sich ihrer Kraft, aber auch ihrer Abhängigkeit bewußt. In der Tat war die Lokomotive dabei, aus ihnen neue Menschen
zu machen.
Tage und Nächte vergingen. Und plötzlich sah man zur allgemeinen Überraschung, wie Züge fuhren. Die Lokomotiven
wurden von Maschinisten bedient, die aus Europa gekommen waren, Soldaten und Matrosen verwandelten sich in Stationsvorsteher und
Zugpersonal. Die Vorplätze der Bahnhöfe wurden zu befestigten und von Stacheldraht umgebenen Plätzen, hinter denen die
Posten Tag und Nacht Wache standen. Da nistete sich Furcht ein. Bei den Streikenden war es eine unausgesprochene Furcht, ein
ängstliches Erstaunen gegenüber jener Macht, die sie in Bewegung gebracht hatten und von der sie noch nicht wußten, ob sie
sie mit Hoffnung oder mit Resignation füttern sollten. Die Weißen dagegen hatten Angst vor der großen Zahl. Wie sollten sie,
die kleine Minderheit, sich in der Mitte dieser dunklen Masse sicher fühlen?"
Dies sind Ausschnitte aus dem Roman Les bouts de bois de Dieu von Ousmane Sembène, dem bekanntesten Schriftsteller aus dem
Senegal. Die deutsche Fassung dieses Romans ist im Frankfurter Lembeck-Verlag unter dem Titel Gottes Holzstücke erschienen. Darin
hat Ousmane Sembène den Eisenbahnern der "Dakar-Niger-Bahn" ein literarisches Denkmal gesetzt, die Ende der 40er
Jahre den bis dahin längsten Arbeitskampf auf dem afrikanischen Kontinent führten. Mehr als fünf Monate lang, vom
10.Oktober 1947 bis zum 19.März 1948, legten sie den Zugverkehr zwischen der senegalesischen Hauptstadt Dakar an der
Atlantikküste und der malischen Metropole Bamako lahm. In seinem Roman beschreibt Sembène die elenden Lebensbedingungen
der Eisenbahnarbeiter und ihrer Familien, an denen sich bis heute wenig verändert hat.
Heute verkehrt auf der geschichtsträchtigen Strecke der "Bamako-Dakar-Express", dessen verrottete Waggons die
wirtschaftliche Misere widerspiegeln, die draußen, vor den Zugfenstern, vorbeizieht: Da liegen verarmte Städtchen mit
schmucklosen, unverputzten Häusern und unbefestigten Straßen, auf denen Marktfrauen verzweifelt versuchen, ein paar Pfennige
zum Überleben zu verdienen. Da gibt es - inmitten braun verbrannter Steppenlandschaft - elende Saheldörfer ohne fließendes
Wasser und Stromanschluß. Und noch heute sind gelegentlich Szenen zu beobachten, wie sie Ousmane Sembène für die
40er Jahre beschrieben hat:
"Nackte, ewig hungrige Kinder mit herausstehenden Schulterblättern und aufgeblähten Bäuchen streunen herum und
streiten mit den Geiern um die Aasreste."
Auch der Koch des "Bamako-Dakar-Express" könnte eine Figur aus dem Eisenbahnroman von Sembène sein. Der alte
Mann mit dem faltigen Gesicht arbeitet in einem "Zugrestaurant", in dem es keine Tische gibt und wo aus den zerschlissenen, grauen
Sitzpolstern rostige Federn hervorquillen. Kein einziges Fenster läßt sich hier mehr schließen, und entsprechend laut pfeift
der Fahrtwind durch den Waggon. In seiner verblichenen Eisenbahneruniform hantiert der Koch am Ende dieses Wagens mit schwarzverkohlten
Töpfen und Pfannen an einem verbeulten, offenen Gasherd herum. Scheinbar ungerührt von der brütenden Hitze und dem
tosenden Lärm um ihn herum, brät er Omeletts, schenkt stark gesüßten Kaffee aus, solange der Vorrat der wenigen
Plastiktassen reicht, und erzählt, daß er dieser Tätigkeit schon mehr als vier Jahrzehnte lang nachgeht:
"Ich habe schon 1956 hier begonnen, also noch vor der Unabhängigkeit. Die Arbeit ist hart, und der Verdienst ist immer
spärlicher geworden. Ich mußte das Rauchen aufgegeben, weil ich mir Zigaretten nicht mehr leisten kann."
