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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 27.05.1999, Seite 8

Frankreich

Arbeitszeitverlängerung statt -verkürzung

Am 1.Juli 1998 trat in Frankreich das gesetzliche Arsenal in Kraft, mit dem der Übergang zur 35- Stunden-Woche als Regelarbeitszeit in die Wege geleitet werden soll. Damit wird das Herzstück des "Reformprogramms" der amtierenden Linksregierung unter Lionel Jospin umgesetzt, das durch die Koalitionsparteien als wichtiges Instrument zur Zurückdrängung der Arbeitslosigkeit präsentiert wird. Bisher betrug die gesetzliche Wochenarbeitszeit 39 Stunden, die reale Durchschnittsarbeitswoche der Franzosen und Französinnen 41 Stunden 48 Minuten. Bereits nach Bildung der Linksregierung 1981 unter François Mitterrand und Georges Marchais war die Einführung der 35-Stunden-Woche angekündigt, jedoch im Zuge der zunehmenden Probleme der PS-KP-Koalition mit der Macht der wirtschaftlichen Entscheidungsträger alsbald wieder fallengelassen worden.
Das nach der amtierenden sozialdemokratischen Arbeitsministerin "Aubry-Gesetz" getaufte Regelwerk hat zunächst konkret zur Folge, daß seit dem 1.Juli 1998 jedes Unternehmen, in dem die Gewerkschaften mit der Direktion ein Abkommen zur Arbeitszeitverkürzung ausgehandelt haben, Anspruch auf staatliche Unterstützungszahlungen hat. Wenn die Arbeitszeit um mindestens 10% gesenkt und zugleich mindestens 6% neue Arbeitskräfte eingestellt werden, kann das Unternehmen je Beschäftigten bis zu 9000 Francs (2700 DM) jährlich kassieren.
Die Bedingung dafür ist, daß die durch Neueinstellungen erhöhte Beschäftigtenzahl mindestens zwei Jahre lang beibehalten wird. In diesem Falle fließen die Begleitzahlungen fünf Jahre lang. Das Unternehmen ist also nicht daran gehindert, im dritten Jahr Entlassungen vorzunehmen.
Beispielhaft vorgemacht hat dies im Herbst 1998 ausgerechnet ein ehemaliger Gewerkschaftschef. Edmond Maire, der ehemalige Vorsitzende des früher links-undogmatischen, heute sozialliberalen und kapitalfreundlichen Gewerkschaftsbunds CFDT ist seit seinem Ausscheiden aus der CFDT-Führung als Unternehmenschef tätig und derzeit Leiter des von ihm gegründeten Touristikunternehmens VVF. Vor zwei Jahren hat sich Maire den Vorläufer des "Aubry-Gesetzes", das Robien-Gesetz, zu Nutze gemacht.
Dieses von dem bürgerlich-liberalen Politiker Gilles de Robien inspirierte Gesetz sah ebenfalls staatliche Subventionszahlungen für die Dauer von fünf Jahren für Unternehmen vor, die ihre Arbeitszeit verkürzen und Neueinstellungen vornehmen. Der Unterschied zum "Aubry-Gesetz" besteht lediglich darin, daß der Robien-Text einen finanziellen Anreiz auf rein freiwilliger Basis darstellte, während nach dem Aubry-Text die 35-Stunden-Woche immerhin ab dem Jahre 2000 bzw. für die Unternehmen mit höchstens 20 Beschäftigten ab 2002 die gesetzliche Regelarbeitszeit darstellen wird. VVF-Chef Edmond Maire hat 170 Neueinstellungen (das entspricht 10% der Beschäftigtenzahl bei VVF) vorgenommen und kassiert damit fünf Jahre lang staatliche Finanzhilfen. Nach Verstreichen der Zwei-Jahres-Frist entließ er umgehend 140 Angestellte. Die Subventionen hingegen fließen ungebrochen weiter.
Viele abhängig Beschäftigte und ein großer Teil der öffentlichen Meinung hatten zunächst angenommen, die Verabschiedung der Aubry-Gesetzes bedeute, daß nunmehr alle Lohnabhängigen in Zukunft verbindlich 35 Stunden pro Woche und nicht länger arbeiten werden. Doch weit gefehlt. Der Mechanismus, den die Jospin-Regierung mit dem nämlichen Gesetz in Gang gesetzt hat, ist ein anderer.
