Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.08 vom 15.04.1999, Seite 3

"Wir müssen uns beeilen!"

Eine Rede gegen den NATO-Krieg

Nachfolgend dokumentieren wir eine Rede, die VICTOR GROSSMAN am Ostermontag in Berlin auf der Kundgebung der Ostermärsche hielt. Grossman ist US-Amerikaner, aus der US-Armee desertiert, hat viele Jahre in Ostberlin gelebt und war Korrespondent für die Zeitung der KP der USA, die "junge Welt" u.a..

Die Tragik im Balkan ist nicht zu ermessen. Im Kosovo nicht, in Mazedonien und Albanien nicht - auch in Serbien nicht. Heutige Nachrichten über große Hubschrauber und Truppen, die aus den USA und Deutschland eingeflogen werden, steigern die Angst. Zunächst muß ich sagen: Für Greueltaten, Vertreibung und Erschießungen mache ich auch Milosevic und manche Serben verantwortlich. Dafür gibt es keine Entschuldigung, gerade nicht, wenn sie von einem Nationalismus herrühren, der gegen alle sozialistischen Prinzipien verstößt, zu denen die Partei von Milosevic und die seiner Frau sich bekennen - oder bekannten.
  Doch Nationalismus, Haß, Greueltaten und Zerstörung rühren nicht nur von Serben her, wohl nicht einmal ursprünglich. Hundert Meter von einem Belgrader Krankenhaus entfachten Raketen und Bomben aus den USA ein Inferno. Die Medien priesen die Präzision an, mit der das Krankenhaus geschont wurde. Ist ein solcher Brand wirklich schonend für junge Mütter und für Babys? Und war die Präzision immer so zuverlässig, auch bei "Daneben-Treffern" im Irak?
  Mein lächelnder, geiler Präsident rechtfertigt die Bomben: "Milosevic würde unsere Verzögerung als Lizenz zum Töten verstehen; es würde viel mehr Massaker geben, Zehntausende Flüchtlinge und Opfer mehr." Das ist heute schwer vorstellbar. Ausgerechnet Ex-Minister Henry Kissinger fragt: Wenn "die Leiden im Kosovo unsere moralische Sensibilität derart verletzen", warum taten wir nichts "in Ostafrika, Sri Lanka, Kurdistan, Kaschmir und Afghanistan - um nur einige Gebiete zu nennen, wo viel mehr gelitten haben?"
  Ein Clinton-Berater erklärte: "Der Unterschied ist, im Herzen von Europa ... ist die NATO-Allianz selbst gefährdet; wenn sie eine Hauptbedrohung innerhalb Europas nicht lösen kann, verliert sie ihre Existenzgrundlage."
  Blicken wir zurück: Im Tribunal in Den Haag stellte man fest, daß 1995 "die kroatische Armee mehr als 100.000 Serben aus ihrem Heimatgebiet trieb und sie zwang, auf Karren und Kleinautos zu fliehen ... bis dahin die größte ethnische Säuberung". Serbische Zivilisten wurden standrechtlich hingerichtet, viele verschwanden. Offiziere aus Kanada berichteten: "Die Kroaten wußten, daß sie Zivilisten in Knin beschossen."
  Gab es damals Schlagzeilen in der Bild-Zeitung, stundenlange Fensehberichte, wütende Anklagen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - oder in der Taz? Gab es Bomben auf Zagreb?
  Ein Journalist der New York Times hilft uns, das zu begreifen: "Die kroatische Offensive, die 100.000 Serben vertrieb, wurde mit dem stillen Segen der USA durchgeführt, durch eine kroatische Armee, die zum Teil von einer Gruppe pensionierter US-Offiziere ausgebildet wurde ... Die USA haben entscheidende Beweismittel, die von dem Tribunal erbeten wurden, nicht geliefert ... Es bleiben manche Fragen offen über das volle Ausmaß der US-Teilnahme." Sie bleiben wirklich offen!
  Eine möglich, kontroverse Erklärung bot 1993 eine linke Zeitschrift in den USA: "Alle abgefallenen Republiken sind auf den kapitalistischen Weg eingeschworen, während die Bevölkerung der verbliebenen Republiken Jugoslawiens - trotz massiver US-Finanzhilfen für die Opposition - sozialistische Kandidaten unterstützte. Der Haß des Westens ist nicht nur auf die Wahl, sondern auch auf den Widerstand der Serben gegen die neue Weltordnung zurückzuführen."
  Das kann ich nicht beurteilen. Der USA-Experte George Kenney meinte: "Die Anerkennung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens bildeten die Wurzel des politischen Versagens."
  UN-Generalsekretär de Cuellar warnte 1991 den damaligen Bundesaußenminister Genscher, "daß verfrühte Anerkennungen eine Erweiterung des Konflikts nach sich ziehen würde ... mit schwerwiegenden Folgen." Der niederländische Premierminister Lubbers meinte dazu: Wir "konnten uns auf den Kopf stellen, die übrigen Europäer konnten noch so verwundert dreinschauen, die Deutschen gingen solo zu Werke ... Das war katastrophal."
  1992 betrieb Genscher weiter das Zerreißen von Jugoslawien. US-Außenminister Warren Christopher gab zu: "Beim gesamten Anerkennungsprozeß ... wurden schwere Fehler gemacht ... die Deutschen tragen eine besondere Verantwortung."
  Gibt es dafür eine Tradition? Am Alex sah ich neulich, wie Vergleiche mit 1941 durch die Polizei verboten wurden. Ich ziehe also keine Vergleiche. Ich rufe nur in Erinnerung, etwa diesen Befehl von 1941:
