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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 27.05.1999, Seite 3

Europäische Märsche

Fahrraddemo von Prag nach Köln

Als erstes fallen die leeren und verfallenen Fabrikhallen auf, wenn die Regionalbahn im Bahnhof einfährt: WURZEN. Dabei schnürt ein beklemmendes Gefühl den Magen zusammen und ruft in Erinnerung, in einer "national befreiten Zone"zu sein. Ein Plakat der Fahrradkarawane klebt am Ausgang, das baut auf.
  Mit dem Start der Fahrradkarawane in Prag sollte ein symbolisches Zeichen im Sinne des internationalen Widerstands gesetzt werden. Es war zwar ein kleiner Anfang, aber auch die ersten Sternmärsche der Erwerbslosen 1994 in Frankreich begannen an mehreren Orten erst mit drei bis fünf Leuten, bis sie zur gemeinsamen Demonstration in Paris mehrere Hunderttausend waren. In Prag fand eine Pressekonferenz in den Räumlichkeiten der Kommunistischen Partei statt, bei der die Leute aus Dresden zwei Pressevertretern den Sinn und Anlaß der Karawane erklärten. Dresden war nach Theresienstadt, wo das Konzentrationslager der Nazis besucht wurde, und Decin die dritte Station gewesen. Einige Tage später gab es eine Diskussionsrunde über "Rassismus und soziale Frage" mit einer Vertreterin von Budoucnost, einer sozialistischen Organisation.
  Am Abend des 15.Mai wurde in der Nähe des Leipziger Hauptbahnhofs die Fahrradkarawane von einer Horde Nazis angegriffen. Kurz zuvor noch hatte die Karawane für einige Stunden die national befreite Zone in Wurzen "gesprengt". In Wurzen diskutierte die Karawane auch zum Thema "Globalisierung und Nationalismus". Dabei ging es vor allem darum, sich in der linken Kritik an der Globalisierung klar von den Phrasen der Rechten zur sozialen Frage bzw. Ökonomie abzugrenzen. Sichtlich aufgebaut hatte der kurze Besuch in Wurzen die dortige linke Gruppe, die die Veranstaltung mitorganisierte - allein dafür hätte es sich gelohnt, nach Wurzen zu kommen.
  Es gilt, die heuchlerische Politik zu demaskieren, wenn z.B. bei Angriffen von Nazis auf Asylbewerberheime Politiker auf den damit verbundenen Schaden für den Standort Deutschland verweisen. Dieser Nationalismus unterscheidet sich nur graduell von dem der Rechten und gehört deshalb nicht minder kritisiert. Das EU-Projekt ist und bleibt ein hochgradig rassistisches und nationalistisches Projekt, wie auch das Schengener Abkommen zeigt. Es legitimiert juristisch, daß Flüchtlinge bei dem Versuch, die EU-Grenzen zu überwinden, ums Leben kommen können.
  Auch der am 1.Mai nach den Amsterdamer Verträgen eingeführte europäische Polizeiapparat - EUROPOL - manifestiert die rassistische Alltagspolitik der EU. Europol sammelt die Daten aller in den EU-Mitgliedstaaten registrierten Flüchtlinge, um sie beim zweiten Versuch der Einreise sofort zurückzuschicken. Der Kampf gegen das grausame System der Abschiebung sowie für das Bleiberecht aller Menschen waren die beiden wichtigsten Anliegen der Station in Halle, wo allein 300 Menschen zu einer Demonstration, darunter 200 Flüchtlinge und MigrantInnen, zusammenkamen.
  Die deutsche Regierung steht an der Spitze derjenigen, die Krieg als Mittel zur Lösung ethnischer Konflikte propagieren, um eigene Interessen durchzusetzen. In der Mobilisierung nach Köln darf es deshalb nicht um die Kritik an einem anonymen Machtinstrument gehen. Für die deutsche Linke muß in erster Linie die BRD Ziel der Proteste sein. Angegriffen werden muß die neue deutsche Normalität, die die Verantwortung Deutschlands am Holocaust und am Zweiten Weltkrieg zu verdrängen sucht. Heute wird diese Verantwortung für die Nazi-Verbrechen umgekehrt und als Legitimation für Bombenangriffe und Krieg gegen Jugoslawien benutzt.