Der Koch verdient ein paar Mark am Tag und schläft in einem winzigen Verschlag hinter der Zugküche. Er weiß, daß
seine Eisenbahnerkollegen schon 1947 für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft haben. Und er weiß auch, daß es
einen Roman über diesen Streik gibt, verfaßt von dem Schriftsteller Ousmane Sembène.
Geschichten aus dem realen Leben
Während viele afrikanische Schriftsteller nur die kleine intellektuelle Elite ihrer jeweiligen Länder erreichen, ist der Name
Ousmane Sembène - das zeigt die Begegnung in der Eisenbahn - auch den einfachen Menschen im Senegal ein Begriff. In Dakar, wo der
inzwischen 75jährige mitten im Stadtzentrum in einem Hinterhof in seinem kleinen Büro arbeitet, kennen auch die Marktfrauen und
Straßenhändler den älteren Herrn mit dem grauen Bart und den stets etwas spöttisch dreinschauenden Augen, der meist
eine Schiffermütze trägt und fast immer eine Pfeife raucht. Ousmane Sembène ist ein Anwalt der einfachen Leute und wirkt
auch deshalb so glaubwürdig, weil er selbst aus einfachen Verhältnissen stammt.
Ousmane Sembène wurde am 1.Januar 1923 in Ziguinchor geboren, der Hauptstadt der Casarmance. Über den tief verwurzelten
Freiheitswillen der Bewohner dieser abgelegenen tropischen Provinz im Süden des Senegal sagt Sembène: "In der
Casarmance gibt es keine Kasten und jeder hat - je nach seinem Alter - bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Es ist eine sehr demokratische
Gesellschaftsform, in der auch die Chefs keine Sonderstellung haben. Männer wie Frauen können dort zu Chefs ernannt, aber auch
wieder abgesetzt werden, und es gibt niemanden, der für sie arbeitet. Bei uns kann jeder die Chefs kritisieren oder auch mit
Schimpfworten jeglicher Art belegen. Politiker, die aus der Gegend kommen, haben dies oft zu spüren bekommen. Manchen, mit denen
man unzufrieden war, hat man sogar das Haus abgefackelt und niemand hat darüber eine Träne vergossen."
In diesem Umfeld wuchs Sembène bei seinem Vater, einem Fischer, auf, da sich die Eltern schon kurz nach seiner Geburt hatten
scheiden lassen. Als ältester Sohn der Familie wird er in die französische Schule geschickt. Doch mit 14 Jahren endet seine
Ausbildung abrupt: Er ohrfeigt einen französischen Lehrer, der rassistische Sprüche von sich gibt, und wird deshalb von der Schule
verwiesen. Danach arbeitet er zunächst auf dem Fischerboot seines Vaters, bevor es ihn in die Hauptstadt des Landes zieht, nach Dakar.
Dort, auf den Straßen der Großstadt, ist er erstmals mit offenem Elend konfrontiert: "Bevor ich mit 15 Jahren zum ersten Mal
in den Norden des Senegal kam, hatte ich noch nie einen Bettler gesehen. In der Casarmance bringt man sogar seine eigene Nahrung mit, wenn
man seine Schwestern und Brüder besucht. Almosen und Geschenke sind dort nicht üblich."
