Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.08 vom 15.04.1999, Seite 20

Kino - die große Abendschule

Ousmane Sembène, marxistischer Schriftsteller und Filmemacher aus dem Senegal, Teil II

Anders als der ehemalige Poet und spätere Staatspräsident Sénghor orientiert sich Ousmane Sembène ideologisch nicht an der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Als erklärter Marxist plädiert er vielmehr für eine revolutionäre Umgestaltung der senegalesischen Gesellschaft, für einen afrikanischen Sozialismus, der allerdings nur mit der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen wäre. Diese vermag Sembène jedoch - weil zwei von drei Senegalesen Analphabeten sind - mit seinen Büchern allein kaum zu erreichen. Deshalb besucht Sembène in den Jahren 1961- 1962, kurz vor seinem 40.Lebensjahr, die Filmhochschule "Maxim Gorki" in Moskau. Denn im Kino sieht er die "große Abendschule" der einfachen Leute und die Chance, seine Ideen an diese weiterzugeben.
  In den Senegal zurückgekehrt dreht Sembène 1962 seinen ersten Film, mit dem er das unabhängige afrikanische Kino begründen sollte: Borom Sarret. Der Kurzspielfilm erzählt von der Irrfahrt eines armen Kutschers durch die Reichenviertel von Dakar. Eigentlich darf der Mann diese Gegend mit seinem einfachen Karren gar nicht befahren. Doch als ihm ein gut gekleideter Herr verspricht, ihn reichlich zu entlohnen und vor Polizeikontrollen zu bewahren, läßt er sich dazu überreden. Denn der Kutscher hat an diesem Tag kaum etwas verdient und seine Familie hungert. In der eleganten Oberstadt von Dakar bewundert er staunend die hohen, luxuriösen Appartementhäuser, bis ein Polizist ihn stoppt, sein Pferd beschlagnahmt und ihm damit die letzte Verdienstmöglichkeit raubt, die ihm noch geblieben war. Sein Fahrgast hat sich derweil aus dem Staub gemacht und nicht einmal bezahlt.
  Schon in diesem ersten, nur zwei Jahre nach der Unabhängigkeit produzierten Kurzfilm wirft Ousmane Sembène der Elite seines Landes vor, in Luxus zu schwelgen, während die große Mehrheit der Bevölkerung kein menschenwürdiges Auskommen hat - ein Thema, auf das er danach immer wieder zurückkommen sollte.
  Seinen ersten abendfüllenden Spielfilm drehte Sembène nach seiner Erzählung La Noire de…: die Geschichte eines schwarzen Hausmädchens, das mit seinen weißen Dienstherren nach Europa reist, doch statt im reichen Frankreich ein glückliches Leben führen zu können, Schwerstarbeit leisten muß und schließlich, isoliert und vereinsamt, Selbstmord verübt.
  Mit diesem, eindrucksvoll in Schwarz-Weiß inszenierten Film schafft Sembène endgültig den internationalen Durchbruch: 1968 wird Sembène mit seinem dritten Spielfilm Mandabi zu den Filmfestspielen in Venedig eingeladen. Der Roman, der als Vorlage dazu diente, liegt in deutsch unter dem Titel Die Postanweisung vor, und erzählt von einem, der sich in den Fallstricken der korrupten, senegalesischen Bürokratie verheddert.
  Danach werden Sembènes Bücher in ein Dutzend Sprachen übersetzt, seine Filme in aller Welt gezeigt, und er selbst wird in Juries der Filmfestivals in Cannes, Moskau und Karthago berufen. Doch wieder sind es die einfachen Leute seines Landes, die ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen:
  "Als ich meine ersten drei Filme gemacht hatte, war ich sehr glücklich und stolz auf mich, wie ein junger Mann nach dem ersten Rendezvouz mit einer Geliebten. Mit dem Spielfilm La Noire de…, dem ersten, der jemals südlich der Sahara von einem Afrikaner gedreht wurde, reiste ich durch die gesamte Welt. Und wie ein Clown glaubte ich, alles sei gut. Als ich dann in den Senegal zurückkehrte, habe ich den Film auch auf dem Land gezeigt. Und dort wurde ich von einem jungen Bauern mit der Frage konfrontiert: ‚Für wen machen Sie eigentlich Ihre Filme?‘ Ich antwortete: ‚Für Sie!‘ Da sagte er: ‚Wir sprechen aber kein Französisch, all Ihre Darsteller in den Filmen sprechen jedoch Französisch, ob sie nun Dienstmädchen oder Bauern spielen.‘ Und ich wußte sofort: er hatte recht. Ich hatte bis dahin Jahrmarktskino gemacht, und mußte nun von diesem jungen Bauern lernen, daß ein Künstler, der sich nicht auf sein Publikum bezieht, auch nicht auszudrücken vermag, was dieses bewegt. Seitdem wird in all meinen Filmen Afrikanisch gesprochen."
