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Nachdem Jelzin das gegen ihn angestrengte Amtsenthebungsverfahren abwenden konnte, hat auch der von ihm
neu ernannte Premierminister Sergej Stepaschin, zuvor Innenminister und Vize des entlassenen Premiers Primakow, die nötige
Unterstützung der Duma erhalten. Für Rußlands Haltung zum Krieg auf dem Balkan kannd as bedeuten, daß die USA
ihrem Ziel, Rußland im UN-Sicherheitsrat ein Ja zur Stationierungf einer NATO-geführten Truppe abzuringen, einen Schritt
näher kommt. Sagt Rußland Ja, so rechnet man in Washington., werde auch China sich nicht mehr verweigern. Die NATO
hätte endlich die völkerrechtliche Billigung des Kriegs erreicht, die ihr bislang fehlt und ihre Position verwundbar macht.
Wer ist Sergej Stepaschin? "47 Jahre alt, Drei-Sterne-General, mit einer Ausbildung als Politkommissar der Roten Armee",
beschreibt ihn der Corriere della Sera (13.5.99). Ende der 80er Jahre, als verschiedene Regionen und Republiken die Unabhängigkeit
forderten, diente er in den Spezialeinheiten des Innenministeriums und war "bei jeder Schweinerei dabei": in Baku, als die Truppe
in die Menge schoß, in Nagorni-Karabach, in Abchasien. Vor allem aber ist er einer der "Falken, die Jelzin anstachelten, den
blutigen Krieg gegen Tschetschenien zu führen".
Damals versicherte Stepaschin, es werde ein rascher, schmerzloser und siegreicher Feldzug werden. Die russischen Truppen besetzten die
Republik und bombardierten Grosny, verstrickten sich jedoch in einen ausweglosen Stellungskrieg, der mehrere zehntausend Menschen,
überwiegend Zivilisten, das Leben kostete. Als die tschetschenische Guerilla 1995 die russische Stadt Budjonnowsk angriff und dabei an
die tausend Geiseln nahm, verlor er seinen Posten als Chef des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB. Er blieb jedoch einer der engsten
Vertrauten Jelzins, der ihm 1997 eine Stelle als Justizminister verschaffte. Jetzt ist er der erste Militär an der Spitze der russischen
Regierung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Während seiner Amtszeit als Innenminster rüstete Stepaschin Polizei und Sondereinsatzkräfte mit schweren Waffen aus, auch
mit Panzern. Er ist "ohne weiteres in der Lage, mit jedem Ereignis fertig zu werden, auch ohne auf die Armee zurückgreifen zu
müssen. Und er ist ein Experte in Ausnahmezuständen", berichtet der Corriere weiter.
Stepaschin ist ein Mann der "Reformer", der Liberalen. Er "vertritt die neue Generation der russischen Politiker; er wird die
politischen und wirtschaftlichen Reformen beschleunigen", erklärt der ehemalige Vizepremier Anatoli Tschubais. Den Wechsel von
Primakow zu Stepaschin begründete Jelzin denn auch hauptsächlich damit, die Reformen seien "zum Stillstand
gekommen".
Primakow, der im Sommer 1998 gegen Jelzins Willen und mit Unterstützung der Duma ins Amt gekommen war, hatte die wirtschaftliche
Situation nach der August-Krise stabilisieren können. Er hatte sich das Ziel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit nach innen und auf
dem Weltmarkt, gleichzeitig aber auch die Staatsintervention in den am stärksten notleidenden Wirtschaftsbereichen zu stärken,
beschreibt der Corriere seine Politik.
Weil ihm die zu einer Industriepolitik notwendigen Mittel fehlten, habe er auf die Folgen der starken Abwertung des Rubel im Sommer 1998
gesetzt, um den internen Markt zu schützen und die einheimische Produktion wieder in Gang zu bringen. Ein Ergebnis sei gewesen,
daß die Produktion wieder gestiegen sei. Der Rubel fiel nicht in den Keller, der Ölpreis zog erneut an - "damit verfügte
der Staat wieder über mehr Einkommen und konnte einen Teil der ausstehenden Löhne und Renten zahlen".
