Sozialistische Zeitung
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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.13 vom 24.06.1999, Seite 11

Mit ‘workfare‘ zu einer neuen Ethik

Interview mit einem britischen Erwerbslosenaktivisten

Großbritannien wird von vielen Mitgliedstaaten der EU und vor allem der EU-Kommission als vorbildliches Modell im Kampf gegen die Erwerbslosigkeit angepriesen. TOBY STEWART, ein Aktivist der Erwerbsloseninitiative "Brighton Against Benefit Cuts" demontiert im Gespräch mit Gerhard Klas die Illusionen in den britischen "New Deal" und ordnet die Kämpfe der Erwerbslosen in einen breiteren gesellschaftlichen Rahmen ein.


Wie ist eure Gruppe entstanden?
Toby Stewart: Vor vier Jahren gründete sich unsere Gruppe als Antwort auf das Regierungsprogramm der Job Seekers Allowance (JSA). Obwohl es während der Jahre auch andere sog. Reformen im Sozialbereich gegeben hatte, war die JSA die weitreichendste. Das Programm erlaubte den Arbeitsämtern, Druck auf anspruchsberechtigte Erwerbslose auszuüben. Die Arbeitsämter definierten uns als "Jobsuchende" und wir mußten regelmäßig unter Beweis stellen, daß wir uns aktiv um eine Arbeitsstelle bemühten. Dabei drohten sie uns mit dem Verlust der kompletten Arbeitslosenunterstützung für mehrere Wochen.
Als Anspruchsberechtigte und Erwerbslose wußten wir ganz genau, daß wir uns selbst organisieren und verteidigen müssen, denn niemand anderes würde das für uns tun. Auch andere Gruppen im Land kamen zu diesen Schlußfolgerungen. Wir hielten regelmäßige Konferenzen ab, wie wir uns am besten gegen die JSA wehren könnten. Selbstorganisierte Aktionen waren notwendig und möglich.

Hat sich Brighton Against Benefit Cuts in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext gestellt?
Die Angriffe auf die Empfänger von Arbeitslosenunterstützung haben wir in Relation zur Dynamik des Arbeitsmarkts als ganzes gesehen. Wir definierten uns nicht als spezielle, abgesonderte Gruppe, sondern als Teil der Arbeiterklasse. Einige von uns hatten zwischenzeitlich Jobs, dann wieder keine, mußten Umschulungs- und Bewerbungsprogramme über sich ergehen lassen. Genauso wie einige Arbeiter in manchen Situationen auf zusätzliche sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind.
Für uns war es klar, daß die JSA eine grundlegende Attacke auf die Arbeiterklasse war, v.a. auf die Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Wenn wir uns nicht gegen die JSA wehren, so unsere Argumentation, würde sich der Druck auf die Erwerbslosen ungeheuer erhöhen, noch mehr Menschen in den Billiglohnsektor gedrängt werden und auch Druck auf die Arbeitsentgelte in anderen Lohnsektoren entstehen.
Deshalb war es selbstverständlich, Verbindungen mit Arbeitern aufzunehmen. Auch mit den Beschäftigten in den Arbeits- und Sozialämtern. Sie waren über die JSA fast ebenso verärgert wie wir. Für uns war eine gegenseitige Unterstützung der Kämpfe wichtig. Die Gelegenheit dafür ergab sich während eines Streiks der Beschäftigten in den Arbeitsämtern gegen eine leistungsbezogene Entlohnung. Zusammen stellten wir die Streikposten und erklärten anderen Erwerbslosen, daß ein Sieg der Beschäftigten auch ihre Position gegenüber der Verwaltung stärken würde.
Obwohl der Streik nicht unmittelbar erfolgreich war, bestätigte sich unsere Analyse. In Gegenden wie Brighton, wo die Arbeiter entschlossener vorgingen, konnten die Verwaltungen der Arbeitsämter nicht alle Anforderungen der JSA durchsetzen. In anderen Städten, in denen sich kein Widerstand artikulierte, schikanierten Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor die Erwerbslosen und wurden ihrerseits von der Verwaltung tyrannisiert.
Auf der Basis der gemeinsamen Unterstützung während des Streiks gingen wir ein breites Bündnis mit den kämpferischen Beschäftigten der Arbeitsämter ein. Als die JSA gesetzlich verabschiedet wurde, gab es in Brighton die landesweit größte Demonstration. Wir marschierten zu den Arbeitsämtern und belagerten sie. Die Beschäftigten nutzten die Gelegenheit und legten ihre Arbeit nieder. Bereits am ersten Tag löste die neue Regelung damit ein Chaos aus.
Eine neue Konfrontation ergab sich für die lokale Kampagne vor zwei Jahren, als ein Workfare-Pilot-Projekt in Brighton und anderen Städten gestartet wurde. Das Projekt betraf abermals Empfänger von Arbeitslosenunterstützung und zwang sie zur Arbeit in Wohlfahrtseinrichtungen, für die es zusätzlich ein Almosen von 10 Pfund die Woche gab.
Obwohl wir zu dieser Zeit nur eine kleine Gruppe mit einem Dutzend Aktivisten waren, gelang es uns, dieses Projekt zu Fall zu bringen. Wir stellten vor jeder Wohlfahrtseinrichtung Posten auf, verteilten Flugblätter und hielten die Leute davon ab, diese Einrichtungen zu besuchen. Einige mußten daraufhin schließen. Unseren größten Erfolg hatten wir, als wir eine lokale Kirchengemeinde zwangen, ihre Wohlfarhtseinrichtung zu schließen. Diese Kirche hatte zunächst behauptet, Erwerbslose bräuchten morgens Hilfe, damit sie rechtzeitig aufstehen. Jedesmal wenn wir auftauchten, riefen Vertreter der Kirchengemeinde die Polizei. Doch eines Abends kamen wir mit mehreren Dutzend Leuten. Wir trieben den Parlamentsabgeordneten des Bezirks in die Kirche. Die Polizei versetzten wir in Panik, denn wir waren ihr zahlenmäßig weit überlegen. Danach verließ diese Gemeinde das Pilotprojekt und behauptete, wir hätten sie "eingeschüchtert" - ungeachtet aller Empfänger von Arbeitslosenunterstützung, die durch diese Kirche eingeschüchtert wurden. Denn bei Ablehnung eines von der Gemeinde offerierten Billiglohnjobs wurden alle Sozialleistungen gestrichen.


