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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 10.06.1999, Seite 9

Neue Füße für den Euromarsch

Die "Vorhut der sozialen Bewegung für ein anderes Europa" nannte Karel Gacoms, Streikführer bei Renault Vilvoorde 1997, die Erwerbslosen, die am Freitag nachmittag in Köln von ihren Märschen aus Brüssel, Prag und Süddeutschland eingetroffen waren, um am nächsten Tag mit Gewerkschaftern, Flüchtlingen und MigrantInnen, Vertretern der kurdischen Befreiungsbewegung, Antifas und politischen Organisationen zur zweiten großen europäischen Demonstration gegen Erwerbslosigkeit, Ausgrenzung, Rassismus und Krieg zusammenzukommen.

Vorhut der sozialen Bewegung, das sind die Erwerbslosen immer noch - obwohl ihre Bewegung zurückgegangen ist, einerseits weil die sozialdemokratischen Regierungen neue Passivität hervorbringen, andererseits weil das Antriebsmoment der Märsche: "Wir wollen eine neue Welt schaffen", bislang nur zögerlich von anderen sozialen Bewegungen aufgegriffen wurde. Noch ist niemand da, der die Erwerbslosen beerbt in ihrer Funktion als Katalysator des sozialen Protests. Den politischen Parteien fehlt die Glaubwürdigkeit, die Gewerkschaften wollen in ihrer Mehrzahl nicht, und die Gewerkschaftslinke, die anfängt, ein Verständnis für die europäische Dimension des Handelns zu entwickeln, stößt an allen Ecken und Enden auf die Borniertheit und Hindernisse, die ihnen der gewerkschaftliche Apparat in den Weg stellt. Antirassistische Initiativen wie Feministinnen nutzen den Windschatten der europäischen Mobilisierung, um sich selber zu vernetzen und eigene europaweite Aktionen zu planen; ein europäisches Treffen der Antifa kam, obwohl gewollt, nicht zustande. Die kurdische Befreiungsbewegung hat sich zum erstenmal in den Kontext einer sozialen und europäischen Demonstration gestellt - man kann nur hoffen, daß der Eindruck bleibend war und Appetit auf mehr geschaffen hat.
Ein Volksfest zur Verteidigung der Menschenrechte nannte ein afrikanischer Asylbewerber aus Jena, Teilnehmer an der Fahrraddemo aus Prag, die Demonstration am 29.Mai. In ihrer Fröhlichkeit, Buntheit und Lautstärke war es eine Demonstration, wie es sie in Deutschland noch nicht gegeben hat. Der Mobilisierungserfolg von Amsterdam konnte wiederholt werden. Mit 30.000 Teilnehmenden wurde dieselbe Größenordnung erreicht wie vor zwei Jahren (die Amsterdamer Demo zählte nach Angaben der Organisatoren 35.000 Teilnehmende, es war die Polizei, die damals von 50.000 sprach).
Die Zahlen verbergen jedoch Verschiebungen: Die Beteiligung der Erwerbslosen hat abgenommen, das schlug sich auch in der halbierten Zahl der Marschierenden nieder. In Amsterdam waren 600 zusammengekommen, in Köln über 300. Die gewerkschaftliche Präsenz war geringer als die Unterstützung für den Gewerkschafteraufruf hatte vermuten lassen. Aus der BRD war nur die NGG zu sehen - und eine einsame ÖTV-Fahne; die Beteiligung aus Griechenland und Italien wurde durch den Krieg stark behindert. Die Griechen hatten ursprünglich vor, mit einem ganzen Zug bzw. mehreren Bussen zu kommen; wegen des Krieges schmolz die Delegation auf 120 zusammen. In Italien fand am selben Wochenende eine nationale Antikriegsdemonstration statt. Die "sozialen Zentren" (Autonome) kamen deshalb nicht und mobilisierten statt dessen nach Bari.
Aus England fehlten die Liverpooler Dockers; in Spanien ist die Mobilisierung über die anarchosyndikalistische CGT nicht hinausgekommen; Portugal und Norwegen fehlten ganz. Dafür gab es in der schwedischen Delegation auch eine finnische Beteiligung, der zum Abschluß der Demonstration die Stafette übergeben wurde - der nächste EU-Gipfel findet in Finnland statt.
