Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.08 vom 15.04.1999, Seite 9

Blutrot und Olivgrün

Der Krieg auf dem Balkan

Was hat die NATO nur bewogen, mitten in Europa einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu führen? Einen Schwelbrand zu entfachen, nur weil die Bundesrepublik Jugoslawien es sich nicht bieten lassen wollte, daß die NATO auf ihrem Territorium Truppen stationiert, die nach eigenem Belieben schalten und walten?
  Linke beantworten diese Frage gern mit einer fieberhaften Suche nach Bodenschätzen und Märkten, die für das Kapital von Bedeutung wären. Ein so verengte ökonomistische Sichtweise führt in diesem Fall ins Leere. Für beides ist der Balkan zu arm, als daß er ein bedeutender Appetithappen für globales Kapital sein könnte. Aber in anderer Hinsicht spielt er eine zentrale Rolle: als Durchgangsgebiet zum Nahen Osten, als Pufferzone zwischen Westeuropa und dem russischen Einflußbereich, als Arbeitsmarktreservoir...
  Im Vorfeld ihres 50.Geburtstags hat die NATO an einem neuen Strategiekonzept gearbeitet, das Aufschluß geben kann.
  In den ersten 40 Jahren ihrer Existenz diente die NATO der "Abwehr der kommunistischen Bedrohung", dem Sturz der nichtkapitalistischen Regime und dem Ziel, die osteuropäischen Länder für den Weltmarkt zu öffnen. Jetzt herrscht ein neues Paradigma. Gefahren für Europa entstehen durch Flüchtlingsströme, illegale Einwanderung, Terrorismus, radikalen Fundamentalismus und die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln. Zudem droht von lokalen oder subregionalen Konflikten im erweiterten Mittelmeerraum ein Übergreifen auf Europa", schreibt Fred Tanner in einer Sonderausgabe der "Neuen Zürcher Zeitung" (3.3.99)
  In derselben Ausgabe schreibt der US-Botschafter in der BRD, John Kornblum: "Zusätzlich zu externen militärischen Konflikten könnten unsere Gesellschaften durch so vielfältige Bedrohungen wie Terrorismus, Schmuggel von Drogen oder spaltbarem Material oder Verbreitung unterschiedlicher Arten von Massenvernichtungswaffen gefährdet werden. Heute bedeutet die Schaffung von Sicherheit die Konsolidierung der Demokratie in Zentral- und Osteuropa. Das bedeutet die Bewältigung lokaler Krisen in mehreren Teilen der Welt. Das bedeutet Zusammenarbeit beim Aufzeigen von Lösungen für eine mögliche weltweite Finanzkrise."
  Im Klartext: Die NATO rüstet sich dafür, den sozialen Sprengstoff, den die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa, die Globalisierung der Märkte und der Produktion, die weltweite Überproduktion, Arbeitslosigkeit, Hunger und Flüchtligsströme hervorbringen, nötigenfalls militärisch niederzuhalten.
  Dazu nimmt sie sich das Recht, auch Staaten ihrem Kommando unterzuordnen, die gar nicht Mitglieder der NATO sind; sich überall dort, wo es ihr opportun erscheint, in die Innenpolitik anderer Länder einzumischen und ihre Truppen nach Belieben auf die Brennpunkte dieser Welt zu verteilen. Das ist nicht mehr die klassische Politik, die noch das Erschließen neuer Märkte militärisch absicherte oder durchsetzte, aber mit der Absicherung von imperialistischer Herrschaft hat es trotzdem viel zu tun. Der Unterschied ist, daß der Blickwinkel, aus dem die Welt betrachtet wird, im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr ein außenpolitischer, sondern der einer Weltinnenpolitik ist, zu deren einzigem faktischen Regenten die NATO sich immer offener aufspielt.
  Gleichzeitig findet ein entgegengesetzter Prozeß statt: die Widersprüche innerhalb der NATO, zwischen den geostrategischen Interessen ihrer Mitgliedstaaten, nehmen zu (die NZZ zitiert u.a. die "europäisch-amerikanische Kontinentaldrift", aber auch wachsende Entfremdung zwischen Frankreich und Deutschland). Bezogen auf die NATO-Südflanke heißt das z.B.: "Eine kohärente NATO-Strategie für die Südregion ist in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten", schreibt Fred Tanner weiter, "da die Interessendivergenzen unter den Alliierten zu groß sind. Für die europäischen Anrainerstaaten wie z.B. Italien oder Spanien sind die politische Instabilität und die wirtschaftliche Unterentwicklung die gegenwärtig wichtigsten Risikofaktoren in der Südregion. Die USA sehen das Mittelmeer als vitale Durchgangsachse zum Persischen Golf und zu Zentralasien. In ihrer globalen Perspektive sind die Hauptprobleme in der Region die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln und Terrorismus."
