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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 27.05.1999, Seite 10

Sozialabbau im Konsens

Das niederländische "Poldermodell"

Erst pries man uns das "US-amerikanische Jobwunder" an, dann die britischen Verhältnisse - letzteres schon verhaltener, weil die Bedingungen, die dazu geführt hatten, bekannter waren als im Fall der USA: die dramatische Niederlage der britischen Gewerkschaftsbewegung in den 80er Jahren, insbesondere der Bergarbeitergewerkschaft NUM. Ein Jobwunder auf Kosten der Zerschlagung der Gewerkschaften ist bei uns kein Kassenschlager. So suchte man weiter und fand - das niederländische Poldermodell, seit 1982 im Konsensverfahren entwickelt, Unternehmer und Gewerkschaftsführung vereint gegen kämpferische Belegschaften, untere Lohngruppen und EmpfängerInnen von Sozialleistungen. Weniger bekannt ist, daß auch dieses Modell zu einer Zerstörung der Gewerkschaften geführt hat.
Zum "Modell" wurde dieses Verfahren, das seit dem Abkommen von Wassenaar 1982 praktiziert wird, allerdings erst in den 90er Jahren, als die Europäische Union unter das Spardiktat der Maastrichter Verträge geriet und vor allem unter Sozialdemokraten das große Rätselraten darüber begann, wie diese Kriterien erfüllt und dennoch die Arbeitslosigkeit gesenkt werden könne. Pfarrer Simon Zuidema (KDA Beverwijk) sagt denn auch: "Es gibt kein Modell und hat es nie gegeben. In den Niederlanden ist es normal, jedes Jahr im Herbst ein Gespräch zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierung zu arrangieren. In diesem Gespräch werden Verabredungen getroffen, unter anderem für die Tarifverhandlungen."
Im Abkommen von Wassenaar versprachen die Gewerkschaften "eine zurückhaltende Lohnpolitik. Die Regierung versprach eine Steuerreform zur Verbesserung der finanziellen Position der Betriebe und zur Aufrechterhaltung der Kaufkraft. Daneben sollte es eine Reform der Sozialversicherung geben, um die Lohnnebenkosten zu senken. Die Arbeitgeber versprachen ihre Mitarbeit an der Teilung von Arbeit und Ausbildungsprogrammen." Was ist seither geschehen?
1. Im Zeitraum 1982-1994 ist der Anteil der Löhne und Gehälter am nationalen Einkommen um 21% gesunken (im EU-Durchschnitt waren es zur selben Zeit 5%!). Dafür stieg im Zeitraum 1985 bis 1997 (ebenfalls zwölf Jahre) die Zahl der Millionäre von 35000 auf 150000 - um 400%! Die Kluft zwischen arm und reich nimmt immer noch zu. Die Bruttoeinkommen unter 4000 Gulden monatlich sinken stetig, die BezieherInnen des gesetzlichen Mindestlohns erleiden die stärksten Einbußen.
Zwischen 1980 und 1996 ist der Mindestlohn von 65 auf 49% des Durchschnittslohns eines Fabrikarbeiters gesunken. Eine Million Haushalte muß mit dem Mindestlohn auskommen; eine Million mit 120% davon (von ca. 6 Millionen Erwerbstätigen insgesamt). Die Zeitung express (2/99) zitiert ein Mitglied der sozialdemokratisch geführten Regierung mit folgender Bilanz: "Die Menschen mit den niedrigsten Einkommen mußten die meisten Opfer bringen. Die Ärmsten haben nicht profitiert, während das reichste Drittel der Bevölkerung aus der Reform Nutzen ziehen konnte. Für Langzeitarbeitslose, ältere Arbeitnehmer, Minderheitengruppen, schlecht ausgebildete und schlecht qualifizierte Arbeitnehmer hat die Reform keine neuen Perspektiven eröffnet." Die Gewerkschaften haben ihr Versprechen also gehalten.
2. Die Steuerreformen, die seither in die Wege geleitet wurden, haben ausschließlich die finanzielle Position der Betriebe verbessert; Steuererleichterungen für die unteren Einkommen sollen erst jetzt gestartet werden.