Doch es gab andere Gesichter, die in Amsterdam nicht dabeigewesen waren: die Flüchtlinge, darunter zahlreiche Afrikaner und Kurden; die Antifas; der kurdische Widerstand; eine kleine polnische Delegation; eine Gruppe Russen; die indischen Landarbeiter, die die Interkontinentale Karawane bildeten. Sie belegten eindrücklich, daß das "andere Europa", das die Euromärsche im Sinn haben, sich nicht auf die Grenzen der EU und auch nicht auf die geografischen Grenzen Europas beschränkt. Hier bildet sich ein politischer Europabegriff heraus, der sich mit den Grenzen der EU und des Schengener Abkommens nicht deckt.
Die Größenordnung der Mobilisierung konnte gehalten werden, weil die Euromärsche ihrer Grundidee treu geblieben sind: Sie verstehen sich nicht nur als Bewegung der Erwerbslosen, sondern als breite, europaweite soziale Bewegung gegen Erwerbslosigkeit mit all ihren Begleitumständen und Folgen. Deswegen haben sie auf der Kölner Konferenz im Januar den Begriff der Ausgrenzung präzisiert und um die rassistische Ausgrenzung erweitert; dies machte es möglich, daß die Fahrradkarawane aus Prag von den Euromärschen, der Karawane der Flüchtlinge und MigrantInnen und der Karawane Geld oder Leben gemeinsam durchgeführt wurde.
Die Märsche haben im April auf den Krieg mit einer Erklärung reagiert, in der sie den Zusammenhang zwischen Armut, Ausgrenzung und Krieg herstellen und den Willen der Märsche betonen, konkrete Schritte für eine Vernetzung und Kommunikation der Völker untereinander auch auf dem Balkan zu unternehmen. Frei von Reibungsmomenten war diese Ausweitung nicht; vor allem die Losung "Nein zum Krieg" stieß bei einigen TeilnehmerInnen aus Frankreich auf Ablehnung. Hier steht einer der Erwerbslosenverbände (MNCP) den Grünen nah, und die Grünen in der französischen Regierung gehören zu den ärgsten Kriegstreibern.
Die gewonnene soziale Breite hat auch dazu geführt, daß Märsche, Demonstration und Gegengipfel, die in Amsterdam noch getrennt liefen, diesmal unter dem gemeinsamen Dach der Märsche, der Studierenden und der politischen Jugendorganisationen durchgeführt wurden. Auf dem Abschlußplenum des Alternativgipfels trugen verschiedene Netzwerke die Ergebnisse ihrer Arbeit und ihre weiteren Projekte vor: die Euromärsche, "Kein Mensch ist illegal", die Studierenden, die Frauen. Leider fehlte der Chemiekreis, der ein sehr erfolgreiches eintägiges Forum mit internationaler Beteiligung bestritten hat, leider auch die Antifas, deren europäisches Treffen wie gesagt nicht zustandegekommen war.
Auch der Alternativgipfel hatte eine neue Qualität , und es tat keinen Abbruch, daß die Beteiligung daran mit 400 Leuten nur halb so stark war wie in Amsterdam. Er wurde von den sozialen Bewegungen, die nach Köln mobilisiert haben, als Forum für ihren Dialog und die weitere Planung ihrer Arbeit genutzt. Damit legte er die Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit, die weit über die Euromärsche hinausgeht.
Schließlich haben zum Gelingen des ganzen wesentlich auch solche Initiativen beigetragen, die für Essen, Schlafen und Diskutieren die Infrastruktur stellten: die Naturfreunde mit dem Zeltlager, das nach anfänglichen Schwierigkeiten ein voller Erfolg wurde; das Bürgerzentrum Alte Feuerwache mit einem höchst angenehmen Rahmen für alternatives Zusammenleben; das Kollektiv Rampenplan mit einer wohlschmeckenden Essensversorgung.
Zusammengenommen kann man sagen: Die europäische soziale Bewegung ist keine Eintagsfliege geblieben; sie hat ihre Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis gestellt, sie hat sich ausgeweitet, sie hat die Zusammenarbeit verschiedener Netze befördert.