  Wolof statt Französisch
  1971 gründete Ousmane Sembène die Zeitschrift Kaddù in der Sprache Wolof. Und in seinem nächsten, wieder nach einer eigenen Romanvorlage gedrehten Film Xala sind ähnliche Dialoge über das Sprachproblem enthalten, wie er sie selbst mit den Bauern geführt hat.
  In diesem Film schreibt eine junge Frau Texte für die Zeitschrift Kaddù in Wolof. Und als ihr Vater, ein reicher Geschäftsmann, sie auf französisch fragt, ob sie wirklich glaube, daß die Sprache Wolof eines Tages benutzt werde, antwortet sie: "85 Prozent der Bevölkerung benutzen sie immer schon. Die Leute brauchen nur noch zu lernen, sie auch zu schreiben." Französisch, so die Tochter weiter, sei nur "ein Unfall" in der Geschichte des Landes.
  Xala ist eine bitterböse Parodie auf die senegalesische Elite. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der alternde Geschäftsmann El Hadji Abdou Kader Bèye, der - gegen den Willen seiner beiden ersten Frauen - ein drittes Mal heiratet: dieses Mal eine wesentlich jüngere Frau. Um seinen Kollegen aus dem Vorstand der Industrie- und Handelskammer zu imponieren, feiert er die Hochzeit mit großem Pomp. Der Braut schenkt er einen Fernsehapparat, ein Kästchen mit Gold und einen Kleinwagen, der mit einer Papierschleife verziert auf einem Lkw vorgefahren wird. Doch in der Hochzeitsnacht muß El Hadji feststellen, daß er von einem Xala, einem Fluch, befallen ist: Er ist impotent geworden. Hatte er sich kurz zuvor noch über traditionelle Fruchtbarkeitsriten lustig gemacht und versucht, die reichen Europäer nachzuäffen, indem er täglich zwei Liter französisches Tafelwasser trank, so sucht er jetzt plötzlich verzweifelt Hilfe bei Marabuts und Dorfheilern. Schließlich erfährt er, wer ihm den Fluch angehängt hat: Es ist ein Mann, den er ins Elend gestürzt und zum Bettler gemacht hat. Deshalb kann El Hadji seine Manneskraft nur dann zurückerlangen, wenn er sich vor diesem Mann und dessen Kumpanen erniedrigt. Und so sieht man in der symbolträchtigen Schlußsequenz des Films, wie sich El Hadji Abdou Kader Bèye, dieser ehemals so stolze und hochmütige Vertreter der senegalesischen Geschäftswelt, von Krüppeln, Blinden und anderen zerlumpten Gestalten anspucken lassen muß.
  Für Sembène ist Xala eine Metapher für die afrikanische Bourgeoisie, die bis heute an geistiger Impotenz kranke. In den ehemaligen französischen Kolonien seien die regierenden Herren nicht mehr als Agenten des Neokolonialismus. Wenn es den afrikanischen Gesellschaften nicht gelinge, eine neue Kultur zu entwickeln, in der Freiheit und Menschenwürde respektiert würden, dann würden sie untergehen.
  Der Zusammenarbeit des Wuppertaler Peter-Hammer-Verlags mit dem Evangelischen Zentrum für Entwicklungsbezogene Zusammenarbeit (EZEF) in Stuttgart ist es zu verdanken, daß man Filme Sembènes direkt mit seinen gleichnamigen Romanen vergleichen kann. So ist Xala nicht nur als Roman in deutscher Übersetzung erschienen. Auch die Verfilmung ist auf Videokassette mit deutschen Untertiteln im Buchhandel erhältlich. Ebenso von Sembènes bislang letztem Werke Guelwaar liegen Buch und Film in deutscher Fassung vor.
  "Guelwaar": Kritik der Entwicklungs"hilfe"
  In Guelwaar kritisiert Sembène die bis heute anhaltende wirtschaftliche Abhängigkeit Afrikas von Europa und das, was hierzulande "Entwicklungshilfe" genannt wird. Der Film zeigt - am Beispiel eines Streits zwischen Christen und Muslimen - daß Konflikte der Afrikaner untereinander nur denen zugute kommen, die den Kontinent weiter in Abhängigkeit halten wollen. Ausgangspunkt der Geschichte ist der Tod des aufmüpfigen Christen Pierre Henri Thioune, "besser bekannt unter dem Namen Guelwaar", dessen Leichnam verwechselt und versehentlich auf einem muslimischen Dorffriedhof begraben wird.
  Als die christliche Gemeinde in das muslimische Dorf zieht und die Ausgrabung und Rückgabe von Guelwaars Leiche verlangt, kann nur ein beherzter Polizist - einer der wenigen, die nicht korrumpierbar sind - verhindern, daß es zu einem Religionskrieg kommt. Er schlichtet den Streit, doch der Abgeordnete der Region, der in der Konfliktsituation völlig hilflos operiert hatte, versucht den wiedergewonnenen Frieden als seinen höchstpersönlichen Erfolg auszugeben. Er verspricht den muslimischen Dorfbewohnern, um sie auf seine Seite zu bringen, eine Lkw-Ladung Nahrungsmittelhilfe aus Europa. Diese jedoch kommt nicht an. Denn die jungen Christen, die mit Guelwaars Leiche auf dem Rückweg in ihr Dorf sind, begegnen dem Lkw, halten ihn an und werfen die gespendeten Hilfsgüter in den Straßendreck. So erfüllen sie das Anliegen des Verstorbenen, der den Mißbrauch von Spenden durch die Regierenden zur Korrumpierung der Bevölkerung noch in seinem letzten öffentlichen Auftritt angeprangert hatte und genau deshalb von den kritisierten Machthaber beseitigt worden war.