3. Das niederländische Sozialsystem, einst vorbildlich, ist in einer Weise reformiert worden, daß kaum noch etwas davon übriggeblieben ist. Die schärfsten Einschnitte kamen Anfang der 90er Jahre: Der damalige Ministerpräsident Wim Kok kürzte das Arbeitslosengeld und "entmachtete die reformunfähigen Sozialpartner bei der Verwaltung der Sozialversicherung" (Die Zeit, 1.10.98). 1993 startete er den "neuen Kurs": die Sozialabgaben der Unternehmer wurden gesenkt - den Preis zahlten Sozialhilfeempfänger und Rentner. Nicht nur die Lohnersatzleistungen, auch die Altersrenten geraten unter Druck; das eigentliche Ziel der Maßnahmen ist es, die Arbeitslosen- und Invalidenversicherung zu privatisieren und die staatliche Einheitsgrundrente AOW auf einen Mindestsatz zurückzufahren. Im Frühjahr 1998 wurden erstmals entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt.
4. "Im Blick auf die Teilung der Arbeit ist sehr viel geschehen", erläutert Simon Zuidema. "Aber nicht bei bestehender Arbeit [sie wurde nicht umverteilt], sondern bei neuer Arbeit. Die neue Arbeit, die nach Entlassungen und Rationalisierungen entstanden ist, ist fast vollständig flexibilisierte Arbeit, d.h. Teilzeitarbeit, Leiharbeit, Kontraktarbeit. Dies ist nur für wenige eine eigene Wahl, meistens gibt es keine andere Wahl."
Die Gewerkschaften haben den Deal gemacht: Arbeitszeitverkürzung (auf 36 Stunden pro Woche) gegen Lohneinbußen. Das Ergebnis: es gibt kaum noch feste Arbeitsverträge. Viele Menschen arbeiten über ein Vermittlungsbüro, das gut an ihnen verdient, aber die Menschen verdienen meist nicht das, was ihnen nach einem normalen Tarifvertrag zustünde. Nach etwas längerer Zeit fehlt ihnen dann einiges an der Rente, am Arbeitslosengeld usw.
Das "Job-Wunder" wird auch von hiesigen Gewerkschaftsführern wie Harald Schartau, Bezirksleiter der IG Metall in NRW, in höchsten Tönen gelobt: Innerhalb von zehn Jahren sei die Arbeitslosenquote in den Niederlanden halbiert worden. Von 6 Millionen Erwerbstätigen seien heute nur noch 330000 arbeitslos gemeldet. Offiziell läge die Arbeitslosenquote damit bei 5,5% (1982 waren es 15%).
Bei Lichte betrachtet erweist sich aber, daß die offene einer versteckten Arbeitslosigkeit Platz gemacht hat, denn gleichzeitig empfangen über 1,6 Millionen Menschen (27%) Sozialleistungen. Offiziell waren im Dezember 1998 nur 336000 Menschen erwerbslos, aber 344000 erhielten Arbeitslosenunterstützung. 857000 bezogen Arbeitsunfähigkeitsrenten (eine Art Frührente, in die viele geflüchtet sind, um aus dem Status der Erwerbslosigkeit herauszukommen), 429000 Sozialhilfe. 114000 stellten sich dem Arbeitsmarkt erst gar nicht mehr zur Verfügung; es gab 22000 ABM-Stellen. Eine immer kleinere Zahl von Menschen hat eine feste Anstellung. Premierminister Wim Kok findet das auch in Ordnung und im Trend der Zeit, denn: "Die Zeit, wo man einen Arbeitsplatz auf Lebenszeit hatte, ist vorläufig vorbei."
Wer heute Arbeit sucht, bekommt "flexible Stellen, die meist ca. drei Jahre dauern werden. danach wird es an der Kreativität und dem Glück des Einzelnen liegen, ob er wieder einen neuen Arbeitsplatz findet". Menschen mit nichtweißer Hautfarbe bleibt der Arbeitsmarkt verschlossen.
