Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 27.05.1999, Seite 15

‘En Marche‘

...ein Film von Patrice Spadoni, Frankreich 1998. Der Film wurde am 12.5.99 im Filmhaus Kino Köln in der Reihe "Controlled Demolition" zur Vorbereitung der Proteste gegen den Kölner Doppelgipfel gezeigt.

Dieser Film des französischen Euromarsch-Aktivisten Patrice Spadoni ist eine visuelle Chronologie der ersten Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, prekäre Beschäftigung und soziale Ausgrenzung im April, Mai und Juni 1997. Die große Abschlußdemonstration dieser Märsche in Amsterdam mit 50000 Teilnehmenden kommt nur am Rande vor. So ist dieser Film wirklich "auf dem Marsch" entstanden.
Der Film führt nach Marokko, Spanien, Frankreich, Belgien, Großbritannien und schließlich in die Niederlande. Spanische Anarchosyndikalisten, Aktivisten der französischen Erwerbslosenbewegung AC!, britische GewerkschafterInnen und viele andere sind auf dem Weg nach Amsterdam, um ein Netz des Widerstands gegen das Europa des Kapitals zu schaffen.
Die einzelnen Orte des Protests werden direkt miteinander verbunden, indem sie sich von Ort zu Ort fortbewegen. So wächst der Zug kontinuierlich an, denn überall schließen sich Aktive an. Spadoni zeigt den Aufbruch derer, deren Stimme in Europa bisher nicht gehört wurde: der Erwerbslosen, der ungeschützt Beschäftigten, der Flüchtlinge und der illegalen MigrantInnen.
Die eigentlich neue Qualität der Euromärsche besteht darin, daß in EU-Europa endlich der Ansatz für eine breite soziale Bewegung entsteht, die die Aussicht bietet, der unsozialen, unökologischen und rassistischen Politik der EU ein echtes Gegengewicht entgegen zu setzen. Die Forderungen der europäischen Märsche enthalten aber noch viele Bezüge auf klassische sozialdemokratische und Gewerkschaftspolitik, so daß die Gefahr besteht, dem "schlechten" Neoliberalismus einen "guten" Keynesianismus entgegen zu setzen. So bleibt die Frage offen, wie und ob sich aus dem Euromarsch eine emanzipatorische, antikapitalistische Bewegung entwickeln kann. Auch die Existenzgeldforderung enthält wenig Kapitalismuskritik und viel Glaube an die radikale Umverteilung durch einen starken Sozialstaat.
Doch aller Bedenken zum Trotz ist der Aufbau einer sozialen Gegenmacht gegen das Europa des Kapitals unbedingt positiv zu bewerten. Forderungen und Perspektiven können sich im Laufe der Entwicklung einer sozialen Bewegung verändern, differenzieren und auch radikalisieren. Positive Ansätze zu einer Weiterentwicklung sind die Beteiligung der Interkontinentalen Karawane (ICC) und eines europäischen Antifa-Netzwerks an der Demonstration am 29.Mai in Köln. Die Interkontinentale Karawane wird von dem weltweiten Netzwerk PGA (Peoples‘ Global Action) veranstaltet und führt AktivistInnen von indischen und brasilianischen Kleinbauern- und Landlosenbewegungen auf eine Tour durch Westeuropa.
Auch im Aufruf der Europäischen Märsche zur Demonstration am 29.5. nach Köln wird positiv auf die Globalisierung der Kämpfe Bezug genommen, so daß eine Vernetzung europäischer und außereuropäischer sozialer Kämpfe in Zukunft wahrscheinlich ist. Die Mobilisierung zu einem europäischen antifaschistischen Block auf der Demonstration am 29.Mai wurde von der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AABO) initiiert und stellt angesichts des Erstarkens und der Vernetzung faschistischer Bewegungen in Europa und angesichts der rassistischen Praktiken der europäischen Regierungen ein weiteres wichtiges Element in der Bewegung gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung dar.
Je mehr soziale, antirassistische und antifaschistische Initiativen miteinander kooperieren und je größer die soziale Bewegung weltweit wird, desto besser sind die Voraussetzungen für die Entwicklung einer emanzipatorischen und letztlich revolutionären Perspektive.
Andreas Bodden


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