Welche Erfahrungen hat die Erwerbslosengruppe mit dem Regierungswechsel vor zwei Jahren gemacht?
Mit dem New Deal, den New Labour auch für junge Leute einführte, strömte neues Leben in unsere Gruppe. Einige gemäßigte Linke sahen den New Deal als eine Verfeinerung der Bestrafungsmethoden der alten Regierung. Von Anfang an war der New Deal für uns eher eine Kontinuität als ein Bruch mit der Sozialpolitik der vergangenen Jahre unter der konservativen Regierung.
Auch die JSA und ihre Sanktionsmechanismen wurden von der neuen Regierung nicht abgeschafft. Das war für uns ein springender Punkt. Tatsächlich ist die JSA sogar der Grundgestein geworden, auf dem New Labour seinen New Deal errichtete. Leute, die Billiglohnjobs oder auch Bewerbungsgespräche ablehnten, wurden denselben Sanktionen unterworfen wie bei der JSA. Bisher haben mehr als 10.000 junge Leute unter den Kürzungen leiden müssen. Wir haben immer noch keine Antwort darauf, warum diese Sanktionen nötig sind, wenn doch der New Deal so wunderbar ist, wie die Regierung behauptet.
Doch natürlich gibt es eine Antwort auf diese Frage. Wenn der New Deal auf den Mechanismen der JSA basiert, liegen ihm auch die ökonomischen Zwänge der JSA zugrunde.

In Europa wird der New Deal als Instrument gegen die Erwerbslosigkeit verkauft und gerne auf die niedrige Erwerbslosenquote in Großbritannien verwiesen. Hat er weitere Auswirkungen?
Selbst die Regierung räumt ein, daß der New Deal kein Programm zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen ist. Was ist es dann? Der New Deal soll die Wirtschaft ankurbeln. Das Problem des britischen Kapitals war der zweite Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt für Jugendliche brach bereits in den frühen 80er Jahren zusammen und viele gewöhnten sich an den Zustand der Langzeitarbeitslosigkeit. Trotzdem blieb das allgemeine Lohnniveau relativ hoch. Viele Sektoren des britischen Kapitals waren nicht konkurrenzfähig. Die Bosse der Unternehmen sahen diese jungen Leute als "nicht beschäftigbar" an. Diese Reservearmee an Arbeitskräften schuf also weder neue Konkurrenz noch Druck auf das Lohnniveau. In vielen Sektoren gab es Beschäftigte, die sich ziemlich einfach in den Unternehmen hinaufarbeiten konnten und relativ hohe Löhne bezogen.
Die JSA, die Zwangsarbeitsprogramme und der New Deal sind nicht nur Instrumente, um Gelder im Sozialbereich einzusparen. Sie sollen die Arbeitslosen wieder "arbeitsfähig" machen. Genau das meint die Regierung, wenn sie von einem "Ende des sozialen Ausschlusses" redet.

