Sozialistische Zeitung |
In mehreren Ländern Europas versuchen AktivistInnen und Parteien die Wahlen zum Europäischen Parlament (Juni 1999)
auszunutzen, um den Widerstand und die Revolte der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Erwerbslosen und der Jugend gegen das System der
Arbeitslosigkeit, der Unternehmerwillkür, der sozialen Ungleichheit und des Krieges Ausdruck zu verleihen.
Unter diesen Listen mit einem antikapitalistischen Programm führt insbesondere die in Frankreich von den beiden revolutionären
Organisationen Lutte Ouvrière (LO) und
Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) (französische Sektion der IV.Internationale) gebildete eine Kampagne, die hoffen
läßt und auch international schon auf Resonanz gestoßen ist. Ein Erfolg dieser Liste könnte dabei helfen, die gesamte
Kampfkraft der sozialen Bewegungen und aller radikalen politischen Strömungen in einer neuen Partei zu bündeln: eine Partei, die
in ihrem Programm antikapitalistisch und internationalistisch ist und in ihrer Funktionsweise demokratisch.
Das folgende Interview mit Alain Krivine, Sprecher der LCR und auf Platz 2 der Liste LO-LCR (Spitzenkandidatin ist Arlette Laguiller, die
Sprecherin von LO), erschien im März 1999 in der Zeitschrift "International Viewpoint".
Worum geht es der Liste LO-LCR bei den Europawahlen?
Alain Krivine: Wir wollen auf der Ebene der Wahlen eine Meinungsströmung sichtbar machen, die bereits in Frankreich auf sozialer
Ebene präsent ist und sich gegen die rechten Parteien, gegen die extreme Rechte und auch gegen die Politik der Regierung der
"pluralen Linken" wendet.
Diese Strömung ist seit 1995 auch in den sozialen Kämpfen präsent. Doch auf politischer Ebene war sie bisher marginal -
abgesehen von dem beachtlichen Ergebnis, das Arlette Laguiller bei den letzten Präsidentschaftswahlen erzielt hatte, und den guten
Resultaten für unsere beiden Organisationen bei den Regionalwahlen im Frühjahr 1998.
Meinungsumfragen sagen für eure Liste bis zu 8% voraus. Ist das realistisch?
Da muß man vorsichtig sein. Die einzig wichtige Frage ist, ob wir die 5%-Hürde schaffen, das Minimum, um überhaupt Sitze
im Europaparlament zu kriegen. Zum ersten Mal scheint die Stimmabgabe für die extreme Linke nützlich und glaubwürdig
und nicht bloß eine Protestwahl. Wenn wir über 5% kommen, ist das ein wirkliches Ereignis, in Frankreich wie auf
europäischer Ebene.
Links von der etablierten Linken wird es endlich eine glaubwürdige Kraft geben, die jede bürgerliche und neoliberale Politik, wie
sie derzeit in ganz Europa - von "linken" wie rechten Regierungen - betrieben wird, ablehnt. Ein gutes Ergebnis wird auch eine
Warnung an die Unternehmer und an die Regierung der "pluralen Linken" sein. Ihre Gefolgschaft gegenüber den Gesetzen und
der Logik des Marktes wird sie einiges kosten.
Robert Hue, der Führer der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), sagt, die Liste LO-LCR wolle seine Partei
schwächen.
Unsere Kampagne zielt nicht gegen die PCF als solche. Grundlegendes Ziel unserer Liste ist die Organisierung einer Front all jener, die
wirklich bereit sind gegen die Rechte und extreme Rechte - unsere Hauptfeinde - Widerstand zu leisten.
Wir sind verpflichtet, uns gegen die Politik der Regierung der "pluralen Linken" zu wenden, an der die PCF beteiligt ist. Diese
Regierung weigert sich, auf die Angriffe der Unternehmer zu antworten. Im Gegenteil, sie begleitet sie. Die Führung der PCF ist an der
Regierung beteiligt, doch die Basis der Partei ist oft mit uns zusammen Teil der sozialen Mobilisierungen gegen diese Politik. Dieser
Balanceakt geht auf Dauer nicht gut. Daher steckt die PCF in einer Krise. Viele Wähler oder frühere Wähler der PCF
fühlen sich von der Politik von LO und LCR eher angezogen als durch die Politik Robert Hues. Um so besser!
LO und LCR sind keine neuen Parteien. Warum ist diese gemeinsame Liste so plötzlich möglich geworden?
Alle auf der Linken kennen die Unterschiede zwischen unseren beiden Parteien, besonders was den Typ von Organisation betrifft, den wir
aufbauen wollen, und die Art und Weise, wie die Kader die jeweilige "Linie" in der Tagespolitik umsetzen sollen. Aber es gibt
genug Gemeinsamkeiten, um bei diesen Wahlen zusammenzuarbeiten.