Gesetz mit Auskehrfunktion
Das Aubry-Gesetz vom 13.Juni 1998 sieht zunächst einmal nichts anderes vor, als daß es Kapital und Arbeit dazu auffordert, in den einzelnen Unternehmen Kompromisse auszuhandeln und Tarifabkommen zu schließen, die den Übergang zu einer verkürzten Arbeitszeit regeln sollen. Daraufhin wird in einer zweiten Phase, die im Sommer 1999 beginnt, im Arbeitsministerium eine Bilanz aus den bis dahin geschlossenen Abkommen in Branchen und Unternehmen gezogen werden. Auf Grundlage dieser Bilanz wird dann ein zweites Gesetz über das Thema der Arbeitszeitverkürzung ausgearbeitet, das sog. "Balai-Gesetz" - "Besengesetz". Dessen Auskehrfunktion besteht darin, in all jenen Betrieben die Bedingungen der Arbeitszeitverkürzung zu regeln, in denen bis dahin keine Abkommensschlüsse erzielt worden sind.
Arbeitsministerin Martine Aubry hat bereits versichert, daß der Inhalt des Balai-Gesetzes sich strikt daran orientieren werde, was als Tendenz in den zuvor geschlossenen Abkommen zwischen Gewerkschaften und Kapitalvertretern enthalten sei. Mit anderen Worten, was sich in den erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen auf Branchen- und Betriebsebene zwischen Kapital und Arbeit als konsensfähig erwiesen hat. Danach erst wird ab 2000 für die größeren Betriebe die 35-Stunden-Woche zur gesetzlichen "Normalarbeitszeit" werden. Für jene Betriebe wie z.B. in der Metallbranche, in denen ein hohes jährliches Überstundenkontingent vereinbart wurde, wird die 35-Stunden-Woche freilich weiterhin ein entfernter Traum bleiben.
Eine wachsende Anzahl der abhängig Beschäftigten scheint zum heutigen Zeitpunkt der Ansicht, daß "Aubry hier eine Höllenmaschine in Gang gesetzt hat, aus deren Mechanismus wir nun nicht mehr herauskommen". In diesem Zusammenhang muß auf die extrem schiefe Ebene verwiesen werden, auf die in den letzten Jahren die Tarifverhandlungen in Frankreich abgerutscht ist. In Frankreich herrscht der "gewerkschaftliche Pluralismus", das heißt unterschiedliche Richtungsgewerkschaften existieren parallel zueinander.
Gemäß dem französischen Arbeitsgesetzbuch kann eine einzige Gewerkschaft, die als "repräsentativ" anerkannt ist, ein rechtsgültiges Abkommen abschließen, das für alle Beschäftigten des Betriebs oder der Branche verbindlich ist. Dies, egal wie minoritär diese Gewerkschaft auch sein mag. Der einzige Rettungsanker gegen beschäftigtenfeindliche Abkommen ist hierbei das "Vetorecht" anderer Gewerkschaften. Dieses aber unterliegt hohen rechtlichen Anforderungen, so daß es in der Praxis fast nie ausgeübt werden kann.
Bis vor einigen Jahren warf dies keine Probleme auf, da nach geltendem Recht das Arbeitsgesetzbuch den obligatorischen Mindeststandard festlegt, und ein tarifliches Abkommen oder ein Tarifvertrag nur Bestimmungen enthalten darf, die für die Beschäftigten "günstiger" als die gesetzlichen sind. Doch in den letzten Jahren hat sich vor dem Hintergrund der Massenarbeitslosigkeit in Rechtsprechung und Praxis eine Tendenz immer stärker Bahn gebrochen, die ein Tarifabkommen auch dann als "günstiger" für die Lohnabhängigen bezeichnet, wenn es für letztere eine Reihe von "Opfern" beinhaltet.
Der "Besitz" eines Arbeitsplatzes stellt demnach einen so zentralen Vorteil dar, daß er eine ganze Reihe von Nachteilen die konkreten Arbeitsbedingungen betreffend mühelos aufwiegt. Zu dieser allgemeinen Schieflage des französischen Tarifverhandlungssystems kommt hinzu, daß eine Reihe von Spezialgesetzen seit einigen Jahren den "Sozialpartnern" die Möglichkeit zuerkennen, Regeln zu beschließen, die auch mit etwas Interpretations-Phanstasie nicht - verglichen mit dem Arbeitsgesetzbuch - als eindeutig "günstiger" für die Beschäftigten gelten können.