  Deutschland fehlt in der Aufzählung. Die hier herrschenden Kreise haben in der Nach-Wende-Zeit vor allem drei Interessen immer wieder formuliert: erstens das widersprüchliche Interesse, einerseits billige Arbeitskräfte aus dem Osten zu beziehen, andererseits sich vor Flüchtlingsströmen abzuschotten; zweitens die Errichtung von Pufferstaaten gegen die "russische Einflußzone"; drittens die Rekonstruktion eines Mitteleuropa unter deutscher Vorherrschaft, das sich an den alten Grenzen von vor dem Zweiten Weltkrieg orientiert.
  Letzterem vor allem dient aus deutscher Sicht die Ost-Erweiterung der EU. In der Diktion der Faz liest sich das so: "Heute beginnt Osteuropa für die politische Publizistik ... zwar nicht mehr in Ostdeutschland, aber eben doch in Polen oder der Tschechischen Republik, obwohl diese Länder mit guten Gründen darauf beharren, daß sie - wie auch Ungarn und die Slowakei - zu Mitteleuropa gehören. Gerade diese Länder und auch die baltischen Staaten haben in den letzten Jahren weitreichende Erfolge sowohl im Hinblick auf eine demokratische als auch auf eine marktwirtschaftliche Ordnung erreicht. Eher schlecht vorangekommen sind hingegen die Staaten des eigentlichen Osteuropa, also Rußland, Weißrußland und die Ukraine. Bei ihnen gibt es Rechtsstaat und Demokratie nicht oder nur bedingt, von einer funktionierenden Marktwirtschaft kann kaum die Rede sein. In Blick auf Erfolge und Mißerfolge der Reformländer werden zugleich die alten historisch-kulturellen Grenzen Europas wieder sichtbar." (12.4.)
  Auf dem Balkan sind die Grenzen durch das alte Habsburgerreich unter Einbeziehung Albaniens und Mazedoniens gegeben. Die Frontstellung gegen Serbien ist damit klar - und entspricht auffällig der antiserbischen Hetze, die in Deutschland schärfer ist als in anderen europäischen Ländern. Damit wird in Europa aber wieder eine Front gegen Rußland aufgebaut, die seit Napoleon verheerende Folgen für den Kontinent hatte.
  Das wichtigste Kriegsziel auf dem Balkan, die weitere Stationierung von Truppen (UN oder NATO), bedient zunächst die Interessen aller Seiten. Dennoch hat dieser Krieg auch deutlich gemacht, daß die militärischen Methoden, derer sich die USA nach 1989 bedient haben, um ihre Führungsrolle zu behaupten, an ihre Grenzen gestoßen sind. Die USA haben unter Ausbau eines großen technologischen Vorsprungs das Konzept vom "sauberen Krieg" entwickelt, der eine gezielte militärische und wirtschaftliche Schwächung mit der möglichst hundertprozentigen Schonung des Lebens von US-Soldaten und möglichst wenig Verlusten der Zivilbevölkerung verbindet. In Bosnien hat dieses Konzept noch funktioniert, weil die USA sich darauf verlassen konnten, daß die Drecksarbeit am Boden jeweils von der kroatischen, serbischen und muslimischen Seite geleistet wurde und sie sich auf eine "Vermittlerrolle" beschränken konnten. Im Kosovo funktioniert es nicht mehr, die UCK kann diese Aufgabe nicht übernehmen, das war bisher von der NATO auch nicht gewollt.
  Die Konsequenz wird jetzt allenthalben diskutiert: ohne Bodentruppen geht es nicht. Die USA aber sind nicht bereit, in Europa den Bluthund zu spielen, wenn die EU-Staaten nicht selber einsatzbereit sind. Bisher ist auch keine europäische Regierung dazu bereit. Aber es ist völlig klar, daß konservative Kreise, Wirtschaftsverbände und Rüstungskonzerne hier ganz neue Aktionsfelder wittern. Nach dem Krieg wird die Diskussion darüber erst richtig losgehen, in Deutschland an vorderster Front; hier ist das Bürgertum noch vor keinem Harakiriunternehmen zurückgescheut.
  Verbunden mit der Diskussion über Bodentruppen stehen zwei weitere Debatten ins Haus: die über eine massive konventionelle Aufrüstung und die über die Bildung eines europäischen Pfeilers der NATO - unter dem Schirm der EU. Letztere Diskussion ist uralt, nie zu Topfe gekommen; jetzt bietet sich die Chance, weil die USA als alleiniger Weltpolizist an ihre Grenzen gestoßen sind.
  Bisher steht alles nur auf dem Papier; aber es ist höchste Zeit, wieder die alten Zusammenhänge zu reflektieren: Krieg ist stets auch ein Versuch der Herrschenden gewesen, aus einer verfahrenen gesellschaftlichen Situation einen "Ausweg" zu finden.
  Angela Klein
 


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