Wir brauchen dringend eine Alternative zum Europa von Maastricht mit seinen 20 Millionen Erwerbslosen und 60 Millionen Armen, der
Ausweitung ungesicherter Beschäftigung und seiner antiökologischen und antidemokratischen Politik. Anstelle einer
Währungsunion nach finanziellen Kriterien wollen wir ein soziales Europa, das auf sozialen Kriterien basiert. LO und LCR sahen sich in
der Verantwortung gemeinsam zu handeln, um zu zeigen, daß eine Alternative zur Regierung der "pluralen Linken"
existiert.
Was sind die Hauptelemente eurer Kampagne?
Die Hauptachse, aus der sich alles andere ergibt, ist die Frage der Beschäftigung. Der Anstieg der innerstädtischen Gewalt und die
Unterstützung für die extreme Rechte ist grundlegend mit der dauernden Massenerwerbslosigkeit und dem Fehlen einer
Zukunftsperspektive für viele Menschen verbunden. Vor dreißig Jahren gab es 200.000 Erwerbslose in Frankreich, und die
Faschisten erzielten 1% bei Wahlen. Heute gibt es 3 Millionen Erwerbslose, und die Faschisten kommen auf 15% !
Die Senkung der Wochenarbeitszeit ohne Flexibilisierung und Lohneinbußen kann eine Million neue Jobs schaffen. Die Menge der 1998
registrierten Überstunden entspricht 600.000 Vollzeitarbeitsplätzen! Eine linke Regierung könnte Überstunden so teuer
machen, daß die Unternehmer sie nicht mehr anwenden würden.
Selbstverständlich hängt das alles davon ab, ob man im Rahmen der kapitalistischen Logik bleibt oder sich den Bossen widersetzt.
Wir wollen neue Steuern auf Finanztransaktionen und Kapital. Der Anteil der Unternehmer an der Steuerbelastung muß erhöht
werden. Man muß die Vermögen der Reichen für ein Arbeitsbeschaffungsprogramm verwenden. Dies erfordert
Massenmobilisierungen von unten und führt zur Konfrontation mit den Unternehmern. Aber das ist möglich.
Des weiteren bieten wir den Forderungen der "Sans Papiers" (ImmigrantInnen ohne gültige Papiere), der Frauen, der
Erwerbslosen und der Obdachlosen eine Tribüne. Und wir wissen auch, daß das Defizit unserer Gesellschaft ein
ökologisches Defizit ist. Doch wer leidet am meisten an der Verschmutzung unserer modernen Städte: die Reichen in den Vororten
oder diejenigen, die in den Ballungsräumen leben?
Wie ist das Echo auf die Kampagne?
Es gibt ungeheuer viel positive Resonanz - aus Betrieben, Universitäten, Wohnvierteln. Die Leute nehmen uns nicht als
"trotzkistische Einheitsliste" wahr, sondern als die einzige linke Nicht-Regierungs-Liste, als einzige antikapitalistische Liste -
"100% à gauche - 100%ig links". Viele, die in der Vergangenheit LO oder LCR nicht gewählt haben, sehen nun in der
Liste ein nützliches Instrument.
Wer sind die Kandidaten?
Unsere Kandidatinnen und Kandidaten spiegeln unsere verschiedenen Kämpfe wider. Es sind überwiegend Frauen - auf den ersten
zehn Plätzen allein acht. Sie kommen aus allen Bereichen, darunter Kandidatinnen aus anderen Ländern der EU.
Wozu dient eine Stimmabgabe für die Liste LO-LCR?
Um zu zeigen, daß sich das Kräfteverhältnis ändert, daß es einen radikalen, antikapitalistischen Flügel der
Bewegung gibt, der kein Vertrauen in die Regierung der "pluralen Linken" hat. Um der Forderung nach Arbeit, Wohnung,
Gesundheit, Bildung… Gehör zu verschaffen. Um den Nationalismus und das Europa, das von oben aufgebaut wird,
zurückzuweisen. Um so mehr Stimmen wir bekommen, um so mehr Leute werden ermutigt werden, sich selbst zu verteidigen.
Diese Wahlen sind auch ein Schritt zum Aufbau einer neuen antikapitalistischen Kraft, die sich nicht auf die extreme Linke beschränkt,
sondern auch attraktiv für antikapitalistische Aktive sein wird, die gegenwärtig in der PCF, in der [sozialdemokratischen] PS oder
bei den Grünen organisiert sind. Das gilt auch für die weit größere Gruppe von Menschen, die gegenüber allen
Parteien Vorbehalte haben und ihre Energien auf die Gewerkschaftsbewegung oder Ein-Punkt-Kampagnen konzentrieren.
Mit einem guten Ergebnis können wir Abgeordnete ins Europaparlament entsenden. Dies ist eine Institution ohne Macht, aber wir
können die Glaubwürdigkeit des parlamentarischen Status benutzen, um an Informationen heranzukommen und um in den Medien
präsent zu sein, wenn wir die geheimen Strukturen des Europa, das geplant wird, anprangern.
Wir werden unsere Positionen als eine Tribüne für die sozialen Bewegungen benutzen und die uns zur Verfügung stehenden
Ressourcen dazu verwenden, diese Bewegungen aufzubauen. Indem sie uns wählen, wählen die Leute sich selbst!