Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 29.04.1999, Seite 3

Tudjman profitiert vom Krieg

Interview mit der Menschenrechtsaktivistin Branka Sesto

Was sind die wichtigsten Auswirkungen des Kosovo-Kriegs auf Kroatien?
Branka Sesto: Als der Krieg begann, gab es eine Parlamentssitzung, auf der Vertreter des rechten Flügels sich überwältigt vor Freude gaben. Sie schrien: "Dies ist der Augenblick, wo Kroatien in die ,Partnerschaft des Friedens‘ aufgenommen wird." Einige von ihnen glaubten, Kroatien würde nun allein deshalb Mitglied in allen westlichen demokratischen Organisationen werden, weil NATO-Flugzeuge kroatisches Gebiet überflögen. Damals gab es zwei Mitglieder der parlamentarischen Opposition, Ivan Jakovi´c von der Istrischen Demokratischen Allianz (IDS) und Mato Arlovi´c von der Sozialdemokratische Partei (SDP), die die wirkliche Bedeutung der NATO-Intervention für Kroatien unterstrichen: Die europäischen Touristen würden nicht in ein Land kommen, in dem ein Krieg stattfindet. Dies hatte einen beachtlichen Einfluß auf die politische Debatte.
  Präsident Tudjman bezog sich auf den Kosovo bisher immer als eine interne Angelegenheit Jugoslawiens. Der Grund: Tudjman sieht die Analogie mit der Situation in der Krajina. Würde dieses Thema nicht intern behandelt, so könnte jedes Land bestraft werden. Beispielsweise verlangt der Haager Gerichtshof die Auslieferung von drei kroatische Generälen, denen Kriegsverbrechen angelastet werden. Zwar hat die kroatische Regierung bosnische Kroaten ausgeliefert, aber sie zögert nun, kroatische Generäle auszuliefern.
  Unsere Erfahrung ist, daß sich Tudjman und Milosevi´c immer gegenseitig halfen. Hinzu kommt: Was immer in Serbien passierte, ereignete sich bald darauf in Kroatien. Sollte die NATO das Milosevi´c-Regime beseitigen (was ich stark bezweifle), dann würde Tudjman seinen Partner verlieren. Ihr Übereinkommen zur Teilung Bosniens hatte all die Jahre über Bestand. Und wenn nun Tudjman seinen serbischen Partner verlieren würde und wenn Serbien eine demokratischere Regierung hätte, wen sollten die Kroaten dann hassen?
 
Sie hatten besondere Beziehungen zu Freunden in Belgrad und Pristina. Existieren diese Verbindungen noch unter den Bedingungen des Krieges?
Meine Freunde in Belgrad sind mit den Leuten in Pristina befreundet. Das ist wie ein Dreieck. Zur Zeit haben meine Belgrader Freunde und ich keinen Kontakt ins Kosovo und wir fürchten um das Leben der Freunde dort. Dank E-Mail sind wir immer noch im Kontakt zu den Freunden in Serbien. Aber inzwischen müssen wir auch um deren Leben fürchten. Einer meiner Freunde lebt rund 100 Meter neben der Donau-Brücke in Novi Sad, die von NATO-Bomben zerstört wurde. Die Zimmerfenster seines Apartments wurden vom Druck der Bombe zerstört. Das erste, was er während des Bombenangriffs tat, war, seinen Computer in Sicherheit zu bringen. Denn dieses Gerät ist seine einzige Verbindung zur Außenwelt.
  Andere Freunde von mir leben gerade mal 100 Meter neben dem berüchtigten Gebäude des Belgrader Innenministeriums und Polizeihauptquartiers, das zerstört wurde. Was mich wütend macht: Natürlich haben sie vor dem Bombardement diese Gebäude evakuiert. Aber ebenso natürlich wurde die Geburtsklinik direkt daneben nicht evakuiert...

...aus zynischen Gründen.
Genau. Damit sie sagen können: Die NATO bombardiert Babys. Das Ergebnis für die NATO ist null. Heute passiert dasselbe, was zuvor bei den Sanktionen passierte. Milosevi´c und seine Familie wurden immer reicher. Sie allein konnten den Schmuggel von Ungarn nach Jugoslawien organisieren. Diejenigen, die von den Sanktionen und ebenso von den Bomben getroffen werden, sind die Schwächsten und die Unschuldigsten. Unsere demokratischen Freunde sind nun auf zweifache Art verwundbar: durch die Bomben und durch mögliche Mordanschläge der sogenannten serbischen Spezialeinheiten.

