Sozialistische Zeitung |
Es ist vollbracht! Die Totengräber der Republik, vom rechten wie vom linken Teil des Politspektrums,
haben ihr Ziel erreicht: Der Deutsche Bundestag stellt seine Tätigkeit ein. Über die Geschicke deutschen Landes soll künftig
wieder in einem Großpreußischen Reichstag abgestimmt werden.
An diversen Ministerien in der neu-alten Hauptstadt wird noch gebaut - vorläufig nicht auf der "in"-Liste stehen
"für Volksaufklärung und Propaganda", "für die besetzten Ostgebiete" u. dgl., das Ende der letzten
Inhaber dieser Ämter schreckt doch etwas ab.
Eine Geschichtsendlagerstätte gleich um die Ecke ist in Planung, die Täter können endlich an den Ort des Verbrechens
zurückkehren, es braucht keinen Sherlock Holmes, sie zu ertappen.
Deutschland tritt mit dem Umzug in die Fußstapfen eines historischen Irrweges, der irgendwo bei Bismarck begann und mit einem
gigantischen - materiellen und moralischen - Trümmerhaufen rund um den Führerbunker endete.
Pünktlich zum 50.Jahrestag und unter Tornadogedröhn ist die Republik bereit, Selbstmord zu begehen (immerhin bleibt man in der
Tradition: Seit dem 18.Jahrhundert hat kein politisches System in Deutschland länger als 50 Jahre bestanden). 50 Jahre Bonner Republik
sind - allen Filbingers, Heusingers und Kiesingers zum Trotz - immerhin auch ein (bis zum 24.März 1999) halbwegs friedliches halbes
Jahrhundert mit einer zunächst von außen geschenkten, dann aber auch nach innen erstrittenen bürgerlich-parlamentarischen
Demokratie. Diese entwickelte einen zivilisatorischen Standard, über den hinauszukommen dringend notwendig ist, hinter den man aber
auch nicht mehr zurückfallen mochte. Zumindest gab es die Hoffnung der historischen Perspektive, daß die Zeit für eine
demokratischere, selbstbestimmtere und verantwortlichere (wirklich verantwortlich, nicht dauernd davon schwätzende) Gesellschaft
arbeite.
Jene andere Stadt dagegen, die sich am liebsten nur "Die Hauptstadt" nennen läßt (wie wohlklingend ist da doch das
"Bundesdorf"), und die innigst zu lieben und zu bewundern patriotische Pflicht eines jeden Deutschen und natürlich einer
jeden Deutschin sein soll, bietet nichts, aber auch rein gar nichts, woran anzuknüpfen sich lohnte, es sei denn, man hielte es für
anknüpfenswert, daß dort einst Kaiser Wilhelm und der Gröfaz residierten, oder man wollte die ebenso elenden wie
vergeblichen Krämpfe der sog. Weimarer Republik - die ja in Wirklichkeit eine Berliner Republik war! - noch einmal
ausfechten.
Daß in einem Teil Berlins, wenn auch nicht gerade in Pankow, die meisten Staatsorgane der DDR ihren Sitz hatten, ist
demgegenüber geradezu ein Lichtblick, aber deswegen noch lange nicht nachahmenswert.
Dem widerspricht auch nicht, daß sich in einem anderen Teil Berlins, nicht überall in, aber auch nicht nur in Kreuzberg, ein
besonderes Soziotop entwickeln konnte, das mit seiner gesellschaftlichen Frische, seinem Umfang und auch mit seinem revolutionären
Schwung manches andere überragt. Alles, was das alternative und autonome Berlin getan und gefordert hat, war stets auch Absage an den
deutsch-nationalen Anspruch auf die Stadt.
Berlin als Deutsche Hauptstadt, das ist die Hauptstadt des Bismarckreiches, das diese nach dem Motto "Deutschland soll in
Preußen aufgehen" schuf, nachdem am 14.Juni 1866 der Deutsche Bundestag in Frankfurt am Main mit Mehrheit die Mobilmachung
der Bundesarmee gegen die vorangegangenen militärischen Provokationen Preußens beschlossen und damit der Krieg
Preußens gegen Deutschland begonnen hatte.
