Sozialistische Zeitung |
Spätestens mit der Umsetzung der Maastrichter Verträge in den 80er Jahren hat die
Europäische Union sich vom Image eines "Papiertigers" gelöst. Währungsunion, Europäische Zentralbank
und Stabilitätspakt stehen signifikant für die zunehmende Macht der EU-Administration. In der zweiten Hälfte der 90er haben
vor allem französische Erwerbslosenorganisationen erkannt, daß die soziale Frage untrennbar mit der Politik auf
europäischer Ebene verbunden ist. Die Aktivisten von Agir contre le chomage - AC! ("Gegen Erwerbslosigkeit handeln")
begannen als erste, ihren Widerstand mit dem anderer sozialer Bewegungen in Europa zu verbinden. Mittlerweile ist aus ihrer Initiative das
Netzwerk der "Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung, Rassismus und
Krieg" entstanden.
Eine besondere Bedeutung messen Politiker, Unternehmerverbände, Gewerkschaften und Erwerbslosenorganisationen der deutschen EU-
Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres bei. Mit dem Regierungswechsel in Deutschland im vergangenen Herbst hatte
sich die Sozialdemokratie in Europa durchgesetzt. Nur in Spanien regiert noch eine konservative Partei. Mit dem Rücktritt Oskar
Lafontaines sind gleichzeitig die vagen Hoffnungen auf ein neokeynesianisch reguliertes Europa weitgehend zerstoben. Das mußte auch
der französische Finanzminister Dominique Strauß-Kahn erfahren, der mit seinem Vorschlag für ein europaweit geregeltes
Mindesteinkommen auf dem Treffen der Wirtschafts- und Finanzminister der EU im April in Dresden auf eine Mauer des Schweigens
stieß.
Trotz sozialdemokratischer Dominanz geht die EU-Politik mit Siebenmeilenstiefeln in Richtung Monetarismus und Deregulierung.
Am 3. Und 4.Juni treffen sich in Köln die Regierungschefs zum halbjährlich stattfindenden EU-Gipfel. Nach dem im März
erfolgten Abschluß der Agenda 2000 wollen sie weitere Weichen stellen. Trotz ihrer Verabschiedung darf mit Spannung erwartet
werden, ob der EU-Regierungsgipfel konkrete Beitrittstermine für die Anwärter präsentiert. In der Vergangenheit wurden
Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Lettland mehrmals vertröstet und mußten sich im Idealfall mit einem Schulterklopfen
zufrieden geben.
Auf dem Gipfelprogramm steht die kostspielige Militarisierung der EU und vor allem der europäische Beschäftigungspakt zur
Ausweitung des Billiglohnsektors (siehe auch SoZ 9/99). Die zentralen Punkte sind Senkung der Lohnnebenkosten, Anhebung des Rentenalters
und Abbau von Sozial- und Gesundheitssystemen. Durch Lohndifferenzierungen nach regionalen und branchenspezifischen
Produktivitätsunterschieden will sie den Einfluß der Gewerkschaften weiter zurückgedrängen und kündigt den
verbliebenen flächentariflichen Vertragsmodellen den Kampf an.
Die EU-Politik findet ihre Entsprechung auf nationaler Ebene. Während die Budget-, Preis- und Währungspolitik der EU obliegt,
sind die nationalen Regierungen wie zuvor dafür verantwortlich, "den Klassenkampf in den Griff zu bekommen". Dazu
gehört das heiß debattierte und geplante "Bündnis für Arbeit" in Deutschland. Ein Blick nach Belgien und
Italien verdeutlicht, welche Einschnitte mit den nationalen Sozialpakten im Euro-Land verbunden sind. In Belgien, dem Sorgenkind der EU-
Kommission, haben Unternehmer und Gewerkschaften auf Drängen der Regierung Ende vergangenen Jahres ein interprofessionelles, d.h.
ein sektoren- und gewerkschaftsübergreifendes Abkommen unterzeichnet. Auch in Italien haben sie unter der Schirmherrschaft der
Regierung am 22.Dezember 1998 einen "Weihnachtspakt" abgeschlossen.
Entmachtung der Gewerkschaften
Den Pakten ist gemein, daß sie die Einflußmöglichkeiten der Gewerkschaftsbasis weiter einschränken. Der
traditionelle Druck, der von der aktiven Basis in Betrieben und Branchen auf die Führungen der Gewerkschaftszentralen und
Dachverbände ausgeübt wurde, kann nun nicht mehr zur Geltung kommen. In Belgien hat sogar der vom Europäischen
Gewerkschaftsbund (EGB) als links bezeichnete Dachverband FGTB das interprofessionelle Abkommen mitunterzeichnet, wonach die
Lohnkosten nicht das Lohnnivau Deutschlands, Frankreichs und der Niederlande übersteigen dürfen. Das Abkommen bindet sich
zudem ausdrücklich an die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU. Die Unternehmer müssen für
den Abbau des Arbeitgeberbeitrags zur Sozialversicherung keine Gegenleistung erbringen. Die Führung des FGTB setzte sich kurzerhand
über die Kritik linker Gewerkschaftskreise hinweg, die sich gegen den Abschluß des Abkommens wandten und auf eine
Mobilisierung zugunsten einer radikalen Arbeitszeitverkürzung hingewirkt hatten.
