Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 29.04.1999, Seite 7

Der Krieg an der Heimatfront

Kosovo und BRD

Jeder Krieg, der ungerecht und ohne Gründe geführt wird, zu denen man sich öffentlich bekennen würde, bedarf einer psychologischen Vorbereitung der Bevölkerung der Aggressorstaaten, um deren Einverständnis zu erwirken. Er bedarf innenpolitisch auch einer autoritären Wende, der die oppositionellen Stimmen knebelt. In den angegriffenen Staaten hingegen wird durch den Krieg fast automatisch ein Klima der "nationalen Einheit" erzeugt, der die führende Elite stärkt, ungeachtet ihrer eigenen Verantwortung.
  Die Medien schüren zu diesem Zweck eine systematische Kampagne der Desinformation, in der die Welt in gut und böse eingeteilt wird, damit keine Alternativen zum Krieg sichtbar werden können. Ihr mit Informationen über die wirklichen Ursachen des Kriegs, mit der offenen Diskussion über andere Lösungsmöglichkeiten und der Auffrischung des Gedächtnisses über die historische Rolle und Interessen der kriegführenden Staaten auf dem Balkan gegenüberzutreten ist heute mehr denn je die Aufgabe einer Presse, die sich als Gegenöffentlichkeit versteht.
  Im nachfolgenden Thema bringen wir u.a. einen Artikel aus Italien, der die heutige Kriegspropaganda mit früheren vergleicht.
  Jede Kriegspropaganda führt systematisch zur Dämonisierung des "Feindes". Italienische Sozialisten und eingefleischte Kriegsgegner wurden 1915 zu Anhängern der Intervention der Entente gegen Deutschland, als die Zeitungen berichteten, daß die Deutschen in Belgien den Kindern die Hände abhackten. Am 14.Mai 1915 - zehn Tage vor Italiens Kriegseintritt - veröffentlichten der Corriere della Sera und Il Messaggero an prominenter Stelle einen englischen Bericht über deutsche Greueltaten in Belgien; in epischer Breite wurden grauenhafte Details dargelegt: "Frauen, Jugendlichen und Kindern [würden] die Kehlen durchgeschnitten, häufig unter abstoßenden Umständen, bei denen Bajonetten eine große Rolle spielten". Es gab "gesicherte" Informationen der üblichen anonymen "Augenzeugen" über Fälle, in denen "Frauen die Brüste ausgerissen" oder "ein dreijähriges Kind ans Kreuz geschlagen" worden seien. Eine Kriegshetzerbroschüre mit dem Titel "Belgisches Blut" von einem gewissen Achille De Marco beschrieb mit perverser Phantasie andere schreckliche Verstümmelungen, Vergewaltigungen, die von unerhörten Grausamkeiten begleitet waren, und sogar den Fall von "kleinen Mädchen, denen die Füße abgehackt waren und die gezwungen wurden, zum Zeitvertreib [der deutschen Soldaten] auf ihren Stummelchen zu laufen". Als die genannten Sozialisten nach Kriegsende nach Belgien kamen, stellten sie zu ihrer Verwunderung fest, daß weit und breit keine Kinder mit abgeschnittenen Händen und Füßen zu finden waren.
  Umgekehrt funktionierte die deutsche Kriegspropaganda genauso. Sie wurde angeheizt durch Beschreibungen von Alten, Frauen und Kindern, die alleingebliebene deutsche Soldaten in Belgien in den Hinterhalt gelockt und ihnen dort grausame Verstümmelungen beigebracht hätten. Auf deutschen Zeitungen wurden gräßlich entstellte Gesichter von Soldaten abgebildet, denen - so hieß es - die Augen ausgerissen worden waren. In Wirklichkeit waren es Fotos von Soldaten, die Schrapnell-Bomben zum Opfer gefallen waren - die Vorläufer der heutigen Cluster-Bomben, die die USA ausgiebig in Vietnam, später Israel im Libanon und jetzt die NATO in Jugoslawien einsetzen.
  Nach der Schlacht von Adwa (Nordabessinien, heute Äthiopien), in der von den 9000 eingesetzten italienischen Soldaten 7000 starben, wurden Nachrichten über "schreckliche Verstümmelungen" und "barbarische Grausamkeiten" gegenüber Verwundeten und Kriegsgefangenen in Umlauf gebracht. Die der Regierung nahestehende Presse organisierte eine Propagandakampagne gegen Hilfsaktionen von humanitären Organisationen, um die Friedensverhandlungen zu behindern.
  Der damalige Regierungschef, Francesco Crispi, stellte sich auf die Seite der Presse mit dem Argument, wegen der "Mauer an Barbarei", die sich nunmehr zwischen Italien und dem Feind aufgetan habe, sei es unmöglich geworden, den Kriegsgefangenen zu Hilfe zu kommen. Crispi kam aus den Reihen der republikanischen Linken. Die Kriegshetze, die viele Vertreter der Linken jetzt betreiben, da sie an der Regierung sind, ist also nicht Neues und nichts Ungewöhnliches - das gilt nicht nur für den italienischen Ministerpräsidenten D‘Alema, sondern mehr noch für den aktuellen NATO-Generalsekretär Fernando Solana, der früher in der PSOE einer der Motoren der Anti-NATO-Kampagne war.
