Sozialistische Zeitung |
Was sind die wichtigsten Auswirkungen des Kosovo-Kriegs auf Kroatien?
Branka Sesto: Als der Krieg begann, gab es eine Parlamentssitzung, auf der Vertreter des rechten Flügels sich überwältigt
vor Freude gaben. Sie schrien: "Dies ist der Augenblick, wo Kroatien in die ,Partnerschaft des Friedens aufgenommen
wird." Einige von ihnen glaubten, Kroatien würde nun allein deshalb Mitglied in allen westlichen demokratischen Organisationen
werden, weil NATO-Flugzeuge kroatisches Gebiet überflögen. Damals gab es zwei Mitglieder der parlamentarischen Opposition,
Ivan Jakovi´c von der Istrischen Demokratischen Allianz (IDS) und Mato Arlovi´c von der Sozialdemokratische Partei (SDP),
die die wirkliche Bedeutung der NATO-Intervention für Kroatien unterstrichen: Die europäischen Touristen würden nicht in
ein Land kommen, in dem ein Krieg stattfindet. Dies hatte einen beachtlichen Einfluß auf die politische Debatte.
Präsident Tudjman bezog sich auf den Kosovo bisher immer als eine interne Angelegenheit Jugoslawiens. Der Grund: Tudjman sieht die
Analogie mit der Situation in der Krajina. Würde dieses Thema nicht intern behandelt, so könnte jedes Land bestraft werden.
Beispielsweise verlangt der Haager Gerichtshof die Auslieferung von drei kroatische Generälen, denen Kriegsverbrechen angelastet
werden. Zwar hat die kroatische Regierung bosnische Kroaten ausgeliefert, aber sie zögert nun, kroatische Generäle
auszuliefern.
Unsere Erfahrung ist, daß sich Tudjman und Milosevi´c immer gegenseitig halfen. Hinzu kommt: Was immer in Serbien
passierte, ereignete sich bald darauf in Kroatien. Sollte die NATO das Milosevi´c-Regime beseitigen (was ich stark bezweifle), dann
würde Tudjman seinen Partner verlieren. Ihr Übereinkommen zur Teilung Bosniens hatte all die Jahre über Bestand. Und
wenn nun Tudjman seinen serbischen Partner verlieren würde und wenn Serbien eine demokratischere Regierung hätte, wen sollten
die Kroaten dann hassen?
Sie hatten besondere Beziehungen zu Freunden in Belgrad und Pristina. Existieren diese Verbindungen noch unter den Bedingungen des
Krieges?
Meine Freunde in Belgrad sind mit den Leuten in Pristina befreundet. Das ist wie ein Dreieck. Zur Zeit haben meine Belgrader Freunde und
ich keinen Kontakt ins Kosovo und wir fürchten um das Leben der Freunde dort. Dank E-Mail sind wir immer noch im Kontakt zu den
Freunden in Serbien. Aber inzwischen müssen wir auch um deren Leben fürchten. Einer meiner Freunde lebt rund 100 Meter neben
der Donau-Brücke in Novi Sad, die von NATO-Bomben zerstört wurde. Die Zimmerfenster seines Apartments wurden vom Druck
der Bombe zerstört. Das erste, was er während des Bombenangriffs tat, war, seinen Computer in Sicherheit zu bringen. Denn
dieses Gerät ist seine einzige Verbindung zur Außenwelt.
Andere Freunde von mir leben gerade mal 100 Meter neben dem berüchtigten Gebäude des Belgrader Innenministeriums und
Polizeihauptquartiers, das zerstört wurde. Was mich wütend macht: Natürlich haben sie vor dem Bombardement diese
Gebäude evakuiert. Aber ebenso natürlich wurde die Geburtsklinik direkt daneben nicht evakuiert...
...aus zynischen Gründen.
Genau. Damit sie sagen können: Die NATO bombardiert Babys. Das Ergebnis für die NATO ist null. Heute passiert dasselbe, was
zuvor bei den Sanktionen passierte. Milosevi´c und seine Familie wurden immer reicher. Sie allein konnten den Schmuggel von Ungarn
nach Jugoslawien organisieren. Diejenigen, die von den Sanktionen und ebenso von den Bomben getroffen werden, sind die Schwächsten
und die Unschuldigsten. Unsere demokratischen Freunde sind nun auf zweifache Art verwundbar: durch die Bomben und durch mögliche
Mordanschläge der sogenannten serbischen Spezialeinheiten.
Welche Perspektiven gibt es heute in Kroatien für die Ökonomie und die Demokratie?