Bekanntlich erreichte Bismarck sein Ziel, indem Preußen, das bereits auf dem Wiener Kongreß umfangreiche neue Westgebiete
zugeschlagen bekommen hatte, nach gewonnenen Kriegen einige norddeutsche Staaten ganz annektierte, die anderen ebenso wie die
süddeutschen Staaten in ein von Preußen dominiertes Bündnis zwang, und Österreich (das später auf andere
Weise von Berlin abhängig wurde) aus Deutschland ausschloß. Die Nationalliberalen fing er - soweit das überhaupt noch
nötig war - mit dem Speckstück eines allgemeinen Männerwahlrechts für einen Reichstag, den er als Gegengewicht
zum Kaiser brauchte.
Raison dêtre dieses Deutschen Reiches war die Aufrechterhaltung eines schon zu seiner Zeit antiquierten Herrschaftssystems vor allem
ostelbischer Junker und seine Ausbreitung über maximale Teile Europas - wobei maximal für Bismarck hieß: soviel, wie
Preußen verdauen kann, worin er ein wenig besser Maß zu halten wußte als bei seiner persönlichen
Nahrungsaufnahme.
Eine Wandlung dieses Systems zum Besseren wäre 1918/19 möglich gewesen, hätte es nicht die allzeit bereite
Sozialdemokratie und den Versailler Vertrag gegeben, der vor allem ein Diktat des Unverstands und Verstoß gegen eigene Prinzipien
war. Die friedliche Vereinigung mit Deutschösterreich als Morgengabe für das neue, demokratische Deutschland hätte, wie
Sebastian Haffner ganz richtig feststellte, eine Möglichkeit geboten, daß vielleicht, ganz vielleicht eine Epoche des Friedens und
der Völkerfreundschaft (zumindest was man nach europäischen Maßstäben als solche bezeichnen kann) angebrochen
wäre. Die Berliner Republik (die dann vielleicht sogar eine Frankfurter Republik geworden wäre) bekam diese Chance nicht. Der
Wiener Kongreß hundert Jahre zuvor war klüger, dort schonte man das restaurierte Frankreich.
Über jenen trotz Straffälligkeit nicht ausgewiesenen staatenlosen Ausländer, der dann vom braunschweigischen Innenminister
gleich zum Regierungsrat ernannt wurde, brauchen wir keine Worte zu verlieren. Wohl aber über das "bessere Preußen"
bzw. Deutschland.
Es ist wahr, das "bessere Preußen" in Gestalt seiner Generalität plante 1938, vor den ganz großen Verbrechen,
einen Putsch zum Sturz des Gewaltherrschers. Der bis dahin begangene innere Terror des Hitlerfaschismus überstieg wohl das bei
Amtskollegen wie Franco, Salazar, Mussolini, Papadopoulos oder Pinochet - allesamt in der westlichen Welt geachtete Staatsmänner -
Übliche, hatte aber noch keine neue qualitative Stufe erreicht. Die KZs wären abgeschafft, SA und SS aufgelöst worden,
Ausbeutung und Repression wären etwas zivilisierter geworden. Deutschland/Preußen hätte seine Selbstreinigungskraft
bewiesen, längerfristig wäre vielleicht gar eine demokratische Entwicklung möglich gewesen.
Das Deutsche Reich wäre im Bündnis mit England Vormacht des Kontinents geblieben, hätte vielleicht seine
Interessenssphären gegen die Sowjetunion abgegrenzt oder auch mit den Westmächten gegen diese gekämpft (was ja Ziel der
Appeasementpolitik war), Amerika wäre aus Europa rausgehalten worden, das britische und auch das französische Weltreich
wären von Erschütterungen, die sie rasch zum Einsturz brachten, verschont geblieben - alles also keine schlechten Aussichten aus
bürgerlicher Perspektive. Und wenn wir das übliche Maß an Imperialismus und kapitalistischer Barbarei beiseitelassen, ein
vertretbares "Berliner System".