1942, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, wird Sembène im Alter von 19 Jahren zur Armee der französischen
Kolonialherren eingezogen und lernt - wie Hunderttausende junger Afrikaner - Europa als Kriegsschauplatz kennen. In Italien und Deutschland
kämpft Sembène gegen die deutschen Faschisten, und zum Kriegsende ist er mit seiner Truppe in Baden-Baden stationiert. Bei
vielen schwarzen Soldaten zerstört die Kriegserfahrung den kolonialen Mythos von der angeblichen Überlegenheit der
Europäer, und Sembène sollte später in seinen Erzählungen immer wieder darauf verweisen:
"Im Krieg haben wir diejenigen, die uns gestern noch kolonisiert hatten, nackt gesehen. Denn wir haben Seite an Seite mit ihnen
gekämpft, Hunger und Durst gemeinsam erlitten und über denselben Schmerz geweint. Danach war klar: es gibt eigentlich keinerlei
Unterschiede zwischen uns. Und trotzdem wurden wir von ihnen ebenso unterdrückt, wie andere von den Nazis. Was uns verbittert hat,
war, daß sie sich eher mit deutschen Soldaten anfreundeten, als mit uns, ihren schwarzen Kameraden. Diese Erfahrungen haben vieles
verändert."
Nach seiner Rückkehr in den Senegal erlebt Sembène dort 1947/48 den großen Streik der Eisenbahner, den er ein Jahrzehnt
später in seinem erfolgreichsten Buch beschreiben wird. Damals jedoch ist er nach eigener Aussage "fast noch ein
Analphabet".
1948 kehrt er als blinder Passagier auf einem Schiff nach Europa zurück, arbeitet zunächst als Mechaniker in einer Autofabrik in
Paris und dann fast ein Jahrzehnt lang als Docker im Hafen von Marseille. Während die meisten seiner afrikanischen
Schriftstellerkollegen eine Universität in Europa besucht haben, ist Sembène Autodidakt und muß sich Lesen und Schreiben
weitgehend selbst beibringen. Seine Schulen sind die Organisationen der französischen Arbeiterbewegung, seine Lehrer die Kader der
Kommunistischen Partei, und sein Studium absolviert er in der Bibliothek der Gewerkschaft CGT.
Dort fällt ihm auf, daß die meisten Bücher über Afrika von Europäern verfaßt sind und seinen Kontinent
aus einer verzerrten Perspektive darstellen. Aus Verärgerung darüber greift er schließlich selbst zur Feder und legt 1956
seinen ersten Roman vor: Le Docker noir. Darin beschreibt er das Leben eines senegalesischen Hafenarbeiters in Marseille, der sich nebenbei
als Schriftsteller versucht - die autobiografischen Bezüge sind offenkundig.
In seinem zweiten Roman von 1957, O pays, mon bon peuple, erzählt Sembène von einem schwarzen Migranten, der voller
Hoffnung in den Senegal zurückkehrt. Die deutsche Übersetzung dieses Buches liegt im Oberbaum-Verlag unter dem Titel Meines
Volkes schöne Heimat vor. Darin versucht der Rückkehrer, Oumar Faye, eine Landwirtschafts-Genossenschaft zu gründen,
um das Preisdiktat der französischen Händler zu umgehen. Dabei stößt er allerdings nicht nur auf Widerstände
der Europäer, die ihre Pfründe gefährdet sehen. Auch die Bauern sind zunächst skeptisch, weil er mit der Tradition
bricht und nicht die Frau heiratet, die seine Familie für ihn ausgesucht hat, sondern eine Weiße. Erst als die europäischen
Händler den aufmüpfigen Oumar Faye ermorden lassen, erkennen die Bauern, daß er auf ihrer Seite stand:
"Oumar Faye war tot und ruhte in der Erde. Aber die verbrecherischen Hände, die ihn niederschlugen, hatten ihr Werk umsonst
vollbracht. Nicht das Grab war nun seine Wohnstätte, sondern das Herz aller Männer und Frauen. Am Abend saß er mit ihnen
am Feuer und am Tag war er bei ihnen auf den Feldern. Weinte ein Kind, so erzählte ihm die Mutter die Geschichte des jungen Mannes,
der mit der Erde zu reden verstand. Und unter dem Baum des großen Palavers ehrte man sein Andenken. Oumar war nicht mehr, aber im
Lied seines Volkes lebte er weiter. Beim Säen ging er als erster voran, in der Regenzeit faßte er sich mit den anderen in Geduld
und bei der Ernte schritt er mit den Jungen über die weiten, fruchtbaren Felder."