Welche Perspektiven gibt es heute in Kroatien für die Ökonomie und die Demokratie?
Das Regime in Kroatien wurde mehrmals gewählt, aber nach meinem Verständnis war nur die erste Wahl im Jahr 1990, die von den damaligen Kommunisten organisiert wurde, demokratisch. Damals gab es eine faire und demokratische Abstimmung bei der Wahl und bei der Vorwahlkampagne. In allen folgenden Jahren waren diese Kampagnen undemokratisch. Das Fernsehen wird völlig von der Gruppe um Tudjman kontrolliert. Er und seine Partei erhalten sechsmal mehr Fernsehzeit als die Oppositionsparteien. Tudjman und seine Minister präsentieren sich im Fernsehen, indem sie Krankenhäuser oder neue Baustellen eröffnen.
  Die Situation ist wesentlich schlechter, als sie jemals gewesen ist. Sie ist sogar schlimmer als in den Kriegsjahren und gegenüber der Zeit, als ein Drittel des Landes unter serbischer Kontrolle und dann unter UN-Schutz stand. Heute, mehr als drei Jahre, nachdem das kroatische Militär in dieser Region die Kontrolle übernahm und eineinhalb Jahre, nachdem die letzten Gebiete Slawoniens in Kroatien reintegriert wurden, ist die Situation schlimmer als je zuvor. Aber heute, neun Jahre nach Bildung des kroatischen Staates, ist es sehr schwer zu behaupten, für all das Elend sei das frühere kommunistische System verantwortlich.

Das ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht viel anders. Hier wird gesagt, daß das kommunistische Regime, das vor gut neun Jahren verschwand, für die aktuelle Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland verantwortlich wäre. Wie sieht die ökonomische Entwicklung in Kroatien aus?
Ein Großteil des Reichtums in Kroatiens wanderte in die Hände der Leute, die enge Freunde von Tudjman sind. Heute sind die meisten dieser privatisierten Firmen jedoch bankrott. Die Auslandsschulden Kroatiens sind heute größer, als es die der jugoslawischen Föderation 1990 waren. Die Arbeitslosenrate ist höher als je zuvor. Wir haben Leute, die seit sechs Monaten keinen Lohn oder Gehalt bekommen haben. Dabei gibt es in unserm Arbeitsrecht eine bestimmte Klausel, wonach Streiks illegal sind, wenn sie wegen ausstehender Löhne geführt werden. Übrigens verdanken wir diese Bestimmung der brüderlichen Hilfe eines Instituts, deren Präsidentin die deutsche Europaparlamentarierin Doris Pack ist.
  Allerdings gibt es eine neue Entwicklung: die Bildung von Arbeiterzentren zur Verteidigung ihrer Firmen. Plötzlich verteidigen die Arbeiter ihre Maschinen, wenn sie weggenommen oder verkauft werden sollen. Sie organisieren sich in Gewerkschaften. Das ist ein gutes Zeichen dafür, daß diese Arbeiter ihre Erfahrungen mit der Arbeiterselbstverwaltung nicht vergessen haben. All das konnte in der Kriegszeit mit all der nationalistischen Rhetorik nicht stattfinden. Aber auch heute wird jeder, der sagt, er vermisse die Arbeiterselbstverwaltung, mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei "Jugo-nostalgisch".

Der Krieg im Kosovo wird von der NATO mit dem Verweis auf die "ethnischen Säuberungen" gerechtfertigt. Nun gab es in Kroatien vergleichbare Prozesse.
Ich lebte gut zwei Jahre in Vukovar und arbeitete vom Sommer 1996 bis Sommer 1998 dort für die Vereinten Nationen. Vukovar ist ein Symbol für die Leiden Kroatiens. Die Stadt wurde von der jugoslawischen Armee völlig zerstört. Als ich dorthin kam, gab es bereits wieder Leben in der Stadt. Es existierten bspw. wieder rund zehn Blumenläden. Als ich dies einem Taxifahrer in Zagreb erzählte, war der völlig perplex und rief: "Aber warum zeigen sie dies uns nicht im Fernsehen? Warum zeigen sie uns immer nur die Ruinen?" Ich sagte ihm, daß er diese Frage den Leuten stellen solle, die das kroatische Fernsehen kontrollierten.
  Heute ist die ehemals serbisch besiedelte Region Krajina, die zu Kroatien gehört, die größte menschenleere Region Europas. Dort wurden von den kroatischen Militärs mehrere hundert Serben ermordet und mehrere hundert serbische Dörfer zerstört. Um es offen zu sagen, hier brennt jeder die Dörfer der anderen nieder. Dies ist der berüchtigste "Sport" in dieser Region. Der Wiederaufbau der Dörfer findet aus einem einzigen Grund nicht statt: Es soll verhindert werden, daß die Flüchtlinge zurückkommen. Und diejenigen, die heute dennoch zurückkehren, sind durchschnittlich über 60 Jahre alt. Wir sagen, sie kommen, um zu sterben.
  Übrigens, entlang der Hauptstraße, die durch die Krajina führt und auf der die Touristen reisen, gibt es kaum niedergebrannte Dörfer. Die zerstörten Dörfer liegen einige Kilometer entfernt von der Hauptstraße. Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht glaube, daß diese Zerstörungen die Tat von einigen verrückten nationalistischen Individuen waren. All dies war geplant.