Allein den Generälen schwand der Mut zum Putsch, als die Briten sie nicht ernstnahmen. Nach dem "Riesenerfolg" des
Münchner Abkommens (den Hitler gar nicht als solchen empfand) fehlte auch die Grundlage dafür. Ein Putsch hätte sich
gegen die deutsche Regierung, gegen die englische Regierung und gegen die große Mehrheit des deutschen Volkes richten
müssen.
Aber nur Ludwig Beck zog daraus die einzig richtige Konsequenz und nahm seinen Abschied. Alle anderen wußten und planten, was sie
ausführten und hinter der von ihnen gehaltenen Front geschehen ließen. Endlose innere Kämpfe und schlaflose Nächte
hatten sie natürlich alle, als sie ihre Befehle zur Eröffnung eines Angriffskrieges gaben.
Daß das Attentat im Bürgerbräukeller scheiterte, das den Generälen noch einmal ihre Chance gegeben hätte, ist
hingegen eine wahre Tragik der Geschichte.
1945, als auch die Regierung Dönitz die avisierte Stelle als Konkursverwalter mangels Masse nicht antreten konnte, aber gab es nur einen
kategorischen Imperativ, und dieser forderte, ein für allemal Schluß zu machen mit jenem Hort des Militarismus und der Reaktion
namens Preußen, den das alliierte Kontrollratsgesetz vom Februar 1947 für aufgelöst erklärte. Dazu und zum
demokratischen Neuanfang gehörten die Bodenreform vor allem in Ostdeutschland - in jenem Gebiet, das zum Osten des noch
verbliebenen Deutschland geworden war (in den noch weiter östlich gelegenen preußischen Kerngebieten wurde eine weit
brutalere Bodenreform durchgeführt). Dazu gehörte die Neubildung der Länder, dazu gehört der konsequente Bruch mit
allen Symbolen und Insignien der alten Macht, heißen sie nun "Eisernes Kreuz", "Suum cuique" oder
"Hauptstadt".
Letzteres gelang leider weder in West noch in Ost. Die kommunistische Bewegung, durch den historischen Zufall in Besitz der meisten
ehemaligen Schaltstellen und des Kerns der "Hauptstadt", machte sich nicht nur an den (erfolgreichen) Beweis, daß
Proletarier und Revolutionäre noch spießigere petits bourgeois sein können, sondern auch, daß ein Rotes Preußen
möglich sei. Der Spitzel- und Überwachungsstaat, den sie installierte, erreichte aber eher Metternichsches Niveau (und
hinterließ eine ebensolche Ödnis in den Hirnen der Revolutionäre von 1848 wie 1989, die ihr Heil nur darin sahen, sich
möglichst schnell der nächstbesten Macht an den Hals zu werfen, die offensichtlich alle revolutionären Ideale mit
Füßen trat - so schnell, daß die derart umarmte Macht kaum wußte, wie ihr geschah).
Dieser Versuch hat inzwischen historisch abgedankt, ist auf dem Kehrichthaufen der Geschichte gelandet - ebenso wie ein Menschenalter zuvor
ein etwas anderer Versuch unter dem Ministerpräsidenten Otto Braun. Das schwarz-weiße Preußen und die rote Farbe
paßten nur zueinander, wenn die letztere Farbe Blut bedeutete.
In Trizonesien hingegen fanden sich die Preußen gewissermaßen im Exil, fern dem Griff auf die "Hauptstadt" und vom
historischen Zufall in das kleine Städtchen am Rhein gespült - ausgerechnet im katholischen und liberalen Rheinland (nebenbei der
reichsweit einzige Wahlkreis, in dem die NSDAP bei der Reichstagswahl 1933 auf gerade einmal 30 Prozent kam).