  Der wahre Grund für die Herzlosigkeit Crispis gegenüber den verunglückten Soldaten, die die Tragödie dieser Schlacht überlebt hatten, erschloß sich erst nach ihrer Rückkehr in die Heimat: niemand von ihnen war "grausam verstümmelt" worden, viele berichteten ihren Familienangehörigen und Freunden, die "Barbaren" hätten ihnen zu essen gegeben und sie gepflegt. Ein Offizier rühmte sich später in seinen Memoiren, er habe eine Liebesbeziehung zu einer Dame des Hofes von Menelik knüpfen können, wo er mit den Privilegien seines Ranges empfangen worden sei!
  Weniger weit zurück liegen die Erfahrungen aus dem Golfkrieg. Vor, während und nach der Invasion des Irak ergoß sich eine Lawine von Nachrichten über angebliche Greueltaten irakischer Soldaten in Kuwait über Fernsehschirme und Zeitungsseiten. Die Soldateska des "neuen Hitler" hätten die Stromleitungen aus den Brutkästen gerissen und die Neugeborenen damit umgebracht; später wurde bekannt, daß nicht ein einziger Kasten von den Soldaten beschädigt worden war - es waren die "humanitären Bomben" der unter UN-Kommando operierenden Truppen gewesen, die die Stromzufuhr unterbrochen und die Brutkästen damit außer Betrieb gesetzt hatten.
  Es habe Massenvergewaltigungen an kuwaitischen Frauen gegeben; später aber erfuhr man, daß die Mehrzahl der Vergewaltigungen in diesem Krieg an US-Soldatinnen begangen worden war, und zwar von ihren Kameraden.
  Als die Iraker zwei italienische Piloten und eine US-Soldatin gefangennahmen, überschlugen sich die Zeitungen darin, die schlimmsten Mißhandlungen auszumalen. Bei ihrer Rückkehr war das einzige, worüber die Soldaten klagten… der fehlende Zucker im Tee, den man ihnen angeboten hatte. Die US-Soldatin, die angeblich vergewaltigt worden war, berichtete, sie sei mit ausgesuchter Höflichkeit, ja, Galanterie behandelt worden.
  Serienweise wurden Lügen über irakische Greueltaten aufgetischt und auch gezielt auf bestimmte Milieus abgestimmt. Zum Beispiel titelten die Sportzeitungen aller Länder, die an der Aggression beteiligt waren, die gesamte nationale Fußballmannschaft von Kuwait sei erschossen worden. Nach Kriegsende erfuhr man - natürlich nicht auf der ersten Seite - daß nicht ein einziger Fußballer umgekommen war.
  Auch im Zweiten Weltkrieg gab es Lügen über Greueltaten, aber weniger, weil solche tatsächlich von beiden Seiten begangen wurden. Die der Nazis sind in der Regel nicht umstritten, außer von einigen verkappten und ignoranten Faschisten, die sich als "historische Revisionisten" ausgeben; die der italienische Faschisten auf dem Balkan und in Rußland werden selbst von Linken verschwiegen und verdrängt. Selbst der erbarmungslosen alliierten Bombardierung der Zivilbevölkerung von Dresden wird nicht sehr gedacht, obwohl sie ebensoviele Opfer gekostet hat wie die Bomben über Hiroshima.
  Im Zweiten Krieg gab es darüber hinaus ein interessantes Phänomen: Die ersten Nachrichten über die Ausrottung der Juden wurden vielfach nicht geglaubt, teils weil sie nur mit Mühe durchsickerten - alle Staaten, selbst die Zionisten, hatten ein unterschiedliches, aber gemeinsames Interesse daran, sie herunterzuspielen; teils weil diejenigen, die schon im Ersten Weltkrieg getäuscht worden waren, nun glaubten, es handele sich um die übliche Kriegspropaganda.
  Der jetzige Balkankrieg wurde mit derselben Technik vorbereitet, die bereits im Irak getestet worden war - das ist in erster Linie die Einhämmerung der Pflicht, die Opfer vor dem jeweiligen Monster zu retten. 1990 war nicht nur von Kuwaitern die Rede, sondern auch von den armen Kurden, die vor der Gewalt Saddams zu retten wären. Wer damals an diese Kampagne glaubte, der muß sich heute fragen lassen, warum der Diktator noch immer im Sattel sitzt, während in Irakisch-Kurdistan auch dieser Tage türkische Truppen Anhänger der PKK aufstöbern und im Getöse des neuen Kriegs völlig untergegangen ist, daß Anfang April erneut ein Massaker an 70 Kurden verübt wurde.
Antonio Moscato


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