Gegner der "Négritude"
Sembène baut auf die eigene Kraft und Identität Afrikas, doch zugleich kritisiert er die afrikanischen Traditionen, die er für
überholt hält, weil sie dem Aufbau einer freien und gerechten Gesellschaft widersprechen. Immer wieder schreibt er gegen die
Polygamie und Zwangsverheiratung an und gegen diejenigen, die die patriarchalische Unterdrückung der Frauen mit Hilfe der islamischen
Religion zu rechtfertigen versuchen. Zudem wehrt sich Sembène gegen die romantische Verklärung der afrikanischen Geschichte.
So benennt er in seiner Erzählung "Der Voltaer" offen, daß schwarze Geschäftemacher auch schon mit den
europäischen Sklavenjägern kollaborierten: "Wer sich mit der Geschichte Afrikas beschäftigt, kommt nicht umhin,
festzustellen, daß die schwarzen Chefs am Verkauf ihrer Brüder teilgenommen und die Eroberung und Kolonialisierung ihrer
eigenen Länder unterstützt haben. Das ist die historische Wahrheit."
Mit seiner kritischen Haltung bezog Sembène frühzeitig eine deutliche Gegenposition zu den Vertretern der sog.
"Négritude", deren prominentester Repräsentant sein senegalesischer Landsmann und Schriftstellerkollege
Léopold Sédar Senghor war. Die Négritude war eine Kulturbewegung, die in den 30er Jahren von schwarzen,
intellektuellen Migranten in Frankreich begründet wurde und die afrikanische Literatur bis in die 60er Jahre wesentlich beeinflußte.
Die Vertreter der Négritude stellten dem europäischen Universalanspruch die mißachteten und weitgehend unbekannten
kulturellen Werte Afrikas entgegen. In ihrem Protest gegen europäische Überheblichkeit präsentierten die Vertreter der
Négritude jedoch oftmals ein romantisch verklärtes Bild von Afrika. Léopold Senghors Gedichte sind Beispiele
dafür, wenn es darin heißt:
"Lauschen wir dem Gepoch unsres dunklen Blutes. Lauschen wir dem dumpfpochenden Pulsschlag Afrikas im Nebel verlorener
Dörfer … Zärtlich leuchten die Dächer der Hütten. Was sagen sie so vertraulich den Sternen? Drinnen erlischt der
Herd in beißenden süßen Düften. Frau, entzünde die Lampe von klarer Butter, auf daß rings die Ahnen
plaudern wie Eltern, wenn die Kinder im Bett sind."
Léopold Senghor vertrat zeitweise sogar die Position, daß es typisch "schwarze Werte" gebe, die es zu bewahren
gelte: "Lemotion est nègre comme la raison hellène - Das Gefühl ist schwarz, so wie die Vernunft
griechisch ist."
Für Ousmane Sembène dagegen gibt es keine spezifisch "schwarzen" und "weißen" Eigenschaften
der Menschen. Für ihn ist Afrika "weder besser noch schlechter, schöner oder häßlicher, grausamer oder zarter
als der Rest der Welt". Und den realpolitischen Beleg für seine These lieferte kein geringerer als Leopold Senghor selbst. Denn als
erster Staatspräsident des Senegal nach der Unabhängigkeit ging Senghor von 1960 und 1980 ebenso häßlich, grausam
und unerbittlich gegen die Oppositionellen seines Landes vor, wie viele andere afrikanische Machthaber. Auch Werke von Ousmane
Sembène ließ er verbieten. Sembènes Haltung gegenüber der Négritude und Senghors Staatsführung
ist im Vorwort seines 1965 veröffentlichten Romans Weiße Genesis nachzulesen: "Die große Schwäche des
Menschen hierzulande, die man unser Afrikanertum, unsere Négritude nennt, die anstatt die Unterwerfung der Natur durch die
Wissenschaft zu begünstigen, Unterdrückung aufrechterhält und Bestechlichkeit, Vetternwirtschaft, Verschwendung
öffentlicher Mittel und alle anderen Gebrechen hervorbringt, mit denen man immer wieder versucht, die niedrigsten Instinkte des
Menschen zu entschuldigen - einer von uns muß es einmal vor seinem Tode herausschreiben -, das ist der große Schandfleck
unserer Epoche!"
Karl Rössel (Rheinisches JournalistInnenbüro)