Primakow hatte einige "kommunistische" Minister in sein Kabinett geholt. Diese mußten jetzt gehen; an ihrer Stelle kehren die
Liberalen zurück. Die Verantwortlichen für die Geheimdienste und die Verteidigung bleiben.
Für den Krieg auf dem Balkan könnte diese Entwicklung bedeuten, daß in dem Widerstreit, in dem die Zeit die Moskauer
Führung während der Konferenz in Rambouillet und danach gesehen hat - "einerseits Interessenvertreter Belgrads,
andererseits im vertrauten Kreis der Westfamilie zu sein" -, letztere Option mehr Gewicht bekommt.
Ob das auch bedeutet, daß Moskau Milo?sevi´c dazu bringen kann, daß er der Stationierung einer NATO-geführten
Truppe in Kosova zustimmt, bleibt dahingestellt. In der Frage der Zusammensetzung der Truppe bleibt die NATO unnachgiebig auf dem
Standpunkt, daß sie unter US-amerikanischer Führung stehen muß; selbst ein Modell wie in Bosnien, wo die UN formal das
Oberkommando führt, wird abgelehnt. Aber mit einem von Rußland isolierten Jugoslawien würde die NATO
militärisch leichter fertig.
In dieselbe Richtung einer Einbindung Rußlands in westliche Entscheidungsstrukturen weist auch die internationale Balkankonferenz, die
die EU angeregt hat und die noch im Juni stattfinden soll. Ziel der Konferenz soll nach Angaben des Auswärtigen Amts sein, "ein
System der Zusammenarbeit und gegenseitigen Konsultationen zu etablieren, das künftig kriegerische Auseinandersetzungen in der
Balkan-Region unwahrscheinlich macht. Dazu soll eine südosteruopäische Regionalkonferenz ins Leben gerufen werden, die die
Umsetzung des Paktes steuert und überwacht." (Laut Homepage der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, 21.5.99.)
Interessant ist, wer an der Konferenz teilnehmen soll und wer nicht: Neben den EU-Staaten sind dies alle Balkanstaaten - mit Ausnahme
Jugoslawiens; die ganze Armada der internationalen Organisationen wie UNO, die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR, die OSZE;
natürlich die NATO und die WEU. Mit dabei ist auch die OECD - der Klub der reichsten Industrieländer der Welt. Rußland
und die Türkei sind eingeladen, als kriegführende Nation auch die USA. Aber auch Kanada und Japan sollen mit am Tisch sitzen,
die weder mit diesem Krieg noch mit dem Balkan etwas zu tun haben. China hingegen, das bereits vom Krieg direkt betroffen wurde, bleibt
außen vor.
Damit ist klar, wohin die Reise geht: in Richtung einer gemeinsamen Kontrolle "des Westens" über den Balkan und einer
Absteckung der Claims. Wie kann die Kontrolle aussehen? Auch dafür gibt es ein Vorbild: Bosnien. Hier hat die UNO einen Hohen
Kommissar eingerichtet, gegen dessen Willen die bosnische Regierung nichts ausrichten kann. Der Chef der Zentralbank wird vom IWF
eingesetzt. Und für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung sorgt eine UN/NATO-Truppe. Ausgedehnt auf den gesamten Balkan
bedeutet das die Verwandlung des Balkan in eine Halbkolonie.
Die EU lockt mit der Aussicht, der Stabilitätspakt bedeute "langfristig den Weg in die Integration in euroatlantische Strukturen, vor
allem in die Europäische Union". Eine solche Perspektive würde nicht eine neue, gleichmäßige Entwicklung
für den Balkan schaffen, sondern das weitere soziale und ökonomische Auseinanderdriften seiner Regionen und Völker
befördern.
Angela Klein