Das Regime in Kroatien wurde mehrmals gewählt, aber nach meinem Verständnis war nur die erste Wahl im Jahr 1990, die von
den damaligen Kommunisten organisiert wurde, demokratisch. Damals gab es eine faire und demokratische Abstimmung bei der Wahl und bei
der Vorwahlkampagne. In allen folgenden Jahren waren diese Kampagnen undemokratisch. Das Fernsehen wird völlig von der Gruppe
um Tudjman kontrolliert. Er und seine Partei erhalten sechsmal mehr Fernsehzeit als die Oppositionsparteien. Tudjman und seine Minister
präsentieren sich im Fernsehen, indem sie Krankenhäuser oder neue Baustellen eröffnen.
Die Situation ist wesentlich schlechter, als sie jemals gewesen ist. Sie ist sogar schlimmer als in den Kriegsjahren und gegenüber der
Zeit, als ein Drittel des Landes unter serbischer Kontrolle und dann unter UN-Schutz stand. Heute, mehr als drei Jahre, nachdem das kroatische
Militär in dieser Region die Kontrolle übernahm und eineinhalb Jahre, nachdem die letzten Gebiete Slawoniens in Kroatien
reintegriert wurden, ist die Situation schlimmer als je zuvor. Aber heute, neun Jahre nach Bildung des kroatischen Staates, ist es sehr schwer zu
behaupten, für all das Elend sei das frühere kommunistische System verantwortlich.
Das ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht viel anders. Hier wird gesagt, daß das kommunistische Regime, das vor gut neun
Jahren verschwand, für die aktuelle Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland verantwortlich wäre. Wie sieht die ökonomische
Entwicklung in Kroatien aus?
Ein Großteil des Reichtums in Kroatiens wanderte in die Hände der Leute, die enge Freunde von Tudjman sind. Heute sind die
meisten dieser privatisierten Firmen jedoch bankrott. Die Auslandsschulden Kroatiens sind heute größer, als es die der
jugoslawischen Föderation 1990 waren. Die Arbeitslosenrate ist höher als je zuvor. Wir haben Leute, die seit sechs Monaten
keinen Lohn oder Gehalt bekommen haben. Dabei gibt es in unserm Arbeitsrecht eine bestimmte Klausel, wonach Streiks illegal sind, wenn sie
wegen ausstehender Löhne geführt werden. Übrigens verdanken wir diese Bestimmung der brüderlichen Hilfe eines
Instituts, deren Präsidentin die deutsche Europaparlamentarierin Doris Pack ist.
Allerdings gibt es eine neue Entwicklung: die Bildung von Arbeiterzentren zur Verteidigung ihrer Firmen. Plötzlich verteidigen die
Arbeiter ihre Maschinen, wenn sie weggenommen oder verkauft werden sollen. Sie organisieren sich in Gewerkschaften. Das ist ein gutes
Zeichen dafür, daß diese Arbeiter ihre Erfahrungen mit der Arbeiterselbstverwaltung nicht vergessen haben. All das konnte in der
Kriegszeit mit all der nationalistischen Rhetorik nicht stattfinden. Aber auch heute wird jeder, der sagt, er vermisse die
Arbeiterselbstverwaltung, mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei "Jugo-nostalgisch".
Der Krieg im Kosovo wird von der NATO mit dem Verweis auf die "ethnischen Säuberungen" gerechtfertigt. Nun gab es
in Kroatien vergleichbare Prozesse.
Ich lebte gut zwei Jahre in Vukovar und arbeitete vom Sommer 1996 bis Sommer 1998 dort für die Vereinten Nationen. Vukovar ist ein
Symbol für die Leiden Kroatiens. Die Stadt wurde von der jugoslawischen Armee völlig zerstört. Als ich dorthin kam, gab
es bereits wieder Leben in der Stadt. Es existierten bspw. wieder rund zehn Blumenläden. Als ich dies einem Taxifahrer in Zagreb
erzählte, war der völlig perplex und rief: "Aber warum zeigen sie dies uns nicht im Fernsehen? Warum zeigen sie uns immer
nur die Ruinen?" Ich sagte ihm, daß er diese Frage den Leuten stellen solle, die das kroatische Fernsehen kontrollierten.
Heute ist die ehemals serbisch besiedelte Region Krajina, die zu Kroatien gehört, die größte menschenleere Region Europas.
Dort wurden von den kroatischen Militärs mehrere hundert Serben ermordet und mehrere hundert serbische Dörfer zerstört.
