Sozialistische Zeitung |
Am 8.Juni veröffentlichten Schröder und sein britischer Kollege Tony Blair als Protagonisten der
"Neuen Mitte" und des "Dritten Weges" ihr gemeinsames Papier "Der Weg nach vorne für Europas
Sozialdemokraten". In weiten Teilen entspricht das Papier den Vorgaben des am 3.Juni verabschiedeten EU-
Beschäftigungspakts.
Blair und Schröder kritisieren vor allem die "immer höheren öffentlichen Ausgaben", die "ohne
Rücksicht auf die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben"
getätigt werden. Damit soll nun aufgeräumt werden. Steuersenkungen und Kürzungen der Sozialausgaben seien den
"veränderten Realitäten" geschuldet, heißt es nebulös.
Vorbild ist New Labour in Großbritannien. Dort ist die Unternehmensbesteuerung vereinfacht und die Körperschaftsteuer gesenkt
worden. Was Blair und Schröder als Erfolgsrezept verkaufen, ist zumindest Blair bei der Europawahl auf die Füße gefallen.
Eigentlich hätte das Papier erst kurz vor der Sommerpause veröffentlicht werden sollen. Doch Blair, so heißt es aus Bonner
Regierungskreisen, hätte sich von einem vorgezogenen Zeitpunkt Vorteile bei der Wahl versprochen.
Das Resultat zeigt, daß sich Blair gründlich verkalkuliert hat: New Labour hat fast die Hälfte der Sitze im Europaparlament
eingebüßt. Doch das kann Schröder nicht beirren, der in der Bonner Runde keinen Zweifel daran ließ, an den
neoliberalen Zielvorstellungen festhalten zu wollen.
An manchen Stellen versuchen Blair und Schröder, doch noch den traditioneller orientierten Teilen der Sozialdemokratie in Europa
Zugeständnisse zu machen. "Auf EU-Ebene sollte die Steuerpolitik energische Maßnahmen zur Bekämpfung des
unlauteren Wettbewerbs und der Steuerflucht unterstützen." Jedoch nur mit Einschränkungen. "Wir werden keine
Maßnahmen unterstützen, die zu einer höheren Steuerlast führen und die Wettbewerbsfähigkeit und
Arbeitsplätze in der EU gefährden", heißt es einen Satz später. Mit anderen Worten: Drohen die Transnationalen
wie in der Vergangenheit mit Stellenabbau, können sie mit Vorzugsbehandlung rechnen.
Beschäftigungspolitisch setzen Blair und Schröder auf "Welfare to work". Mit diesen Programmen zur Zwangsarbeit
wollen sie das "Einkommen der zuvor Beschäftigungslosen steigern" und mit Senkungen der Sozialbeiträge
"zugleich die Kosten der Arbeit für die Arbeitgeber" senken. Ein Sozialversicherungssystem, das die "Fähigkeit,
Arbeit zu finden, behindert, muß reformiert werden". Sie machen keinen Hehl daraus, daß es ihnen bei diesem Vorhaben um
die Ausweitung ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse geht. "Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind
besser als gar keine Arbeit", so ihr Fazit. Das System der Steuern und Sozialleistungen müsse "sicherstellen, daß es im
Interesse der Menschen liegt, zu arbeiten".
Auch der Dienstleistungsgesellschaft wollen sie Tribut zollen. "Dienstleistungen kann man nicht auf Lager halten", erklären
sie lapidar. "Der Kunde nutzt sie, wie und wann er sie braucht - zu unterschiedlichen Tageszeiten, auch außerhalb der heute als
üblich geltenden Arbeitszeit", heißt es weiter. Sonntags- und Nachtarbeit im Dienstleistungsbereich sollen also künftig
nicht mehr die Ausnahme, sondern zur Regel werden.
Als "wichtigste Aufgabe" der Modernisierung bezeichnen Blair und Schröder Investitionen ins "Humankapital".
"Lebenslanges Lernen" stelle die "wichtigste Form der Sicherheit in der modernen Welt dar". Bezahlen sollen die
Lohnabhängigen jedoch selber. Dem Staat komme lediglich die Aufgabe zu, "Anreize zur Bildung von Sparkapital zu setzen, um die
Kosten des lebenslangen Lernens bestreiten zu können".
