Sozialistische Zeitung |
Die bürgerliche Presse hat das Ergebnis der Wahlen zum Europaparlament (EP) als Zustimmung zu den
Konservativen gewertet - etwas voreilig.
Das erste Ergebnis, das allen ins Auge gesprungen ist, war die für europäische Verhältnisse katastrophal niedrige
Wahlbeteiligung: im Durchschnitt 49%, mit Tiefpunkten von 23% in Großbritannien, knapp 30% in den Niederlanden, Finnland und
Portugal. Bei einer solchen Wahlbeteiligung lassen die Ergebnisse nur beschränkte Aussagen zu. Sie drückt immerhin zwei Dinge
aus:
1. Die realistische Einschätzung, daß es bei den Europawahlen nicht wirklich etwas zu wählen gibt. Zwar wurden die
Kompetenzen des Europäischen Parlaments (EP) durch den Vertrag von Amsterdam erweitert, und das Parlament darf jetzt "an der
Seite des Europäischen Rats" mitentscheiden, wenn es um Themen wie Umwelt, Transeuropäische Netzwerke,
Gesundheitsstandards, Verbraucherschutz, Sozialpolitik, Kommunikation u.a.m. geht; im Falle sich gegenseitig blockierender Positionen hat es
jetzt sogar ein Vetorecht. Die Bereiche Landwirtschaft und Währungsunion - zwei Kernbereiche der EU - sind von diesem
Mitentscheidungsprozeß allerdings ausgenommen. Weiterhin hat das EP keine Gesetzesinitiative und kann über den EU-Haushalt
nicht entscheiden - zwei zentrale Befugnisse für ein Parlament, das Ausdruck einer Volkssouveränität sein will. Im Zuge der
breiteren öffentlichen Auseinandersetzung über die EU in den letzten Jahren ist jedoch vielen bewußt geworden, daß
der Souverän hier nichts zu sagen hat; so darf man sich nicht wundern, wenn er keine Lust verspürt, als Feigenblatt für eine
pseudodemokratische Legitimation zu dienen. Die Nichtbeteiligung bekamen auch solche linken Parteien zu spüren, die gegen die meist
sozialdemokratischen Regierungen aufgetreten waren.
2. Die vorherrschende neoliberale Politik unter sozialdemokratischem Mäntelchen hat eine massive Abfuhr bekommen. Bei den
EU-Wahlen muß man nicht taktisch wählen, das Ergebnis hat für die Bildung der Exekutive keine Folgen. Getreuer als
nationale Wahlen spiegeln Wahlen zum EP daher tatsächliche Stimmungen in der Bevölkerung wider. Die Ablehnung des
Blairismus schlug sich jedoch nicht in einer massiven Zustimmung zu den Konservativen, sondern in einer massiven Stimmenthaltung nieder.
Die bürgerlichen Parteien haben prozentual, der Zahl der Stimmen nach zugelegt. In absoluten Zahlen haben sie in der Mehrzahl der
Fälle ebenfalls verloren - in der BRD machte nur die CSU eine Ausnahme. Rechnerisch mündete dies jedoch darin, daß
erstmals seit Bestehen des EP (1979 gab es die erste Wahl) die Europäische Volkspartei (EVP - Zusammenschluß der
Konservativen) die relative Mehrheit errungen hat - im wesentlich dank der Erfolge der Tories und der CDU.
Besonders dramatisch ist die Sozialdemokratie dort eingebrochen, wo sie am sichtbarsten neoliberale Politik macht: in Großbritannien,
in Deutschland, in den Niederlanden - aber auch in Belgien, wo sie tief im Dioxinskandal steckt, und in Griechenland. In Frankreich, wo die
Französische Kommunistische Partei (PCF) mit an der Regierung ist und die Rechten in einer abgrundtiefen Krise stecken, hat die
sozialdemokratische PS mehr Spielraum, um ihrer Privatisierungspolitik ein traditionssozialistisches Mäntelchen umzuhängen. Dort
hat sie noch zugelegt. Gewonnen hat die Sozialdemokratie auch in Österreich (mit einer Kampagne für die Verteidigung der
"Neutralität") und in Portugal. Die Schlußfolgerung, die viele Regierungschefs, darunter auch Schröder und
DAlema, gezogen haben, die Wähler hätten angeblich für noch mehr Blairismus votiert, ist also völlig
abwegig.