Das Aubry-Gesetz gehört zu diesen Spezialgesetzen, da es den "Sozialpartnern" die Möglichkeit eröffnet, alle im Zusammenhang mit der Arbeitszeit, ihrer Einteilung und ihrer Organisation stehenden Regeln neu zu definieren, ohne sich um das bisher vom Gesetz vorgeschriebene "Modell" zu kümmern.
Somit ist es einzelnen Gewerkschaftsorganisationen problemlos möglich, auf der Grundlage des Aubry-Gesetzes Abkommen zu schließen, die den abhängig Beschäftigten eine Reihe von Nachteilen einbringen, aber etwa mit der arbeitsplatzerhaltenden oder -schaffenden Wirkung der Arbeitszeitverkürzung gerechtfertigt werden.
Gegenleistungen für Arbeitsverkürzung
Das Unternehmerlager interessiert vor allem eines brennend: Flexibilität in der Verwendung der Arbeitskräfte je nach Auftragslage und Bedarf des Betriebs. Die Jospin-Regierung hat dies von Anfang an zugesichert. Der sozialdemokratische Premierminister hält demnach "Gegenleistungen" der Lohnabhängigen für die Arbeitszeitverkürzung in Form von niedrigeren Löhnen und anders organisierter Arbeitszeit für zwingend notwendig.
Die Kapitalseite bevorzugt Flexibilität in Form von annualisation. Dieser aus dem Wort année (Jahr) abgeleitete Begriff bezeichnet einen Mechanismus, nach dem die Jahreszeit nicht mehr auf die Länge einer Arbeitswoche berechnet, sondern die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf die Dauer eines Jahres zum Maßstab genommen wird. Je nach Bedarf des Betriebs können sich so für die Beschäftigten Arbeitswochen von 0 und solche mit 48 Stunden Dauer abwechseln, ohne daß die über die Dauer der Regelarbeitszeit von 39 bzw. 35 Stunden hinausgehenden Arbeitsstunden noch als Überstunden angerechnet und als solche nach einem höheren Stundensatz bezahlt würden. Derartige Überlegungen machen derzeit das Rennen. Einer jüngsten Studie des Institut du travail in Straßburg zufolge sehen rund 70% der untersuchten Abkommen sowohl auf regionaler Ebene als auch nationaler Ebene die annualisation der Arbeitszeit vor.
Zusätzlich zur annualisation sind in einer Reihe von Abkommen wie in dem aus der Metallbranche vom Juli 1998 besonders hohe jährliche Überstundenkontingente vereinbart worden. Diese Kombination aus Arbeitswochen mit schwankender Länge und vom Betrieb festzulegenden Überstunden als beliebig verschiebbarer "Pufferzeit" bildet eine sichere Garantie für die Beschäftigten, daß sich die Verkürzung der Arbeitszeit allzu häufig als eine Verlängerung darstellen wird.
In 60 von 175 Branchen sind mittlerweile Branchenabkommen abgeschlossen worden. Auf der Betriebsebene, wo die Branchenabkommen in konkrete Vereinbarungen umgesetzt werden müssen, zieht die Entwicklung erst allmählich nach. Am 5.Mai1999 waren 4076 Abkommen geschlossen, die 1,1 Mio. Lohnabhängige betrafen. Dadurch wurden 43000 Neueinstellungen ermöglicht und 14000 zuvor durch Entlassungspläne bedrohte Arbeitsplätze "gerettet".
Die Jospin-Regierung spricht derzeit von der Möglichkeit 100000 geschaffener bzw. "geretteter" Arbeitsplätze bis zum Jahresende 1999. Der erste parlamentarische Bericht nennt möglicherweise 250000 bis zum Jahresende 2002. Um die ursprünglich von Jospin angekündigten "700000 neu zu schaffender Arbeitsplätze" ist es mittlerweile recht still geworden. Interessant ist, wo in den Betrieben zusätzliche Stellen geschaffen werden.