Dennoch sind die Euromärsche mit dieser Mobilisierung an Grenzen gestoßen. Das spontane Engagement freiwilliger Kräfte reicht nicht mehr, um die vielfältigen Aufgaben zu bewältigen. Die personellen und finanziellen Mittel sind zu gering; und weil die Bewegung sich derzeit nicht spontan ausweitet, kommen auch nicht von selbst neue Kräfte hinzu. Jeder Schritt des Zusammenwachsens auf europäischer Ebene bedarf eines erheblichen Einsatzes; wo dieser wegen Überforderung fehlte, wurden gravierende Mängel sichtbar:
- Erstens auf den Märschen selbst: Deren Empfang durch örtliche Arbeitslosen- und Wohnungslosenkollektive ließ erheblich zu wünschen übrig. Die Märsche gerieten eher zu einer Demonstration als zu einem Instrument der Kontaktaufnahme mit Gruppen vor Ort. Damit wurde ein wichtiges politisches Ziel der Märsche verfehlt (abgesehen von infrastrukturellen Problemen, die durch verstärkte Zusammenarbeit mit Strukturen vor Ort leichter hätten gelöst werden können). Eine Ausnahme bildete Lüttich, wo die örtliche Arbeitslosenorganisation eine Arbeitsamtsbesetzung durchführte, die von dem Marsch aus Brüssel unterstützt wurde. Die Folge waren Probleme im Zusammenleben und in der Versorgung der Marschierenden sowie Spannungen und Gereiztheiten unter ihnen.
- Zweitens auf der Demonstration: das Verhalten der Polizei, die sich vorgenommen hatte, ihr Mütchen an einer bestimmten, vorher auserkorenen Gruppe zu kühlen, hätte eine Reaktion der gesamten Demonstration erforderlich gemacht, die jedoch in Ermangelung einer internationalen Demonstrationsleitung nicht möglich war. An solchen Fragen zeigt sich, welche Herausforderung es bedeutet, zu europaweiter Handlungsfähigkeit zusammenzuwachsen.
- Drittens auf dem Erwerbslosenparlament: obwohl es eine völlig neue Form der Zusammenarbeit darstellt, hat man sich im Vorfeld darüber nicht genügend Gedanken gemacht und eine eher traditionelle Veranstaltung mit vorher ausgesuchten Redebeiträgen durchgeführt. Erst der massive Protest der Erwerbslosen an seinem Verlauf verdeutlichte, welches Potential in der Idee eines solchen Parlaments steckt: europaweit eine ständige Vertretung der Erwerbslosen zu schaffen, die Aktionen wie Inhalte diskutiert. Sofort trat die Frage nach ihrer Zusammensetzung und Legitimation auf; dies war im Vorfeld von den Gruppen nicht diskutiert worden, mußte folglich auch in Köln unbeantwortet bleiben. Aber der Anstoß wurde gegeben. Das ist fast ein wichtigeres Ergebnis als die ansonsten gefaßten Beschlüsse.
Die inhaltliche Debatte des Erwerbslosenparlaments ist über die Brüsseler Erklärung nicht hinausgekommen. Ein Teil hat versucht, europaweit einheitliche Beträge für Arbeitszeit und Mindesteinkommen aufzustellen - stieß dabei aber auf heftigen Widerstand von anderen. So bleibt die Frage offen, ob dies der beste Weg ist, die Lebensstandards in Europa zu vereinheitlichen.
Die Debatte über die Niedriglohnpolitik und die Herausforderung, die sie für Erwerbslose und Gewerkschaften bedeutet, steckt hingegen noch in den Anfängen. Sie mag sich konkretisieren, wenn im Dezember anläßlich des EU-Gipfels in Finnland der beschlossene europaweite Aktionstag gegen Billiglohn und Zwangsarbeit durchgeführt wird.
Zusammen mit allen Kräften, die an dieser Mobilisierung mitgewirkt haben, werden die Märsche diskutieren müssen, wie sie die genannten Mängel überwinden können, vor allem im Hinblick auf die nächste europäische Großaktion, die im Winterhalbjahr 2000 in Frankreich stattfinden soll:
- wie wir die Zusammenarbeit mit anderen Netzwerken und Kräften intensivieren und ausbauen können;
- wie wir unsere Arbeit auf neue Füße stellen und die dafür notwendigen Mittel auftreiben können;
- wie wir die europäische Koordination der Märsche zu einem internationalen Organisationszentrum ausbauen können.
Angela Klein


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