Die extreme Rechte hat diesmal aus der massiven Wahlenthaltung wenig Profit schlagen können. Dies liegt im wesentlichen an der
Spaltung ihrer Kräfte: in der BRD ist sie notorisch, in Frankreich hat sie die Partei Le Pens auf die Hälfte ihres Stimmenanteils
zurückgeworfen (5,7%); sein Rivale Bruno Mégret erhielt ganze 3%. In Österreich verlor Haiders FPÖ 4
Prozentpunkte. Erheblich Zuwächse konnte die extreme Rechte nur in Dänemark und in Belgien verzeichnen; hier hat der Vlaams
Blok mit 15% in Flandern die Sozialdemokratie überholt!
Die Liberale Fraktion im EP ist gestärkt worden; in Deutschland allerdings wurde die FDP mit 3,1% schwer abgeschlagen. Nicht wenige
ihrer Wähler mögen diesmal die Grünen gewählt und damit vor einem Wahldesaster bewahrt haben.
Von der Abfuhr der Sozialdemokraten haben europaweit hauptsächlich die Grünen profitiert. In Frankreich hat ihr Spitzenkandidat
Cohn-Bendit eine ausgesprochen rechte, kriegstreiberische und pro-Maastricht-orientierte Kampagne geführt; das hat den Grünen
nicht geschadet, sondern sie über 10% gebracht. Dazugelegt haben sie auch in den Niederlanden (Groen-Links ist hier links orientiert und
auf Regierungsbeteiligung aus), in Belgien, Österreich, Spanien, Großbritannien und Finnland. In Deutschland, Italien und
Schweden haben die Grünen verloren; in Deutschland weniger als erwartet - vielleicht auch deshalb, weil die meisten noch existierenden
linken Grünen trotz des Krieges in der Partei geblieben sind. Wegen ihres europaweiten Gesamtergebnisses konnten sie trotz der
massiven Verluste in der BRD das Gefühl haben, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
Das Abschneiden der KPs ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wie deutlich der Oppositionskurs ist, den sie eingeschlagen haben. In der BRD
war die PDS die linkeste Kandidatur; sie hat mit 5,8% ihr bislang bestes Ergebnis eingefahren, wobei sie im Westen ihren Stimmenanteil
verdoppeln konnte und auch absolut zugelegt hat. Ihr klares Nein zum Krieg und ihre Position als einzige linke Oppositionspartei hat ihr dieses
Ergebnis beschert. Für die PDS gilt jedoch dasselbe wie für die europäischen KPs überhaupt: wo sie eine Anpassung
nach rechts durchgeführt haben, mußten sie herbe Wahlverluste einstecken, wo sie ein klares Oppositionsprofil zeigten, haben sie
gewonnen. In den östlichen Bundesländern hat die PDS - wie alle großen Parteien - absolut an Stimmen
eingebüßt, aber prozentual noch zugelegt und ihre Stellung als dritte Kraft ausgebaut. Mit zwei Ausnahmen: in Mecklenburg-
Vorpommern, wo sie mitregiert, und in Sachsen-Anhalt, wo sie die SPD-Regierung toleriert, hat sie auch prozentual jeweils etwa 3
Prozentpunkte verloren. In Bremen hat sie prozentual am wenigsten zugelegt, gegenüber den Bürgerschaftswahlen eine Woche
vorher sogar verloren; in Hamburg hingegen hat sie stolze 3,3% eingefahren und damit neben Westberlin das beste Westergebnis
überhaupt.
Die Orientierung des Parteivorstands, daß man sich gegenüber der SPD regierungsfähig zeigen muß, um einen stabilen
politischen Platz auch im Westen zu erobern, hat mit dieser Wahl eine schallende Ohrfeige erhalten.