Der italienische Weihnachtspakt unterscheidet sich davon nur unwesentlich. Auch dort haben die Gewerkschaftsdachverbände CGIL,
CISL und UIL auf einen Pakt gesetzt, der unter dem Vorwand der Förderung von Wachstum und Beschäftigung die Kosten der
Arbeit mindert. Dazu gehören Steuersenkungen für die Unternehmer, die nicht einmal mehr an das Versprechen von
Arbeitsplätzen geknüpft werden. Der Sozialpakt schreibt eine Obergrenze für Lohnerhöhungen vor, die durch
Tarifverhandlungen nicht überschritten werden darf. Die Tarifautonomie wird dadurch entscheidend eingeschränkt.
Auch in Deutschland geht es beim Bündnis für Arbeit um eine Entmachtung der Gewerkschaften als Tarifpartei. Sie sollen in eine
von den Unternehmern gewünschte Umverteilungspolitik eingebunden werden: Reduzierung der Unternehmenssteuern, Senkung der
Lohnnebenkosten und Festschreibung von Fragen der tariflichen Einkommensentwicklung. DGB-Chef Dieter Schulte hat keinen Zweifel an
seiner Bereitschaft gelassen, die Tarifpolitik in die Gespräche über ein Bündnis für Arbeit mit einzubeziehen und
damit die Tarifautonomie auszuhebeln.
Gewerkschaftlicher Kotau
Die Führungen der Gewerkschaftsapparate verschließen ihre Augen vor der Unternehmeroffensive in den Betrieben und beteiligen
sich aktiv am Abbau des Wohlfahrtsstaates. Seit den Plänen für die Einführung des Euro sind sie in jedem Mitgliedsland
bemüht, ihre Forderungen in den Grenzen der Konvergenzkriterien zu halten. Mit ihrer Standortpolitik heizen sie die Konkurrenz unter den
Lohnabhängigen der Mitgliedsländer an und haben folglich keine Perspektiven für eigenständige Kampagnen,
Mobilisierungen oder Streiks auf europäischer Ebene entwickelt. Ausnahmen gab es auf betrieblicher und branchenspezifischer Ebene,
z.B. der Eisenbahnerstreik gegen Privatisierungen in mehreren europäischen Ländern im Herbst vergangenen Jahres und der 1997er
Streik in französischen und belgischen Renault-Werken.
Auch wenn der EGB anläßlich des Luxemburger EU-Sondergipfels zur Beschäftigungspolitik im Dezember 1997 mehr als
5000 Funktionäre mobilisierte, kann nichts darüber hinwegtäuschen, daß er sich bestenfalls auf reine Lobbyarbeit
beschränkt. Er ist ein Instrument der nationalen Gewerkschaften und Dachverbände, dessen Generalsekretär Emilio Gabaglio
für ein "europäisches Bündnis für Arbeit" votiert. Er nährt dabei dieselben Illusionen wie seine
nationalen Pendants und übt sich in der Quadratur des Kreises. In seinen jüngsten Ausführungen zum europäischen
Beschäftigungspakt lobt er die günstigen Bedingungen für Investitionen, z.B. Preisstabilität und Niedrigzins, und warnt
gleichzeitig vor Sozialabbau. Sein Vorschlag für mehr Arbeitsplätze: Ein "policy-mix", der "möglichst
kooperativ, spannungsfrei und beschäftigungsfreundlich ausgestaltet" werden soll.
Gabaglio setzt wie viele seiner Kollegen auf den "Dritten Weg". Er wird oft als "Weg zwischen Marktradikalismus und
staatlicher Regulierung" bezeichnet. In der Praxis sprechen sich seine Vertreter dafür aus, die Lohnnebenkosten deutlich senken zu
wollen, aber zugleich dafür zu sorgen, daß die Empfänger der Niedriglöhne nicht zu sehr unter das Existenzminimum
fallen. Eine sehr einfache Sicht der Dinge, die einer gesamtwirtschafltichen Betrachtung nicht Stand hält. Die Einnahmeausfälle in
der Sozialversicherung sollen durch eine Erhöhung der Verbrauchs- und Mehrwertsteuern - Gabaglio wählt die ökologische
Variante: Energie- und Rohstoffsteuern - kompensiert werden. Eine notwendige Maßnahme in der Logik einer kapitalistisch organisierten
Wirtschaft, denn andernfalls würde die konsumwirksame effektive Nachfrage weiter verringert.
Obwohl Frankreich im Reigen der entwickelten kapitalistischen Länder den geringsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad hat (neun
Prozent), gab es dort seit Mitte der 90er Jahre soziale Mobilisierungen, die ein europaweites Echo fanden. Dort ist es zuerst gelungen, die auch
von vielen Gewerkschaften kolportierte Mär von einer "zu hohen Anspruchshaltung an Lohn- und Sozialleistungen" zu kippen.
Erwerbslose und Beschäftigte haben die neoliberale Logik durchbrochen, daß sie selbst die soziale Misere und hohe
Erwerbslosigkeit zu verantworten hätten. Die EuroMärsche sind die europäische Fortsetzung und wollen mit ihren
Forderungen nach radikaler Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust und Flexibilisierung und einem Grundeinkommen auf hohem Niveau
für alle in Europa lebenden Menschen der kapitalistischen Verwertungslogik Paroli bieten.
Gerhard Klas