Sozialistische Zeitung |
Für kurze Zeit erschien am Pfingstsamstag die Nachricht auf Videotext: Die NATO betrachtet ihre
Strategie als gescheitert. Das stimmt vor allem im Hinblick auf das Schicksal der Kosova-Albaner. Über deren Chancen auf eine baldige
Rückkehr braucht man sich keine Illusionen zu machen. Ein britischer Offizier äußerte, es werde noch zwei Jahre dauern, bis
alle Flüchtlinge zurück könnten. Palästinensische Beobachter fühlen sich in das Jahr 1948 zurückversetzt,
als der Staat Israel gegründet wurde. Damals wurden 800.000 Palästinenser vertrieben und in Flüchtlingslagern der UNO
verbracht. Dort leben sie heute noch.
Daß die NATO mit ihren ursprünglichen Zielen gescheitert ist, bedeutet nicht, daß sie bereit wäre, den Krieg zu
beenden, im Gegenteil. Schon um das Gesicht zu wahren, darf sie ihn nicht verlieren. Deswegen befürworten die Regierungen in
Washington und London mittlerweile offen den Bodenkrieg. Das militärische Ziel hat sich längst verschoben: vom Stopp der
Flüchtlingsströme zur Niederlage Milosevics.
Mit jedem Tag, den dieser Krieg länger dauert, zieht er weitere Kreise, werden die Folgen für die Menschen gravierender. Wenn
die Waffen einst schweigen, wird der Krieg die Rahmenbedingungen für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung
vollkommen neu abgesteckt haben. Gerade in diesen Tagen werden die Weichen gestellt:
- Unter dem Vorsitz der BRD hat die Europäische Union für Juni zu einer internationalen Balkankonferenz eingeladen, die
"ein System der Zusammenarbeit und gegenseitigen Konsultationen" etablieren soll. Es soll künftig "kriegerische
Auseinandersetzungen in der Balkanregion unwahrscheinlich" machen. Die Art der Vorbereitung und der Kreis der Teilnehmenden deuten
darauf hin, daß hier der Versuch unternommen wird, die gesamte wirtschaftliche, politische und militärische Entwicklung auf dem
Balkan unter die strikte Kontrolle westlicher Institutionen zu stellen.
Jetzt schon diktiert der Internationale Währungsfonds die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Nachfolgerepubliken Ex-Jugoslawiens.
Der vorgesehene "Stabilitätspakt" würde solche Verhältnisse für den gesamten Balkan zur Regel
machen.
Die Errichtung eines NATO-Protektorats in Kosova würde in einem solchen Rahmen international abgesegnet werden und de facto die
Anerkennung der Oberhoheit der NATO über den Balkan bedeuten. Dem Inhalt nach íst dies die Herabstufung des Balkan zu einer
Halbkolonie.
- Der Krieg hat mit einem Mal die Bildung einer europäischen Militärunion auf die Tagesordnung gesetzt - gerade weil er
hauptsächlich von den USA geführt wird und die EU bisher nicht in der Lage ist, dem ein eigenes Militärpotential
entgegenzusetzen. Das soll jetzt ganz schnell nachgeholt werden: Auf dem EU-Gipfel am 3. und 4.Juni in Köln soll die WEU in die EU
integriert werden. Der Europäische Rat, ein Treffen der EU-Regierungschefs, soll zum Befehlshaber einer noch zu bildenden
europäischen Armee gemacht werden. Die "europäische Identität", deren Fehlen im Zusammenhang mit der
Einführung des Euro viele beklagten, wird jetzt mit Blut und Eisen geschmiedet.
Nach wie vor verweigern die Regierenden die Bildung einer Sozialunion - grenzenlose Freiheit genießt nur die Wirtschaft, bald auch das
Militär. Der geplante europäische Beschäftigungspakt bläst zum Angriff auf Flächentarife und Sozialsysteme,
die, wie das deutsche, Elemente von Umverteilung enthalten. Was das Kanzleramt unter Leitung von Bodo Hombach für das
Bündnis für Arbeit, leistet die EU-Kommission für den Beschäftigungspakt: beide wollen die unteren Löhne um
20 bis 30 Prozent senken, die beitragsfinanzierte soziale Sicherung für die Geringverdienenden abschaffen, die Sozialhilfe massiv
senken. Das ist eine offene Kampfansage an die
Armen!
Nach dem Krieg winkt dazu eine massive Aufrüstung - es gilt, den technologischen Vorsprung einzuholen, den die USA in der Zeit
Reagans und seiner "Sternenkriege" aufgebaut haben. Die Offensive der Rüstungskonzerne und Militärs an der
Heimatfront geht dann erst richtig los - dann wird sich die Menschenrechtslüge, mit der Scharping und Fischer die Zustimmung zum Krieg
erschlichen haben, als Einfallstor für eine soziale Kampfansage erweisen, deren Dimensionen wir uns noch gar nicht ausmalen
können. Das jetzige Haushaltsloch von 35 Milliarden DM wird um die Ausgaben für diesen Krieg und die neuen
Waffenbeschaffungen wachsen.
Das Beispiel Jugoslawien lehrt: Vor dem Krieg mit den Waffen war der Wirtschaftskrieg der reichen Regionen gegen die armen.
Nationalismus, rassistische Gewalt und Krieg sind eine Folge dieser Entwicklung. Je mehr sich die Lebensbedingungen in der EU
auseinanderentwickeln, desto mehr bedroht dies auch Kernregionen der EU.
Es ist höchste Zeit aufzuwachen. Ein wachsender Teil unseres Schicksals wird längst auf europäischer Ebene entschieden.
Die soziale Bewegung hingegen hat erst mit den Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte
Beschäftigung und Ausgrenzung vor zwei Jahren begonnen, den Grundstein für eine neue Solidarität von unten zu legen: der
Erwerbslosen, abhängig Beschäftigten, MigrantInnen und Flüchtlinge gegen Arbeitslosigkeit, Lohn- und Sozialdumping,
Rassismus und Krieg, für Solidarität statt Konkurrenz.
Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir verstehen es, über die nationalstaatlichen und ethnischen Grenzen hinweg eine
europaweite Bewegung von unten mit einer gemeinsamen Perspektive für eine solidarische Gesellschaft aufzubauen. Oder die
Völker Europas werden ein drittes Mal gegeneinander gehetzt.
Angela Klein