Sozialistische Zeitung |
Vor dem Büro der HADEP in Kücükcekmece haben sie sich versammelt, um Wahlkampf
für die Partei zu machen - zahlreiche Autos, beklebt mit dem blauen Schmetterling auf gelbem Grund, dem Symbol der noch legalen
prokurdischen Partei. Angeführt von Pervin Buldan, der Kandidatin für das Bürgermeisteramt soll der Konvoi über
Silivri nach Istanbul ziehen. Doch noch vor Silivri werden die über 50 Fahrzeuge gestoppt. Sie stören die Vorbereitungen für
die am nächsten Tag bevorstehenden 150 Jahr-Feiern der Polizei.
Während die TeilnehmerInnen noch über die Weiterfahrt verhandeln, werden sie vom Autokonvoi der islamistischen Fazilet-Partei
überholt; dieser stört die Polizeifeiern nicht. Vor Istanbul wird der Konvoi vollends zerstreut und aufgerieben, an den Fahrzeugen
ist mittlerweile ohnehin fast kein Plakat mehr zu sehen; sie wurden von der Polizei entfernt und bei Übergriffen ziviler Faschisten
zerstört.
Bereits in der Nacht vor dem Konvoi "verschwanden" zwei Mitglieder des HADEP-Wahlkampfbüros in Silivri beim Kleben
von Wahlplakaten ebenso spurlos, wie die Plakate mit dem Schmetterling, die von den sogenannten "Sicherheitskräften" jeden
Morgen vor Tagesanbruch von den Wänden gerissen werden.
Doch hier im Westen der Türkei gestaltet sich der Wahlkampf noch vergleichsweise unproblematisch. In den Dörfern und
Städten Kurdistans werden KandidatInnen mit dem Leben bedroht und potentielle WählerInnen der HADEP massiv
eingeschüchtert. "Wenn wir auch nur eine HADEP-Stimme aus Eurem Dorf finden, brennen wir es komplett nieder", zitieren
Beobachterinnen einer Delegation der Hamburger GAL-Bürgerschaftsfraktion die Drohungen türkischer Militärs.
Nachdem es der Staatsanwaltschaft im Februar diesen Jahres nicht gelungen ist, HADEP noch vor den Wahlen verbieten zu lassen, haben sich
die türkischen Behörden darauf verlegt, die Partei mit allen Mitteln am Wahlkampf zu hindern. Immer wieder werden
Wahlversammlungen der HADEP aufgelöst und die TeilnehmerInnen verhaftet. In Bitlis werden KandidatInnen der Partei von
Spezialkommandos "begleitet" und systematisch am Kontakt mit der Bevölkerung gehindert. Wer mit Mitgliedern der Partei
redet, wird umgehend verhaftet und verhört. "Wir hatten keine Möglichkeit in die Familien zu gehen oder ein
Wahlkampfbüro anzumieten. Die Leute trauen sich nicht einmal, mich auf der Straße zu grüßen", berichtet der
Kandidat für das Bürgermeisteramt, während die türkische Presse, an HADEP gewandt, mit der Überschrift
titelt: "Das Volk ist gegen euch."
Bereits seit Ende letzen Jahres richten sich Massenverhaftungen, die mittlerweile die Zehntausender-Marke weit hinter sich gelassen haben,
hauptsächlich gegen Mitglieder der Partei. Zumeist werden die Festgenommenen noch innerhalb der Sieben-Tage-Frist, die die
Polizeihaft andauern darf, wieder freigelassen, um binnen Kurzem erneut inhaftiert zu werden. Somit ist eine offizielle Anklage nicht
erforderlich. Zahlreichen Aktiven der Partei wurde es auf diese Weise verunmöglicht, sich termingerecht als KandidatInnen einschreiben
zu lassen. Die Schließung zahlreicher Büros trug ein Übriges zur Zerschlagung der Infrastruktur von HADEP bei.
Doch auch vor offenem Wahlbetrug schreckt die türkische Administration nicht zurück. Zeitungsberichten zufolge haben sich in der
Kleinstadt Keban, nahe Elazig, von 4000 Wahlberechtigten 11000 in die Wählerlisten eintragen lassen. In Istanbul hingegen wurden 8
Millionen Wahlberechtigte, vorwiegend kurdische Flüchtlinge, nicht in den Listen registriert. Auch eingetragene WählerInnen,
deren Geburtsort sie als KurdInnen ausweist, beschwerten sich vielfach, bisher keine Wahlbenachrichtigungen erhalten zu haben.
Die Liste der Beeinträchtigungen, Bedrohungen und Verfolgungen ist endlos. Verbotsantrag und Kriminalisierung von HADEP haben
erfolgreich verhindert, daß die Partei gemeinsam mit ÖDP, EMEP und anderen kleinen Linksparteien zur Wahl antreten konnte.