  Mit dem Appell an das nationale Gefühl z.B. sucht sich die rot-grüne Bundesregierung die Neue Mitte, die stetig weiter nach rechts abtriftet, weil der nationale Konsens herrschaftsfähig ist. Auch hinsichtlich der EU zeigt sich die deutsche Normalität in der Vorreiterrolle der Außen-, Innen- und Sicherheitspolitik. Die Übernahme deutscher Gesetze in die gesamte EU-Politik zur Abschottung vor Flüchtlingen, zur Menschenhatz an der Grenze und zum Ausbau der Grenzsysteme fanden unter dem damaligen Bundesinnenminister Kanther statt und werden durch die deutsche Ratspräsidentschaft manifestiert.
  Es war vor allem die BRD, die für die restriktiven Vorgaben der Schengener Abkommen verantwortlich war, um damit die Festung Europa unter deutscher Meinungsführerschaft zu errichten. Auf dem EU-Gipfel in Köln sollte unter anderem die EU-Osterweiterung Thema sein. Hierbei wird die Strategie des EU-Projekts deutlich: nur wenn die Bewerberstaaten die rassistische und nationalistische Abschottungspolitik der EU übernehmen, werden sie in die EU aufgenommen. Daß in Tschechien beispielsweise seit Jahrzehnten die Sinti und Roma diskriminiert und mißhandelt werden, ist kein Thema für die EU-Minister.
  Diese Logik setzt sich auch in der Vorbereitung der EXPO 2000 fort, in deren Konzept die Weltbevölkerungspolitik und damit vor allem die Trikont-Staaten Schuld an der globalen Umweltzerstörung tragen. Sie wird nach den Gipfeltreffen im Juni das nächste internationale Großereignis in Deutschland sein. Um den direkten Zusammenhang zwischen dem Widerstand gegen EU und Weltwirtschaft sowie der EXPO 2000 darzustellen, fuhr die Karawane mit etwa 100 anderen Fahrraddemonstranten durch die Messestadt und kleisterte dabei die Innenstadt mit Losungen und Plakaten zu.
  Nachdem die Polizei zwischen Prag und Braunschweig die Fahrraddemonstration beinahe unproblematisch begleitet hatte, kam es bei der Abfahrt aus Braunschweig zu brutalen Einsätzen der Sicherheitskräfte. Es gab zwei vorläufige Festnahmen, weil sich zwei Demosntrationsteilnehmer weigerten, den Radweg zu benutzen. In einem Artikel der Braunschweiger Zeitung hieß es am nächsten Tag "Demonstranten prügelten sich mit Polizisten".
  Mit der Fahrraddemonstration soll direkter Widerstand nicht nur auf einen Tag und einen Ort in Köln beschränkt bleiben, sondern über einen längeren Zeitraum durch den Kontakt zu vielen unterschiedlichen linken politischen Gruppen eine dauerhafte Mobilisierung erreicht werden. In den verschiedenen Städten sollen die regionalen Bezüge zum Widerstand gegen die herrschende Politik verdeutlicht werden. Von Tag zu Tag werden es mehr Leute - bis Köln werden sich weit mehr als 100 angeschlossen haben. 1998 ging die Fahrradkarawane "Geld oder Leben" von Dresden nach Genf, um dort die Freihandelsdoktrin der Welthandelsorganisation sowie das damals stattfindende Gipfeltreffen anzugreifen. Dieses Jahr ist es eine gemeinsame Demonstration mit den Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Ausgrenzung und Rassismus und der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen. Bei so vielen sich in Bewegung befindlichen Projekten ist es nicht verwunderlich, daß sie verwechselt oder als "Friedenskarawane" zusammengefaßt werden.
  Tom Kucharz (Dresden)
 


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