Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 29.04.1999, Seite 12

Wolfsplage in Zentralanatolien

Erdrutschartiger Wahlsieg türkischer Faschisten

Die faschistische türkische "Partei der nationalen Bewegung" (MHP), die in Deutschland vor allem durch ihre gewalttätige Jugendorganisation, die "Grauen Wölfe" bekannt geworden ist, hat mit 18,1% der Stimmen das Rekordergebnis ihrer Geschichte erzielt und wird mit voraussichtlich 130 Sitzen in das am 18.April neu gewählte türkische Parlament einziehen. Bei den vorangegangenen Wahlen, im Jahr 1995, war der MHP der Einzug ins Parlament nicht gelungen. Die Faschisten scheiterten damals an der 10%-Hürde.
  Zwar sind die sogenannten "Linksdemokraten" um Ecevit mit 22,1% der Stimmen und 133 Mandaten als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen, ihre nationalchauvinistische Rhetorik läßt sich jedoch nur schwer von der Rhetorik der MHP unterscheiden. Ähnlich verhält es sich mit den anderen großen konservativen Parteien: der Mutterlandspartei (ANAP) oder der "Partei des rechten Wegs" (DYP), die mit 86 und 85 Sitzen (13,2% und 12,1%) als viert- und fünftstärkste Parteien aus dem Wahlgang hervorgingen.
  Damit erhielten ihre SpitzenkandidatInnen, die ehemaligen MinisterpräsidentInnen Mesut Yilmaz und Tansu Ciller, jetzt die Quittung für ihre erfolglose Regierungszeit, die von Korruptionsskandalen und den Auseinandersetzungen um die Verbindung zwischen Staat und Mafia bestimmt war.
  Zwar war die Mafia nicht nur "der Staat", sondern auch und gerade die MHP, die weite Teile des Verwaltungsapparats durchsetzt hat und obendrein den größten Teil der in staatlichem Auftrag agierenden Todesschwadronen rekrutiert. Für die WählerInnen repräsentiert sie jedoch die einzige in der letzten Legislaturperiode noch nicht verschlissene Alternative.
  Außerdem scheint sich ein beträchtlicher Teil für das glaubwürdigere faschistische Original entschieden zu haben. Während die Demoskopen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ecevit und der islamistischen Tugend-Partei (FP) voraussagten, fiel die in der Nachfolge von Erbakans verbotener Wohlfahrtspartei (RP) kandidierende FP mit 15,2% der Stimmen und 110 Sitzen weit hinter das Ergebnis der RP zurück, die 1995 stärkste Partei geworden war. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, daß die Islamisten ihre Hochburgen in Zentralanatolien an die MHP verloren haben.
  Im zentralanatolischen Hochland lebt eine nationalistisch gesinnte, weitgehend türkische Bevölkerung mit religiös konservativem Weltbild. Als ModernisierungsverliererInnen haben sich viele arbeitslose Jugendliche der dortigen Landbevölkerung in den vergangenen Jahren als "Ülkücü" (Idealisten) den Vereinen der MHP angeschlossen und als Soldaten für den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung anwerben lassen.
  Entsprechend verzeichnet die Region zwischen Tokat und Antalya bzw. zwischen der Provinz Ankara und Kahramanmaras einen besonders hohen Anteil an Familien, die einen oder mehrere Söhne als Soldaten im Krieg verloren haben. Für die Hinterbliebenen ist es wiederum die MHP, die sich um ihre Versorgung kümmert und ihnen Anerkennung zollt. Ein Stimmenwechsel von den mittlerweile kriminalisierten Islamisten zur MHP schien daher für die meisten die richtige Konsequenz aus Weltbild und Alltagserfahrung. In ihren Hochburgen brachte es die MHP somit auf bis zu 55% der Stimmen.
  Doch auch Ecevit kann mit dem Stimmenzuwachs, den ihm - dem zunächst nur vorübergehend eingeplanten Ministerpräsidenten - die Entführung und Verhaftung Abdullah Öcalans eingebracht hat, durchaus zufrieden sein. Die Hochburgen seiner Partei finden sich in den Industrieregionen der Schwarz- und Mittelmeerküsten. Die Partei des Gründervaters der Türkei - die sieglose kemalistisch-sozialdemokratische CHP - ist diesmal zum ersten Mal seit Bestehen der türkischen Republik nicht im Parlament vertreten. Auch ihr Streit mit den Islamisten um das Bürgermeisteramt in Ankara kann nicht über die generelle Niederlage hinwegtäuschen.