Drei Jahrzehnte lang versuchten nicht nur die physisch, auch die politisch aus ihrer Heimat Vertriebenen ebenso verbissen wie weitgehend
erfolglos, das Verlorene zurückzugewinnen. (Erfolgreicher war das Kapital, das kein Vaterland, sondern nur einen Standort kennt und
für den Verlust des Standorts Auschwitz entschädigt wurde.) Ein biologisch bedingtes Auslaufen dieser auch von
aufgeklärteren Kapitalisten langsam als geschäftsstörend empfundenen Bestrebungen schien bevorzustehen, da bot der
unerwartete Zusammenbruch des Ostblocks und insbesondere der DDR samt freier Ost-West-Achse durch das Brandenburger Tor ganz neue
Perspektiven.
Nun konnte man (die bürgerlich-liberal-sozialdemokratische Welt und alle, die in der Mitte dieser Gesellschaft ankommen wollten) auch
alles gegen den Willen der deutsch-nationalen Restauration errungene Bundesrepublikanische für historisch abgedankt erklären.
Nur der christliberale Politkatholizismus knurrte etwas, bei welcher Gelegenheit mancher überhaupt erst wieder dessen Existenz
wahrnahm. Letztlich war aber auch ihm das deutsch-nationale Hemd näher als der rheinische Rock. (Schon Camphausen hat hier
versagt.)
Statt all der teilstaatlichen Faxen könne, nein müsse man jetzt auf zwar reduziertem Staatsgebiet, aber dafür mit viel
moderneren Möglichkeiten, mit all den vielen positiven, guten, wahren, schönen Dingen weitermachen, mit den man
1848/1871/1918 begonnen hatte, an der Fortführung leider durch gewisse Fehlentwicklungen in der Mitte des Jahrhunderts unterbrochen
und später durch die bösen Kommunisten gehindert worden war (sog. Kleine-braune-Männchen-aus-dem-Weltall-
Theorie).
Doch gerade diese - fortsetzbare - Reihe von Daten, deren Bewegungen zwanghaft immer auf ein neu-altes Machtzentrum in der
preußischen Hauptstadt hinausliefen, kann nur eine historische Erkenntnis zutage fördern: Scheiße ist nicht
reformierbar!
"Bonn war auch nicht besser", wird mir gesagt. Zumindest hat es in Bonn bislang kein Reichssicherheitshauptamt gegeben (und
schon die Reaktion des Bonner Hofes anno 1730 auf die öffentliche Ohrfeigung des preußischen Kronprinzen Friedrich zwo durch
seinen Vater bestand in barem Entsetzen über solche Unzivilisiertheit).
Aber es muß ja nicht Bonn sein. Wenn denn partout nach der Vereinnahmung Neufünflands ein neuer Sitz für Parlament und
Regierung sein sollte, wäre das historische Frankfurt ob seiner erdrückenden Wirtschaftsmacht wohl keine besonders gute Wahl
mehr (unter einer "Stadt der kurzen Wege" stellen wir uns etwas anderes vor). Der etwas abseitig wirkende Vorschlag Regensburg
(wo immerhin schon zwei Jahrhunderte ein Reichstag seinen Sitz hatte, der keinem Überfall auf ein anderes Land seine Zustimmung gab),
war an sich gar nicht dumm.
Wenn nach Machiavellischem Rat ("Il Principe", Kap. 5) der Sitz im neueroberten Gebiet zu nehmen sei, kämen Erfurt,
Treffurt, Querfurt oder sonstwas in Frage. Wenn es überhaupt ein Umzug sein muß, um die Baumafia zu bedienen, kann die neue
Hauptstadt von mir aus Waldmichelbach oder Breitengüßbach heißen. Abgesehen davon, daß es für die
Kommunalentwicklung der Stadt Bonn durchaus von Vorteil sein könnte, wenn die Regierung verschwindet, wäre es sowieso das
beste, die Regierung ginge lieber heute als morgen zum Teufel - aber nicht nach Berlin!
Bleibt nur zu hoffen, daß Deutschland auf den Pfad der Vernunft zurückkehrt, ohne daß wieder ganz Europa in Trümmer
sinken muß, und daß möglichst viele von uns das noch erleben können.
Bernhard Strowitzki