  Im Film erinnert eine Rückblende an diese entscheidende Szene: auf einem Dorfplatz wird die Bevölkerung zur feierlichen Überreichung gespendeter Nahrungsmittel zusammengetrommelt. Über ihren Köpfen wehen die Fahnen der Europäischen Gemeinschaft und der USA sowie ein Transparent mit der Aufschrift: "Hoch lebe die Nord-Süd- Kooperation." Doch als die Honoratioren - Weiße wie Schwarze - auf einer schattigen Terrasse sitzend, einmal mehr einen ihrer selbst inszenierten Festakte routinemäßig abspulen wollen, stört Guelwaar die Harmonie, als er ans Mikrofon tritt, um eine vehemente Anklage zu formulieren:
  "Unsere Führer haben uns hier versammelt. Wißt ihr, wozu? Um Spenden in Empfang zu nehmen, nur dazu. Und unsere Führer zerfließen vor Dankbarkeit in unserem Namen vor unseren erlauchten Wohltätern. Und jubelnd brüsten sich unsere Führer vor uns, als wären diese Spenden die Früchte ihrer Arbeit. Wir aber, das Volk, wir tanzen vor diesen Spenden, stumm und ohne Würde. Welch eine Erniedrigung! Wann begreifen wir endlich, daß man keine Familie gründen und festigen kann in fortwährender Bettelei? Und diese Spendenverteilung wiederholt sich seit 30 Jahren, hier und anderswo in Afrika. Diese häufigen Spenden töten uns. Sie töten in uns jeden Stolz und jede Würde. Und die Völker, die sie uns schenken mit großartiger Geste, lachen über uns. Und unsere Söhne und Töchter, die im Ausland unter diesen Leuten leben, werden gedemütigt. Gewiß, wir sind geplagt von Unglück aller Art. Aber wir müssen dagegen angehen, nicht die anderen. Wir allein!"
  In Guelwaar hat Sembène noch einmal einige der zentralen Themen aufgegriffen, die ihn in den vier Jahrzehnten seines literarischen und cineastischen Schaffens immer wieder bewegt haben: den Zynismus der Herrschenden auf Kosten der Armen und die Notwendigkeit, sich dagegen organisiert zur Wehr zu setzen, die Funktion der Religion als Mittel zur Befriedung der Massen und die "Phallokratenmentalität" der Männer - darunter auch Guelwaar, der Held der Geschichte -, die Frauen wie "Spielzeuge" behandeln.
  Mit Guelwaar hat Ousmane Sembène einmal mehr bewiesen, daß er als Schriftsteller wie als Filmemacher eine herausragende Position in Afrika einnimmt. Diesmal verfilmte er allerdings nicht einen zuvor geschriebenen Roman, sondern er nutzte das Drehbuch zum Film als Ausgangsmaterial für die Romanfassung. Im Vorwort dazu erläutert Sembène, wie er, der beide Kunstformen mit gleicher Meisterschaft beherrscht, das Verhältnis von Film und Literatur versteht:
  "Der Filmregisseur besitzt ein Werkzeug, das sich seinen Wünschen anpaßt: Aufnahme, Gegenschuß, Fahraufnahme, die Dauer einer Einstellung, die ausdrucksvolle Stille des Horizonts. Die Filmszenerie einer elenden Behausung ist ebenso schön wie ein von afrikanischen Malern mit ihrer unbändigen Freude an lebhaften Farbtönen gemaltes Bild. Die Großaufnahme eines Gesichts ist der grenzenlose Horizont einer Seele und veränderlich wie das Meer. Und die Augen, der Blick sind eine offene Tür. Flüchtiges Sichtbarwerden ist wie ein heimliches Beobachten, und dieses Ausdrucksmittel, das nur dem Filmregisseur zu eigen ist, verleiht ihm einen sicheren Vorteil gegenüber dem schreibenden Autor. Und doch verfügt der Schriftsteller eben hier über einen anderen Trumpf: Er formt und malt das Gesicht mit Worten aus, seinem Werkzeug, und er dringt tief in die Psychologie des Menschen ein. Da, wo der Film - sein Regisseur - das Zurschaustellen und das Spektakuläre bevorzugt, arbeitet und schneidet der Mann der Feder Satz um Satz seine Reliefs heraus, und ein erfahrener Leser hat seine Freude daran."
Karl Rössel (Rheinisches JournalistInnenbüro)


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