  Die islamistische Fazilet-Partei (FP) hat mit hohen Stimmanteilen bei den BinnenmigrantInnen Mehrheiten in den beiden Großstädten Ankara und Istanbul erobert - auch wenn das knappe Wahlergebnis in Ankara von der CHP noch angefochten wird.
  Von den faschistischen Hochburgen Zentralanatoliens weiter in Richtung Osten werden die islamistischen Stimmen immer häufiger. Die Hochburgen der FP liegen in den Provinzen Sivas, Malattya, Elazig und Bitlis. Doch in Kurdistan muß sich die FP die Stimmen mit der prokurdischen HADEP teilen.
  Insbesondere in der Kriegsregion erzielte HADEP mit bis zu 67% der Stimmen einen bedeutenden Wahlsieg. Während die Provinzen Diyarbakir, Bingöl und Van noch mehrheitlich für Fazilet stimmten, und lediglich die Provinzhauptstädte von HADEP regiert werden, erhielt HADEP in Batman und Hakkari sowohl auf Provinz- als auch auf Stadtebene die Mehrzahl der Stimmen. In Sirnak und Igdir reichte es für eine Stimmenmehrheit auf Provinzebene, aber die jeweiligen Provinzhauptstädte werden nicht von HADEP regiert. In Siirt fiel die Provinzmehrheit an DYP, HADEP wird hier den Bürgermeister stellen.
  Zwar schaffte die HADEP mit landesweit 4,7% der Stimmen nicht den Einzug ins Parlament, entsprach mit dieser Bilanz jedoch realistischen Erwartungen und übertraf ihr Ergebnis von 1995 knapp. Dennoch haben die Wahlergebnisse eine grundsätzlich neue Situation geschaffen: Nicht nur in Van bittet die HADEP nun um internationale Unterstützung ihrer kommunalpolitischen Aktivitäten. Auch in Batman wirft der zukünftige HADEP-Bürgermeister Abdullah Akin, in Diyarbakir Feridun Celik, in Bingöl Feyzullah Karaaslan, in Agri Hüseyin Yilmaz, in Hakkari Hüseyin Ümit und in Siirt M. Selim Özal die Frage nach Formen der internationalen Solidarität neu auf.
  Im Vorfeld der Wahlen wurde der Wahlkampf HADEPs im ganzen Land massiv behindert, gestört und unmöglich gemacht. KandidatInnen wurden bedroht und Massenverhaftungen im ganzen Land beeinträchtigten die Arbeit nahezu aller Parteibüros. (vgl. SoZ 8/99) Die WählerInnen in Kurdistan selbst ließen sich jedoch nicht einschüchtern, auch wenn viele mit einer Stimme für HADEP ihr Leben riskierten.
  Im Westen der Türkei allerdings gingen kurdische Flüchtlinge nicht an die Urnen, oder sie wählten andere Parteien.
  Während die Flüchtlinge bei den Wahlen 1995 noch nicht registriert waren, trifft diese Erklärung heute nicht mehr zu. Auch das Sendeverbot für Med-TV, Verbotsanträge gegen die Partei, Behinderungen ihres Wahlkampfs und vereinzelte Stimmfälschungen können das Phänomen nur zu einem kleinen Teil erklären. HADEP muß sich daher durchaus selbstkritisch mit der Frage ihrer realen Verankerung in der Bevölkerung der Elendsviertel beschäftigen.
  Während die Partei im Kriegsgebiet eng mit der Lebensrealität der Menschen verzahnt arbeitet, steht die Bewältigung der sozialen Probleme von Flüchtlingen im Westen des Landes nicht unmittelbar im Brennpunkt der Parteiaktivitäten.
  Die türkische Linke muß sich fragen lassen, warum sie sich hartnäckig weigerte, auf der Liste von HADEP zu kandidieren. Noch im Vorfeld der Wahlen hatten Parteikader für diesen ersten Alleingang vollmundig mit erwarteten 4% der Stimmen geprotzt.
  Die Wahlniederlage der ÖDP erwies sich mit lächerlichen 0,7% jedoch als verheerend, zumal auf der prominenten Liste fast alle namhaften fortschrittlichen Schriftsteller des Landes zur Wahl standen. Parteien wie EMEP und SIP versagten mit nur 0,1% noch kläglicher. Nicht nur der ÖDP-Gründer und Menschenrechtler Akin Birdal schimpft über soviel Selbstüberschätzung. Nach Ansicht von Kreisen, die dem Menschenrechtsverein IHD nahestehen hätte ein Parteienbündnis einen Sogeffekt gehabt.