  "In allen Militärzentren in Serbien sofort alle Kommunisten, männliche Einwohner, die als Kommunisten verdächtigt werden, Juden und eine Zahl von nationalistischen und demokratischen Bewohnern als Geisel festnehmen." Am nächsten Tag erschoß das Regiment alle Bewohner der Stadt Kragujevac: Männer, Frauen und Kinder. Der Befehlshaber, Max Pemsel, bekam das Ritterkreuz und wurde Generalleutnant.*
  1943 befahl Karl-Wilhelm Thilo der 1.Gebirgsjägerdivision: "Jeder, der Waffen besitzt, soll erschossen werden. Personen im Militäralter ohne Waffen sind zu verhaften ... Alle von Kommunisten bewohnten Häuser sind zu zerstören." Später meldete er: "Säuberungsaktion bei Tsarova ... 60 Zivilisten erschossen, die Dörfer Seya und Drasova niedergebrannt."
  Das war aber die Wehrmacht! Doch nach dem Krieg wurde Max Pemsel wieder Generalleutnant. Als Kommandant des 2.Korps der Bundeswehr verlangte er "einen Willen zur militärischen Bereitschaft, die, mit Waffen versorgt, der ganzen Welt Paroli bieten könnte". Karl-Wilhelm-Thilo wurde stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr und beehrte, in voller Uniform, Veteranentreffen von SS-Divisionen.
  Generäle werden alt und sterben. Doch 1991 donnerte Innenminister Wolfgang Schäuble weiter gegen Serbien: Die Europäische Gemeinschaft müsse "notfalls militärisch eingreifen, um das Blutvergießen zu beenden". 1992 rief Außenminister Kinkel: "Wir müssen Serbien in die Knie zwingen." Eine Spiegel-Überschrift lautete: "Bomben für den Frieden. Stoppt die NATO Serbien?"
  Eine Anzeige in der Zeit forderte 1993 einen "begrenzten militärischen Einsatz von NATO-Luftstreitkräften zur präzisen Zerschlagung der wichtigsten serbischen Angriffswaffen". Unterschrieben von: Minister Schwarz-Schilling, Oskar Prinz von Preußen, Ferdinand Fürst von Bismarck, sächsischer Innenminister Eggert, SPD-Ageordneter Horst Niggemeier.
  Tilman Fichter, Referent für Schulung und Bildung beim SPD-Parteivorstand, meinte: "Sollten die Nationalkommunisten in Serbien eine solche Hilfsaktion militärisch vereiteln, wäre ein Militärschlag gegen die großserbisch dominierte Volksarmee nicht mehr zu vermeiden ... die NATO müßte den Serben klar machen, daß ihre Armee jetzt gegen die gesamte NATO-Streitmacht zu kämpfen hätte." Das war vor fünf Jahren!
  Vor 60 Jahren sagte ein gewisser Herr Adolf Hiitler das folgende, kurz bevor seine Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten: "Es war ... notwendig, das deutsche Volk psychologisch umzustellen, ... bestimmte Vorgänge so zu beleuchten, daß ... im Gehirn der breiten Masse allmählich die Überzeugung ausgelöst wurde: Wenn man das eben nicht im Guten abstellen kann, dann muß man es mit Gewalt abstellen; so kann es aber auf keinen Fall weitergehen. Diese Arbeit hat Monate erfordert, sie wurde planmäßig begonnen, fortgeführt, verstärkt. Viele haben ... keine Ahnung, wie man ein Volk letzten Endes zu der Bereitschaft bringt, geradezustehen, auch wenn es zu blitzen und zu donnern beginnt." Doch bitte, ich mache keine Vergleiche!
  Und hier ist eine Medienanalyse von 1995: "Als im April Raketen in Zagreb einschlugen und Zivilisten töteten, legte das Fernsehen, öffentlich-rechtlich wie kommerziell, unisono gegen die Serben los. Daß die kroatische Armee zuvor in Slawonien einmarschiert war, wurde im zweiten Teil der Berichterstattung eher anerkennend mitgeteilt. Damit war wieder einmal überzeugend nachgewiesen, daß die ,mörderische Politik‘ der Serben an allem Elend schuld war und ist." Das sagte WDR-Chef Fritz Pleitgen.
  Als ich jung war, trennte die Donau in Österreich die beiden Weltlager. In der eisigen Zeit der Repressionen in meiner Heimat flüchtete ich von der Armee und schwamm über diesen Fluß; zwei Wochen später landete ich als "Asylbewerber" in Potsdam. Wie gut wäre es, wenn sie die vielen Länder und Menschen zwischen Donaueschingen und dem Schwarzen Meer binden, nicht trennen würde. Nun sind drei schöne Brücken zerbombt, der Schiffsverkehr ist völlig blockiert. Wer wird das alles reparieren - wer, wann und wie?
  Doch sage keiner, "kleine Leute" könnten nichts gegen Waffenherren, Generäle und Politiker ausrichten. In den USA wie hier kämpften anfangs nur wenige gegen den Vietnamkrieg. Am Ende waren es Hunderttausende; der Friede wurde erreicht. Nur dauerte das viel zu lange. Wir müssen uns jetzt beeilen! Die Städte und Dörfer brennen, und die Menschen schreien auf!
 
  *[Die Stadt Kragujevac, in der 1941 mehrere tausend Serben erschossen wurden, wurde nach Ostern Ziel von NATO-Angriffen, ebenso wie Jajnica, ein Stadtteil von Belgrad, in dem im Zweiten Weltkrieg 80.000 Serben, Juden und Roma von den Deutschen hingerichtet wurden.]
 


zum Anfang