Sozialistische Zeitung |
Was ist der Sinn und Zweck des europäischen Erwerbslosenparlaments?
Ein wichtiger Punkt ist, daß verschiedene Erwerbslose und prekär Beschäftigte aus den verschiedenen Ländern
zusammenkommen und über ihre Situation berichten. Ein weiterer ist der Beginn einer Vernetzung dieser Initiativen in Europa. Vor zwei
Jahren ist in Amsterdam der Anfang gemacht worden: die Erwerbslosigkeit im Kontext der europäischen Einigung zu diskutieren, eigene
Positionen zu erarbeiten und Forderungen aufzustellen. Bei der Vernetzung der Erwerbsloseninitiativen geht es vor allem um ein garantiertes
Mindesteinkommen, daß wir in Europa durchsetzen wollen.
Die Lebensbedingungen für Erwerbslose und prekär Beschäftigte sind in den einzelnen EU-Mitgliedsländern
sehr unterschiedlich. Gibt es nach den ersten Erfahrungsberichten Anzeichen, daß durch den europäischen Einigungsprozess die
Bedingungen auf einem niedrigen Niveau angeglichen werden?
In vielen Mitgliedstaaten ist derzeit ein Trend hin zu mehr Billigjobs zu registrieren, vor allem im Dienstleistungsbereich. Die EU propagiert ja
unablässig, mehr Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Das sind jedoch keine herkömmlichen Vollzeitarbeitsplätze,
sondern vor allem welche im Niedriglohnbereich. Das wollen die Politiker in der EU als Wohltat für die Erwerbslosen verkaufen. In
vielen Ländern werden heute vom Staat subventionierte Niedriglohnarbeitsplätze angeboten. Dabei handelt es sich durchweg um
"minderwertige Arbeit". Die Mitgliedstaaten orientieren sich nicht an sinnvollen Bedarfsfeldern für neue Arbeitsplätze,
wie etwa im ökologischen Bereich. "Non-profit-jobs" erfahren so gut wie keine Förderung.
Beteiligen sich am Erwerbslosenparlament hauptsächlich unabhängige oder gewerkschaflich orientierte
Gruppen?
Das ist im Einzelfall manchmal schwer auseinanderzuhalten. Die französischen Erwerbslosengruppen um AC! (Agir ensemble contre le
chomage! - Gemeinsam gegen Erwerbslosigkeit handeln) entwickeln eigene Positionen, arbeiten aber mit Gewerkschaften zusammen. Aus der
Bundesrepublik sind sowohl Vertreter unabhäniger Erwerbsloseninitiativen als auch der ostdeutsche Arbeitslosenverband und die
Arbeitsloseninitiative aus Thüringen mit dabei.
Welche Hoffnung verbindet die ALSO mit einer europäischen Vernetzung im Rahmen der EuroMärsche?
Zunächst einmal finden wir es wichtig, daß es überhaupt einen Informationsaustausch gibt. Mit wenigen Ausnahmen ist die
Erwerbslosenbewegung in den EU-Mitgliedsländern relativ schwach und hat keine Lobby, auch kaum bei den Gewerkschaften. Sie sind
also ziemlich auf sich allein gestellt. Allein deshalb gibt es die Notwendigkeit, enger zusammen zu arbeiten, um auch im Sinne der
Erwerbslosen ein ökologischeres und sozialeres Europa zu entwickeln. Insbesondere müssen wir uns in Zukunft mit dem geplanten
EU-Beschäftigungspakt auseinandersetzen und den entsprechenden Initiativen auf nationaler Ebene, wie z.B. dem sog. Bündnis
für Arbeit. Dabei geht es um die eingangs erwähnten Billigjobmodelle, denen wir uns konsequent entgegen stellen
müssen.
In der Bundesrepublik haben erstmals auch zwei Gewerkschaftsvorstände zu den EuroMärschen aufgerufen. Was hält die
ALSO von dieser Entwicklung?
Wir haben uns gefreut, daß so viele von der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) da waren. Einige
Gewerkschafter der IG BAU habe ich auch gesehen. Allerdings habe ich die großen Gewerkschaften auf der Demonstration am
vergangenen Samstag vermißt. Ihre Vorstände befinden sich unter Zugzwang: sie wollen im Bündnis für Arbeit
mitmachen und auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze vorweisen können. Das machen sie jedoch völlig unabhängig
von den Betroffenen selbst, den Erwerbslosen, mit denen sie kaum Gespräche führen. Dann müßten sie sich auch mit
der Art der Arbeit, die sie schaffen wollen, auseinandersetzen.
In der Erwerbslosenbewegung wird zur Zeit der Begriff der Arbeit diskutiert, der nicht nur die Lohnarbeit, sondern auch die
Nichterwerbsarbeit mitberücksichtigt. Wenn es um die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums geht, muß ein erweiterter
Arbeitbegriff her, der etwa auch die bisher unentlohnte Arbeit vieler Frauen mitberücksichtigt. Die Gewerkschaften scheuen sich
außerdem vor der Debatte um Grundsicherung oder Existenzgeld.