Erreichen die PR-Kampagnen des New Deal die Erwerbslosen und sozialen Leistungsempfänger?
Dem einzelnen Antragsteller mag der New Deal zunächst attraktiv erscheinen. Wenn du einen Job willst, mußt du durch Traniningsmaßnahmen und Praktika "arbeitsfähiger" werden und hast dann eine Chance auf eine richtige Anstellung und ein hinlängliches Einkommen.
Wenn sich jedoch die Anzahl der Normalarbeitsplätze nicht erhöht ist die ausgeweitete Arbeitsfähigkeit in vormals vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Sektoren nichts anderes als eine ernsthafte Attacke auf die Arbeiterklasse als ganzes. Die stärkere Konkurrenz wird Löhne absenken und die Arbeitsbedingungen verschlechtern: Das ist das eiserne Gesetz des Arbeitsmarkts. Das konnten wir auch in Brighton beobachten. Der Stadtrat rühmte sich beim New Deal dabei zu sein und einige seiner freien Stellen dafür zur Verfügung zu stellen. Neue Jobs entstanden keine, es fand nur eine Verschiebung in den Billiglohnsektor statt.
Was Auswirkungen auf die Arbeiterklasse hat, hat auch Auswirkungen auf den einzelenen Arbeitssuchenden. Vielleicht heißt er die Versprechungen des New Deal zunächst willkommen, vielleicht konnte er sich auch höher qualifizieren. Aber die Arbeitsstellen, die ihm zur Verfügung stehen, sind mehr und mehr unattraktiv und schlecht bezahlt.
Was ist der Sinn und Zweck des New Deal?
Es ist klar, daß New-Deal-Trainingsprogramme dem Arbeitsmarkt nichts dienlicheres zur Verfügung stellen als die Erfahrung ihrer Teilnehmer, Befehle eines Bosses zu empfangen und sie auszuführen. Die meisten Bewerber bekommen nicht einmal die Praktika und Trainingsmaßnahmen, die sie gerne hätten.
Für die Bosse ist diese Einschärfung von Arbeitsdisziplin von existenzieller Bedeutung. Das ist einer der Gründe, warum die im Interesse des britischen Kapitals handelnde Labour-Regierung davon überzeugt ist, in den New Deal zu investieren. Schau in irgendein Arbeitsamt und du wirst sehen, daß vor allem die schlecht bezahlten Jobs eher Zuverlässigkeit als Fachkenntnis erfordern. New Deal muß als Teil einer ideologischen Offensive verstanden werden, die jedem Individuum ihre Arbeitsethik einflößen will und den gesellschaftlichen Gruppen, die bisher von Sozialleistungen lebten, in die Welt der ungeschützten Lohnarbeit stößt.
Vielleicht verschärft sich die Situation in naher Zukunft nochmals. Zur Zeit bekämpfen wir die Auslagerung verschiedener Elemente des Wohlfahrtsstaats in die Hände von großen Konzernen. New Labour bezeichnet diese Privatisierungen als "Partnerschaft". Doch in Wirklichkeit ist es ein Verfall des Sozialstaats. Der einzige Weg, wie die Privatunternehmen Geld aus dem Sozialsystem ziehen können ist die Entlassung von Beschäftigten und ihre schlechtere Bezahlung. Auch hier sind die gemeinsamen Interessen von Anspruchsberechtigten und Beschäftigten in diesem Sektor überdeutlich, zusammen die sog. Reformen des Wohlfahtsstaats zu bekämpfen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Krieg und dem Abbau des Sozialsystems?
Während die Anspruchsberechtigten durch die Rationalisierung des Sozialsystems attackiert werden, gab die Regierung Milliarden aus, um Jugoslawien zu bombardieren. Das ist keine einfache Rechnung zwischen Geld für Bomben und der Finanzierung des Sozialstaats. Obwohl die New-Labour-Regierung die Ansprüche auf viele Sozialleistungen reduziert - Behinderte und Asylsuchende sind derzeit am meisten betroffen - steigt der Sozialhaushalt trotzdem. Die Art der Zahlungen hat sich jedoch geändert: von nicht arbeitenden Anspruchsberechtigten, bspw. Erwerbslose, Behinderte und Alleinerziehende, hin zu den arbeitenden Anspruchsberechtigten. New Labour will so viele Menschen wie möglich auf den Arbeitsmarkt drängen und subventioniert deshalb Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor.
New Labour sieht Arbeit als eine brauchbare Lösung für viele soziale Probleme an. Deswegen schreit unsere Initiative nicht nach mehr Arbeit. Wir haben kein Interesse daran, die Probleme der modernen Ökonomie zu lösen. Mit unseren Mahnwachen, Besetzungen und Demonstrationen haben wir nur ein Ziel: uns selbst als Anspruchsberechtigte und Arbeiter zu verteidigen, unsere eigenen Bedürfnisse und Selbstbestimmung in Konkurrenz zu denen des Kapitals und des Staates zu entwickeln.


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