  Die eigentliche Überraschung der Wahlnacht bleibt jedoch die offene Wahl des Faschismus in der Türkei - der erdrutschartige Sieg der MHP, die ihre Stimmen um mehr als 100 % steigern konnte und über 50% der Stimmen aller ErstwählerInnen erhielt. Sie mußte nicht einmal erklären, welches ihre politischen Ansichten seien. Das Wahlprogramm wurde erst zwei Wochen vor dem Urnengang in Umlauf gebracht. Die Wahlparole, mit der die MHP auf die Straße ging, sagte hingegen alles, was die Menschen wissen wollten: "Türkei - liebe sie, oder verlaß sie".
  Außenpolitisch vertritt die Partei einen antieuropäischen Kurs mit der Vision einer pantürkischen Einheit der sogenannten "Turkvölker". Dies schließt eine strikte Ablehnung der autonomen kurdischen Zone im Nordirak ebenso ein wie die enge Anbindung an den türkisch besetzten Teil Zyperns. Mehr geopolitische Bezugspunkte weist der programmatische Horizont der Partei nicht auf.
  Innenpolitisch schwimmt die Programmatik der MHP eher im nationalchauvinistischen Mainstream. Sicher kann sich MHP stets noch Steigerungsformen antidemokratischer Politik vorstellen und wirbt z.B. offen damit, die Vollstreckung der Todesstrafe gegen den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan durchsetzen zu wollen.
  Nicht einmal die Partei selbst hatte damit gerechnet, die 10%-Hürde zu überschreiten. Vorsorglich hatten DYP, ANAP und auch DSP sichere Listenplätze an MHP-Kandidaten gegeben, damit diese auf jeden Fall im Parlament vertreten seien.
  Auch der im Rahmen des Susurluk-Skandals wegen seiner Beziehungen zum organisierten Verbrechen angeklagte ehemalige Innenminister Mehmet Agar erreichte als "parteiloser" Abgeordneter erneut Mandat und Immunität. Strenggenommen müssen diese Mandate den von der Partei selbst errungenen noch hinzugerechnet werden, so daß die MHP mit real 160 Abgeordneten die stärkste Fraktion des Parlaments sein wird.
  Der Wahlsieg der Faschisten wird die Situation um vieles weiter verschärfen. Die Bürgermeister der HADEP werden es nicht leicht haben, gegen eine mutmaßlich von der nationalchauvininistischen DSP mit den Realfaschisten der MHP unter Beteiligung von ANAP oder DYP geführten Koalition zu überleben. MenschenrechtsaktivistInnen wie Eren Keskin und Akin Birdal sowie die Anwälte um Ahmed Zeki Okcuoglu, Mahmut Sakar, Ercan Kaner und Osman Baydemir, sowie zahlreiche andere werden in Zukunft noch stärker im Fadenkreuz "unbekannter Täter" stehen. "Nun werden wir alle getötet werden, dies ist eine offene Kriegserklärung," heißt es in Kreisen der zivilen Opposition, "sie werden uns alle umbringen, oder - na ja - schlimmere Dinge mit uns anstellen."
  Gespräche einiger männlicher Jugendlicher, die sich am Tag nach der Wahl auf dem Markt über das Ergebnis unterhielten, scheinen die Berechtigung dieser Sorge zu bestätigen: "Scheiß auf die Europäer und die USA, das einzige was zählt, ist nun der Krieg im Osten, nun können wir endlich alle hingehen und sie fertigmachen." Auch andere erklären ihr Wahlverhalten in Fernsehinterviews mit ähnlichen Äußerungen.
  Seit dem Tag nach der Wahl ist die agressive Präsenz der MHP aus den Straßen nicht mehr wegzudenken. Überall stehen Wahlkampfbusse, feiern AnhängerInnen mit dem Wolfsgruß ihren Sieg. Der Wahlsieg der MHP, das offene Votum für die faschistische Partei, schwimmt zwar in Übereinstimmung mit der Rhetorik der übrigen Parteien im Siegesrausch über den entführten PKK-Vorsitzenden. Er stellt jedoch eine Eskalationsstufe dar, die das Land an den Rand des Bürgerkrieges bringen kann.
  Wo bis jetzt Assimilationskolonialismus betrieben werden sollte, ist nun offen von Ausrottung die Rede; wo die türkische Armee gegen die kurdische Bevölkerung kämpfte, kann es nun bald zu einer Variante wie im zerfallenden Ex-Jugoslawien kommen, wo Bevölkerungsgruppen gegeneinander antreten. Die Dialoge auf dem Markt zeigen die Stimmung im Land.
  Knut Rauchfuss
 


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