In Frankreich ist die PCF Teil der Regierung. Sie hatte eine offene Liste "Europa bewegen" aufgestellt, auf der sie viele
unabhängige Kandidaten plazierte, die rechts von der Partei standen. Mit 6,8% ist das Resultat sehr enttäuschend ausgefallen; auch
nach der Wahl gibt es deswegen noch heftige parteiinterne Auseinandersetzungen. Nicht wenige KP-Mitglieder haben zur Wahl von LO-LCR
aufgerufen. Die in sich tief gespaltene Izquierda Unida (IU) ist in Spanien von 13,6 auf 5,8% abgesackt. In Griechenland hat die von ehemaligen
Eurokommunisten angeführte und nach rechts offene Liste Synaspismos Stimmen eingebüßt (von 6,3 auf 5,1%); die Moskau-
orientierte und oppositionelle KKE ist von 6,3 auf 8,6% gestiegen. Leicht verloren hat auch die portugiesische KP (von 11,2 auf 10,3%). In
Italien hat die Spaltung von Rifondazione Comunista das Wahlergebnis belastet; aber die Partei von Bertinotti hat mit 4,3% die Liste Cossuttas
(PdCI - "Partei der italienischen Kommunisten"), der Minister in der Regierung DAlema ist (2%), deutlich geschlagen und
die Auseinandersetzung damit für sich entschieden. 1994 hatten beide zusammen 6,1% bekommen. Bertinotti hatte sich bei den
diesjährigen Wahlen das Ziel gesetzt, diesen Anteil wieder zu erreichen.
Weit abgeschlagen wurde in England Arthur Scargills Socialist Labour Party mit durchschnittlich 1%. Einen Achtungserfolg konnten hingegen
Kandidaturen von ehemaligen Labour-MPs aufweisen, die wegen ihrer linken Kritik an New Labour aus der Partei ausgeschlossen worden
waren: Ken Coates erreichte in den East Midlands mit der Alternative Labour List 2,4%; Christine Oddy in den West Midlands
4,3%.
Erstmals sind revolutionäre Listen im EP vertreten (siehe Meldungsspalte); im Mittelpunkt steht dabei die Liste LO-LCR. Deren
Ausstrahlungskraft wird die Möglichkeiten zur Neuformierung der europäischen Linken auf einer radikalen, antikapitalistischen
Grundlage erheblich beeinflussen.
Die beiden ungleichen Parteien, die die Liste bilden, haben nach der Wahl ihre Verantwortung anerkannt, auch fürderhin gemeinsam zu
agieren. Die Sprecherin von LO (Lutte Ouvrière), Arlette Laguiller, schrieb in einem Diskussionsbeitrag in der Zeitung der LCR (Ligue
Communiste Révolutionnaire/IV.Internationale), Rouge: "Wir sprechen unterschiedliche Milieus an, sind in verschiedenen
gesellschaftlichen Sektoren aktiv und ergreifen unterschiedliche Initiativen, aber wir haben ein breites Feld an Gemeinsamkeiten. Unsere
Initiativen sind niemals entgegengesetzt. Wir ergänzen uns! Deshalb bilden wir einen Attraktionspol über die Kreise hinaus, die wir
getrennt angesprochen haben. Wir müssen weiter ‚im Duo handeln und die Probleme, die sich stellen, gemeinsam diskutieren und
angehen. Wir müssen dafür sorgen, daß das Gemeinsame das Trennende überwiegt."
Rouge schreibt in einer ersten Wahlauswertung: "Die Wahlen bestätigen den Niedergang der PCF, das Wahlergebnis wird ihre
Krise beschleunigen. Die Unschärfe und der Eklektizismus ihrer Positionen zur EU und zum Krieg haben ihrer Wahlkampagne Inhalt und
Profil genommen. Die PCF-Führung setzt strategisch auf ein Bündnis mit der Sozialdemokratie und bleibt Gefangene dieser
Orientierung. Die neue Fraktion LO-LCR will versuchen, die Linke - auch diejenigen, die für Regierungsparteien gestimmt haben - um
Forderungen zusammenzuführen, die eine unmittelbare Wende in der Politik einleiten. An Cohn-Bendit und [den PCF-Vorsitzenden]
Robert Hue werden wir sofort mit einem Vorschlag für eine gemeinsame Initiative für ein Bleiberecht für Flüchtlinge
herantreten."
Angela Klein