Sogar über gemeinsame Listen mit der kemalistischen CHP war noch im Januar verhandelt worden. Doch der Optimismus der Partei,
diesmal die 10 Prozenthürde landesweit zu überspringen, ist längst dem Zweckoptimismus gewichen, auf jeden Fall das
Stimmergebnis von 1995, die 4,1 Prozent, zu überbieten. Und nicht selten sieht sich HADEP mit der Frage konfrontiert, ob sich die Partei
angesichts der offenen Behinderung ihres Wahlkampfes nicht von den Wahlen zurückziehen solle. Doch trotz allem will die Partei
weitermachen. Auch wenn die Stimmen nicht für den Einzug in das Parlament reichen sollten, wird HADEP bei den gleichzeitig
stattfindenden Kommunalwahlen ein großer Wahlerfolg in den kurdischen Gebieten vorausgesagt. Voraussichtlich ist der Partei die
Mehrzahl der Bürgermeisterämter sicher. In den übrigen Gemeinden wird mit Mehrheiten für die islamistische Fazilet
gerechnet.
Für die kemalistischen Eliten der Türkei ist dies das eigentliche Bedrohungsszenario. Generalstaatsanwalt Vural Savas hat am
Wochenende einen erneuten Verbotsantrag gestellt, um die Teilnahme von HADEP an den Wahlen noch in letzter Minute zu verhindern. Im
türkischen Fernsehsender NTV warnt der ehemalige Ministerpräsident und Vorsitzende der Mutterlandspartei ANAP davor,
daß wenn HADEP - das "Haupthindernis bei der Lösung der Südostfrage" - nun Stimmen hinzugewinne, die
"Südostfrage" zu einer "kurdischen Frage" werden könne. Hinter diesen Wortspielen verbirgt sich die Angst
aller kemalistischen Parteien, daß die Wahlen die Lebenslüge der türkischen Machteliten offenlegen könnten.
Mit der Entführung des PKK-Vorsitzenden Öcalan in die Türkei, hatte ein gigantischer Propagandafeldzug die
Öffentlichkeit ein weiteres Mal glauben machen wollen, daß der als "Terrorismusbekämpfung" beschönigte
Krieg gegen die kurdische Bevölkerung des Landes nun den entscheidenden Sieg errungen habe, der der PKK und mit ihr jeder zivilen
Opposition, den endgültigen Todesstoß versetze.
Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Nicht nur die landesweiten Massenproteste gegen die Verschleppung Öcalans machten deutlich,
daß die erniedrigende Zurschaustellung des gefangenen PKK-Vorsitzenden auch von KritikerInnen der Partei als Angriff auf die kurdische
Gesellschaft insgesamt verstanden wird. Auch anläßlich von Newroz kam es am 21.März im ganzen Land zu Versuchen, das
rebellische kurdische Neujahrsfest zu feiern. Nur mit großer Mühe und massiver Repression gelang es Polizei und Militär,
die ausgedehnten Protesten unter Kontrolle zu bringen.
An den Wahlurnen stellt sich dieses Problem nun vier Wochen später erneut. Alleine in Istanbul nahmen nach Schätzungen von
Beobachterinnen am vergangenen Wochenende fast 50.000 Menschen an einer Kundgebung der HADEP teil.
Unterdessen gerät auch der Öcalan-Prozess mehr und mehr zu einer Bauchlandung für die türkische Justiz, die noch
immer öffentlich verkündet, den internationalen Forderungen nach einem rechtsstaatlichen Verfahren nachkommen zu wollen.
Tagtäglich wird klarer, daß die Befürchtungen, auf der Insel Imrali solle nichts weiter als ein Schauprozeß exerziert
werden, mehr als berechtigt waren. Bis heute ist es den Anwälten Öcalans nicht gelungen, auch nur eine Minute ohne die
Anwesenheit der Anti-Terror-Spezialeinheiten mit ihrem Mandanten zu sprechen. Eine Verteidigung ist unter diesen Umständen nicht
möglich.
Während der Öcalan-Anwalt und Vizevorsitzende des Menschenrechtsvereines IHD, Osman Baydemir, nach einer
vorübergehenden Verhaftung wieder freigelassen wurde, muß Medeni Ayhan, der sich ebenfalls zur Verteidigung Öcalans
bereitgefunden hatte, wegen eines Interviews in der Zeitschrift Özgür Bilim für ein Jahr ins Gefängnis. Auch gegen
Ahmed Zeki Okcuoglu wurde ein Verfahren wegen angeblicher Beleidigung von Regierung, Staat und Sicherheitskräften eingeleitet.
Zusammen mit seiner Frau Eren Keskin, ebenfalls Anwältin und Vizevorsitzende des IHD, wurde Okcuoglu am vergangenen Wochenende
auf offener Straße von einer Gruppe ziviler Faschisten angegriffen und verletzt. Sein jüngerer Bruder Mehmet Selim Okcuoglu,
Vorsitzender der türkischen Rechtsforschungsstiftung TOHAV und ebenfalls einer der Anwälte Öcalans, ist inzwischen nach
Deutschland geflüchtet.
Knut Rauchfuss