Um es offen zu sagen, hier brennt jeder die Dörfer der anderen nieder. Dies ist der berüchtigste "Sport" in dieser
Region. Der Wiederaufbau der Dörfer findet aus einem einzigen Grund nicht statt: Es soll verhindert werden, daß die
Flüchtlinge zurückkommen. Und diejenigen, die heute dennoch zurückkehren, sind durchschnittlich über 60 Jahre alt.
Wir sagen, sie kommen, um zu sterben.
Übrigens, entlang der Hauptstraße, die durch die Krajina führt und auf der die Touristen reisen, gibt es kaum niedergebrannte
Dörfer. Die zerstörten Dörfer liegen einige Kilometer entfernt von der Hauptstraße. Das ist auch der Grund, weshalb
ich nicht glaube, daß diese Zerstörungen die Tat von einigen verrückten nationalistischen Individuen waren. All dies war
geplant.
In diesem Jahr gibt es Wahlen in Kroatien - und die Chance für einen linken Wahlsieg.
Tatsächlich hat Tudjmans Partei gute Chancen, die Wahlen zu verlieren. Ich hoffe nur, die Situation im Kosovo hilft ihm nicht erneut. Es
scheint, daß die Leute von Tudjmans Partei, seinem Regime und all der Korruption einfach die Schnauze voll haben. Deshalb hat die
Koalition der sechs Oppositionsparteien, deren größte die SDP ist, gute Wahlchancen. Aber die Frage nach einem solchen
Wahlsieg wird sein: Wird Tudjman eine neue Regierungskoalition akzeptieren? Wir haben die Situation in Zagreb gesehen, wo Tudjman das
Wahlergebnis nicht akzeptierte. Das höchst undemokratische Argument dabei lautete: Zagreb sei zu wichtig, um von Oppositionsparteien
regiert zu werden.
Das ist die eine Sache. Darüber hinaus kontrolliert Tudjman große Teile der Berufsarmee, insbesondere solche Spezialeinheiten
wie die "Erste Leibgarde", die eine Art Prätorianergarde darstellt. Dabei handelt es sich um eine Einheit, deren Mitglieder
sorgfältig ausgewählt und gut bezahlt sind - alle vertreten sie extrem rechte Positionen. Weiter gibt es bei uns einen sehr starken
Polizeiapparat; proportional gibt es bei uns mehr Polizisten als in der BRD. Viele dieser Leute haben Bilder von Usta?sa-Führern - zum
Beispiel Paveli´c - in ihren Hauptquartieren. Unter diesen Umständen wissen wir nicht, was im Falle eines linken Wahlsiegs
passiert.
Gibt es irgendeine materielle Basis für eine mögliche neue linke Regierung?
Zunächst einmal handelt es sich um einen Block verschiedener Parteien, und es dürfte schwierig sein, daß eine solche
Koalition gut funktioniert. Sodann muß ein sehr großer Teil der Schulden, die Kroatien im Ausland in den letzten neun Jahren
aufnahm, nach den Wahlen zurückgezahlt werden. Unter diesen Umständen dürfte eine neue Regierung mit noch mehr
Schwierigkeiten konfrontiert sein als die gegenwärtige. Zur Zeit kann Tudjman die Renten noch zahlen und Subventionen vergeben. Aber
nach den Wahlen wird es sehr schwer sein, weiter diese Altersgelder zu bezahlen, die Gehälter für die Lehrer oder die Ausgaben
für das Gesundheitssystem aufzubringen. Daher wird die Situation nach der Wahl sehr schwierig werden, zumal die Kroaten niemals
Demokratie gelernt haben. Sie kamen schlicht von einem Ein-Parteien-System in ein anderes.
Tudjman war in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Partisan.
Wenn in Paris der Sieg über den Faschismus gefeiert wird, dann geht er dorthin und läßt sich mitfeiern. Gleichzeitig verfolgt
seine Polizei die Leute, die in Kroatien den Sieg über den Faschismus auf einem bestimmten Platz in Zagreb feiern wollen. Viele Jahre
lang haben wir diesen Sieg auf einem Platz gefeiert, der den Namen trug "Platz der Opfer des Faschismus". Aber 1990, sofort nach
der Machtübernahme durch Tudjman, ließ er diesen Namen ändern in "Platz der Großen Kroaten". Heute
gibt es seit acht Jahren immer am 9.Mai Demonstrationen mit der Forderung nach Rückbenennung des Platzes. Im letzten Jahr griff die
Polizei wieder ein, so daß jetzt der Organisator und andere führende Personen dieser Demonstration einen Prozeß zu
erwarten haben - wegen " Erregung öffentlichen Ärgernisses".