Für die Gewerkschaften sehen Blair und Schröder analog zum EU-Beschäftigungspakt einen Platz am Tisch der
"Sozialpartner" vor. Dafür sollen sie sich weiterhin der Standortpolitik verschreiben und in "Kooperation mit den
Arbeitgebern den Wandel gestalten und dauerhaften Wohlstand schaffen helfen". Die Autoren sind der "Überzeugung,
daß die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz überwunden werden müssen".
Der Chef der IG Metall, der größten deutschen Einzelgewerkschaft, Klaus Zwickel, mag darin keine "unmittelbare
Bedrohung" gewerkschaftlicher Interessen erkennen. Volle Zustimmung erhielt das Papier vom Chemie-Gewerkschaftschef Hubertus
Schmoldt, der sich vor allem positiv über die geplanten Sozialkürzungen äußerte.
Blair und Schröder verstehen ihre Ausführungen als Appell, "mit dem wir die anderen sozialdemokratisch geführten
Regierungen Europas, die unsere Modernisierungsziele teilen, einladen, sich an unserer Diskussion zu beteiligen".
Die vorsichtigen Distanzierungen des französischen Premiers Lionel Jospin nehmen selbst führende Wirtschaftsblätter nicht
sonderlich ernst. Sie bezeichneten seine Äußerungen als "Rhetorik". Denn in der Praxis unterscheidet sich der
französische Kurs kaum vom "Dritten Weg".
Auch die Regierung Jospin privatisiert die Staatsunternehmen und richtet ihre Finanzpolitik nach den Maßgaben der
Stabilitätskriterien für den Euro aus. Nicht zuletzt soll nach Bonner Angaben neben dem Kanzleramtsminister Bodo Hombach und
dem Blair-Berater Peter Mandelson auch der französische Europa-Staatsminister Pierre Moscovici an den Vorarbeiten des Blair-
Schröder-Papiers beteiligt gewesen sein.
Hombach hat unterdessen schon Gespräche mit Kollegen aus Frankreich, den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Italien
angekündigt, die von "einer Reihe von Ministerbegegnungen" und einem "Netzwerk von Fachleuten, Vordenkern,
politischen Foren und Diskussionsrunden" ergänzt werden sollen.
Blair wollte mit dem Papier unter Beweis stellen, daß Grobritannien trotz der vorläufigen Abkoppelung von der
Einheitswährung eine Führungsrolle innerhalb der EU spielen kann, meint die Neue Züricher Zeitung. Doch gemessen an den
Ergebnissen der Europawahl ist es ihm nicht gelungen, den Skeptikern klarzumachen, daß eine "reformfähige
Gemeinschaft" Großbritannien Vorteile bringt.
Im Mai hatte es ein Treffen zwischen Parteilinken aus der SPD und den französischen Sozialdemokraten gegeben. Etwas spät
warnten sie vor dem Einzug des Neoliberalismus in die Sozialdemokratie. Schröder hat nachdrücklich mit dem Londoner Papier
der parteiinternen Opposition gegen den Kurs der "Neuen Mitte" demonstriert, daß seine wirtschafts- und sozialpolitischen
Reformvorstellungen in einen breiteren Strom gebettet sind und in europäischen Bruderparteien Rückhalt genießen.
Schulterklopfen gab es von den Unternehmerverbänden, von seinen SPD-Regierungskollegen, dem wirtschaftspoltitischen Sprecher der
Grünen, den deutschen Sozialdemokraten im Europaparlament und natürlich von der FDP, die am 16.6 sogar die Kernthesen des
Papiers in einen Antrag an den Bundestag eingebaut hat.
Die parteiinterne Opposition lehnt das Papier zwar ab und will die SPD nicht an "neoliberale Strömungen" anpassen. Doch
ihr Drohpotential ist spärlich: sie wollen Schröder, sollte er das Programm der Partei im Sinne der deutsch-britischen
Formulierungen verändern wollen, mit "heftigen Kontroversen" begegnen.
Nun sind die Sozialdemokraten nicht gerade dafür berühmt, ihrer Partei an der Regierung Paroli zu bieten. Es steht sogar zu
befürchten, daß sie sich für die kommenden Landtagswahlen im Herbst den dringenden Friedensappellen ihres Parteichefs
unterwerfen und die Debatte im Dienste des Parteifriedens einstellen. Dabei hatte Schröder bereits angekündigt, mit dem
jüngst vorgestellten Sparpaket die ersten praktischen Schritte zur Umsetzung seiner Politikvorstellungen zu gehen.
Gerhard Klas