Dem Wirtschaftsmagazin Challenges zufolge dienen die Aubry-Abkommen den Unternehmen durch rentablere, da flexiblere, Nutzung der Arbeitskräfte dazu, Produktivitätszuwächse zu erzielen. Diese würden zur Eroberung größerer Marktanteile benutzt. Neueinstellungen nähmen die Betriebe vor allem in den Marketing- und Vertriebsabteilungen vor, um expandieren zu können.
Daraus aber lassen sich zwei Schlußfolgerungen ziehen. Zum einen geht im Regelfall der Zuwachs an Marktanteilen für ein Unternehmen auf Kosten der Marktstellung anderer konkurrierender Betriebe. Wenn auf diese Weise in einigen Betrieben, die dank der Flexibilität Produktivitätszuwächse erzielen und expandieren können, neue Stellen geschaffen werden, so wird gesamtgesellschaftlich die Zahl an Arbeitsplätzen nicht größer. Zum anderen wird auch die Arbeitsbelastung der Beschäftigten in anderen Abteilungen, außer den Marketing- und Vertriebssektoren, nicht geringer, da sie trotz nominal kürzerer Arbeitszeiten dasselbe Arbeitsvolumen zu leisten haben.
Erste Proteste
Nach einer Phase der Desillusionierung unter den Beschäftigten über die Effekte des Aubry-Gesetzes stellen sich nunmehr die ersten schärferen Proteste ein. Beispielsweise in der Automobilfabrik Renault, wo durch ein Aubry-Abkommen Arbeitstage bis auf 12 Stunden Länge ausgedehnt werden können und der Samstag als Arbeitstag wiedereingeführt wurde. Die Arbeitszeitverkürzung bei Renault besteht aus zehn zusätzlichen freien Tagen im Jahr, natürlich nur bei niedriger Auslastung des Betriebs.
Die Gewerkschaften CGT und CFDT haben an verschiedenen Firmensitzen von Renault Befragungen der Beschäftigten vorgenommen, an denen jeweils über 50% der Mitarbeiter teilnahmen. Zwischen 80% und 90% zeigten Ablehnung gegenüber dem Abkommen. Die sozialliberale CFDT ist innerlich zerrissen, da sieben von zehn CFDT-Sektionen verschiedener Firmensitze die Unterschrift unter den Text ablehnen und damit nicht im Sinne ihrer Gewerkschaftsführung "modern" und "pragmatisch" sein wollen.
Eine Reihe politischer und sozialer Kräfte mobilisieren derzeit ihre Kräfte, um wenigstens minimale Schutzmöglichkeiten vor einer absoluten Dominanz der Kapitallogik zu erreichen. Selbst in den Reihen der die Regierung dominierenden Sozialistischen Partei (PS) sind kritische Stimmen zu vernehmen. So forderte auf einem wirtschaftspolitischen Kongreß der Partei im November 1998 eine Mehrheit der Anwesenden eine dringende Revision der gesetzlichen Bestimmungen, die es minoritären Gewerkschaften auf nahezu unkontrollierte Weise ermöglichen, für alle Beschäftigten verbindliche Abkommen zu schließen.
Auf dem CFDT-Kongreß im Dezember 1998 machte sich die organisationsinterne Linksopposition für eine breite und alle Berufsgruppen übergreifende Mobilisierung auf der Straße stark, um auf diese Weise jenseits der Unterzeichnung von Tarifabkommen Einfluß auf den Inhalt des "zweiten Gesetzes", des Balai-Gesetzes, nehmen zu können.
Ähnliches wurde auf dem CGT-Kongreß im Februar 1999 in Straßburg andiskutiert. Der bisher der KP nahestehende Gewerkschaftsverband ist derzeit dabei, sich nach dem Scheitern seines realsozialistischen Gesellschaftsmodells und im Zuge seiner "Emanzipation" von der KP eine neue Orientierung und dabei ein betont "pragmatisches" Auftreten zu suchen. So hat auch die CGT eine Reihe von Aubry-Abkommen (8 von 48 Branchenabkommen) unterschrieben. Dennoch ist es sicherlich nicht richtig, daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, der Triumph der Kapitallogik stieße auf keine Widerstände mehr.
Bernhard Schmid, Paris


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