Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 27.05.1999, Seite 1

Die Zeche zahlen wir

Für kurze Zeit erschien am Pfingstsamstag die Nachricht auf Videotext: Die NATO betrachtet ihre Strategie als gescheitert. Das stimmt vor allem im Hinblick auf das Schicksal der Kosova-Albaner. Über deren Chancen auf eine baldige Rückkehr braucht man sich keine Illusionen zu machen. Ein britischer Offizier äußerte, es werde noch zwei Jahre dauern, bis alle Flüchtlinge zurück könnten. Palästinensische Beobachter fühlen sich in das Jahr 1948 zurückversetzt, als der Staat Israel gegründet wurde. Damals wurden 800.000 Palästinenser vertrieben und in Flüchtlingslagern der UNO verbracht. Dort leben sie heute noch.
  Daß die NATO mit ihren ursprünglichen Zielen gescheitert ist, bedeutet nicht, daß sie bereit wäre, den Krieg zu beenden, im Gegenteil. Schon um das Gesicht zu wahren, darf sie ihn nicht verlieren. Deswegen befürworten die Regierungen in Washington und London mittlerweile offen den Bodenkrieg. Das militärische Ziel hat sich längst verschoben: vom Stopp der Flüchtlingsströme zur Niederlage Milosevics.
  Mit jedem Tag, den dieser Krieg länger dauert, zieht er weitere Kreise, werden die Folgen für die Menschen gravierender. Wenn die Waffen einst schweigen, wird der Krieg die Rahmenbedingungen für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung vollkommen neu abgesteckt haben. Gerade in diesen Tagen werden die Weichen gestellt:
  - Unter dem Vorsitz der BRD hat die Europäische Union für Juni zu einer internationalen Balkankonferenz eingeladen, die "ein System der Zusammenarbeit und gegenseitigen Konsultationen" etablieren soll. Es soll künftig "kriegerische Auseinandersetzungen in der Balkanregion unwahrscheinlich" machen. Die Art der Vorbereitung und der Kreis der Teilnehmenden deuten darauf hin, daß hier der Versuch unternommen wird, die gesamte wirtschaftliche, politische und militärische Entwicklung auf dem Balkan unter die strikte Kontrolle westlicher Institutionen zu stellen.
  Jetzt schon diktiert der Internationale Währungsfonds die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Nachfolgerepubliken Ex-Jugoslawiens. Der vorgesehene "Stabilitätspakt" würde solche Verhältnisse für den gesamten Balkan zur Regel machen.
  Die Errichtung eines NATO-Protektorats in Kosova würde in einem solchen Rahmen international abgesegnet werden und de facto die Anerkennung der Oberhoheit der NATO über den Balkan bedeuten. Dem Inhalt nach íst dies die Herabstufung des Balkan zu einer Halbkolonie.
  - Der Krieg hat mit einem Mal die Bildung einer europäischen Militärunion auf die Tagesordnung gesetzt - gerade weil er hauptsächlich von den USA geführt wird und die EU bisher nicht in der Lage ist, dem ein eigenes Militärpotential entgegenzusetzen. Das soll jetzt ganz schnell nachgeholt werden: Auf dem EU-Gipfel am 3. und 4.Juni in Köln soll die WEU in die EU integriert werden. Der Europäische Rat, ein Treffen der EU-Regierungschefs, soll zum Befehlshaber einer noch zu bildenden europäischen Armee gemacht werden. Die "europäische Identität", deren Fehlen im Zusammenhang mit der Einführung des Euro viele beklagten, wird jetzt mit Blut und Eisen geschmiedet.
  Nach wie vor verweigern die Regierenden die Bildung einer Sozialunion - grenzenlose Freiheit genießt nur die Wirtschaft, bald auch das Militär. Der geplante europäische Beschäftigungspakt bläst zum Angriff auf Flächentarife und Sozialsysteme, die, wie das deutsche, Elemente von Umverteilung enthalten. Was das Kanzleramt unter Leitung von Bodo Hombach für das Bündnis für Arbeit, leistet die EU-Kommission für den Beschäftigungspakt: beide wollen die unteren Löhne um 20 bis 30 Prozent senken, die beitragsfinanzierte soziale Sicherung für die Geringverdienenden abschaffen, die Sozialhilfe massiv senken. Das ist eine offene Kampfansage an die
  Armen!
  Nach dem Krieg winkt dazu eine massive Aufrüstung - es gilt, den technologischen Vorsprung einzuholen, den die USA in der Zeit Reagans und seiner "Sternenkriege" aufgebaut haben. Die Offensive der Rüstungskonzerne und Militärs an der Heimatfront geht dann erst richtig los - dann wird sich die Menschenrechtslüge, mit der Scharping und Fischer die Zustimmung zum Krieg erschlichen haben, als Einfallstor für eine soziale Kampfansage erweisen, deren Dimensionen wir uns noch gar nicht ausmalen können. Das jetzige Haushaltsloch von 35 Milliarden DM wird um die Ausgaben für diesen Krieg und die neuen Waffenbeschaffungen wachsen.
  Das Beispiel Jugoslawien lehrt: Vor dem Krieg mit den Waffen war der Wirtschaftskrieg der reichen Regionen gegen die armen. Nationalismus, rassistische Gewalt und Krieg sind eine Folge dieser Entwicklung. Je mehr sich die Lebensbedingungen in der EU auseinanderentwickeln, desto mehr bedroht dies auch Kernregionen der EU.
  Es ist höchste Zeit aufzuwachen. Ein wachsender Teil unseres Schicksals wird längst auf europäischer Ebene entschieden. Die soziale Bewegung hingegen hat erst mit den Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung vor zwei Jahren begonnen, den Grundstein für eine neue Solidarität von unten zu legen: der Erwerbslosen, abhängig Beschäftigten, MigrantInnen und Flüchtlinge gegen Arbeitslosigkeit, Lohn- und Sozialdumping, Rassismus und Krieg, für Solidarität statt Konkurrenz.
  Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir verstehen es, über die nationalstaatlichen und ethnischen Grenzen hinweg eine europaweite Bewegung von unten mit einer gemeinsamen Perspektive für eine solidarische Gesellschaft aufzubauen. Oder die Völker Europas werden ein drittes Mal gegeneinander gehetzt.
Angela Klein


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