In diesem Jahr gibt es Wahlen in Kroatien - und die Chance für einen linken Wahlsieg.
Tatsächlich hat Tudjmans Partei gute Chancen, die Wahlen zu verlieren. Ich hoffe nur, die Situation im Kosovo hilft ihm nicht erneut. Es scheint, daß die Leute von Tudjmans Partei, seinem Regime und all der Korruption einfach die Schnauze voll haben. Deshalb hat die Koalition der sechs Oppositionsparteien, deren größte die SDP ist, gute Wahlchancen. Aber die Frage nach einem solchen Wahlsieg wird sein: Wird Tudjman eine neue Regierungskoalition akzeptieren? Wir haben die Situation in Zagreb gesehen, wo Tudjman das Wahlergebnis nicht akzeptierte. Das höchst undemokratische Argument dabei lautete: Zagreb sei zu wichtig, um von Oppositionsparteien regiert zu werden.
  Das ist die eine Sache. Darüber hinaus kontrolliert Tudjman große Teile der Berufsarmee, insbesondere solche Spezialeinheiten wie die "Erste Leibgarde", die eine Art Prätorianergarde darstellt. Dabei handelt es sich um eine Einheit, deren Mitglieder sorgfältig ausgewählt und gut bezahlt sind - alle vertreten sie extrem rechte Positionen. Weiter gibt es bei uns einen sehr starken Polizeiapparat; proportional gibt es bei uns mehr Polizisten als in der BRD. Viele dieser Leute haben Bilder von Usta?sa-Führern - zum Beispiel Paveli´c - in ihren Hauptquartieren. Unter diesen Umständen wissen wir nicht, was im Falle eines linken Wahlsiegs passiert.

Gibt es irgendeine materielle Basis für eine mögliche neue linke Regierung?
Zunächst einmal handelt es sich um einen Block verschiedener Parteien, und es dürfte schwierig sein, daß eine solche Koalition gut funktioniert. Sodann muß ein sehr großer Teil der Schulden, die Kroatien im Ausland in den letzten neun Jahren aufnahm, nach den Wahlen zurückgezahlt werden. Unter diesen Umständen dürfte eine neue Regierung mit noch mehr Schwierigkeiten konfrontiert sein als die gegenwärtige. Zur Zeit kann Tudjman die Renten noch zahlen und Subventionen vergeben. Aber nach den Wahlen wird es sehr schwer sein, weiter diese Altersgelder zu bezahlen, die Gehälter für die Lehrer oder die Ausgaben für das Gesundheitssystem aufzubringen. Daher wird die Situation nach der Wahl sehr schwierig werden, zumal die Kroaten niemals Demokratie gelernt haben. Sie kamen schlicht von einem Ein-Parteien-System in ein anderes.
  Tudjman war in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Partisan.
  Wenn in Paris der Sieg über den Faschismus gefeiert wird, dann geht er dorthin und läßt sich mitfeiern. Gleichzeitig verfolgt seine Polizei die Leute, die in Kroatien den Sieg über den Faschismus auf einem bestimmten Platz in Zagreb feiern wollen. Viele Jahre lang haben wir diesen Sieg auf einem Platz gefeiert, der den Namen trug "Platz der Opfer des Faschismus". Aber 1990, sofort nach der Machtübernahme durch Tudjman, ließ er diesen Namen ändern in "Platz der Großen Kroaten". Heute gibt es seit acht Jahren immer am 9.Mai Demonstrationen mit der Forderung nach Rückbenennung des Platzes. Im letzten Jahr griff die Polizei wieder ein, so daß jetzt der Organisator und andere führende Personen dieser Demonstration einen Prozeß zu erwarten haben - wegen " Erregung öffentlichen Ärgernisses".

Branka Sesto war ehemals Journalistin und lebt in Zagreb. Das Interview führte Winfried Wolf am 17.April 1999 in New York. Branka Sesto diskutierte dort im Rahmen der Socialist Scholars Conference zum Krieg im Kosovo.

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