Die Folgen dieses "Modells" sind spürbar und sichtbar. Menschen mit geringem Einkommen haben keinerlei Zugang zur Gesundheitsversorgung mehr. Der soziale Wohnungsbau wurde abgeschafft. Eine immer größere Anzahl von Menschen ist gezwungen, auf der Straße zu leben. Insbesondere auf die BezieherInnen von Frührenten wird Druck gemacht; bei ihnen wird die Beweispflicht umgedreht. Können sie ihre Arbeitsuhnfähigkeit nicht nachweisen, werden sie aus der Frührentenversicherung rausgeworfen und zum Sozialamt geschickt. Dort wiederum wird ihnen die Sozialhilfe gestrichen, wenn sie nicht nachweisen, daß sie sich selbst aktiv um einen Erwerb bemühen. Das Resultat ist "neue Armut". Der Bischof von Breda erregte Aufmerksamkeit über die Landesgrenzen hinweg, als er vor zwei Jahren seinen Segen dazu gab, daß "Hungernde Brot stehlen".
Wie konnte das durchgesetzt werden? Die Sozialarbeiterin Kiki Schrier sieht die Ursache dafür in der "Schwäche der holländischen Gewerkschaften. Unsere Gewerkschaften sind seit ihrer Gründung bis vor kurzem in verschiedene Richtungen zersplittert gewesen (katholisch, reformiert, doppelt reformiert, anarchistisch, sozialdemokratisch, kommunistisch). Der Organisationsgrad war mit 26% vergleichsweise niedrig."
Diese Schwäche hat aber auch einen Namen: Wim Kok. Der Premierminister seit 1994 war zuvor schon lange Jahre Vorsitzender der Föderation der niederländischen Gewerkschaften (FNV) gewesen. In dieser Eigenschaft hat er 1979 einen wilden Streik der Hafenarbeiter von Rotterddam gegen eine Tarifvereinbarung, die er mit den Unternehmern im Hafen abgeschlossen hatte, abgewürgt. Die über den Abschluß empörten Hafenarbeitermarschierten damals zur FNV-Transportarbeitergewerkschaft und wollte diese zur Öffnung der Streikkassen zwingen. Wim Kok stellte sich stur und führte den FVN damit auf einen konsequent sozialpartnerschaftlichen Kurs. 1982 war er es, der auf gewerkschaftlicher Seite das Abkommen von Wassenaar aushandelte.
Das Geheimnis des Poldermodells lautet denn auch einem niederländischen Ökonomen zufolge so: "Den herrschenden Eliten ist es gelungen, eine Ökonomie des gegenseitigen Einverständnisses zu installieren, bei der die oppositionelle Rolle der Gewerkschaftsbewegung aufgehoben wurde."
Von 1989 an war Kok Finanzminister in einer Großen Koalition mit den Christdemokraten. In dieser Eigenschaft leitete er einen rigiden Sparkurs ein, kürzte die Renten und senkte die Steuern für die Unternehmer. "Die Basis reagierte mit Wut und Protest. Parteibüros wurden in Brand gesetzt, Zehntausende von Parteibüchern zurückgegeben. Die Gewerkschaften drohten mit Streik. Die Provinzialwahlen gingen verheerend aus ... Kok blieb auch unerschütterlich, als 1994 die Wahl bei Verlusten von über 20 Prozentpunkten für die Koalitionsparteien zu einem einzigen Debakel wurden. Die Sozialdemokraten verloren an die Rechtspopulisten, an Grüne und an neue Rentnerparteien", beschreibt Franz Walter in der Zeit die Reaktionen, nicht ohne Bewunderung für die Standhaftigkeit Koks.
"Auch als Kabinettschef [der Kok trotz Wahldebakel geworden war] spendete Kok dem niederländischen Volk keinen Trost. Er kündigte weitere Lohn- und Rentenkürzungen an. Im übrigen koalierte er jetzt mit den früheren Erzfeinden der Sozialisten, den marktradikalen Rechtsliberalen. Damit hatte er die gesellschaftlichen Träger des niederländischen Bündnisses für Arbeit auch in die politische Entscheidungsstruktur hineinvermittelt. So konzentrierte er Politik und Wirtschaft, während in Deutschland das gewerbliche Bürgertum politisch außen vor ist."
Angela Klein


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