Sozialistische Zeitung |
Der in Reims geborene Daniel Goeudevert, ehemals Vorstandsvorsitzender der deutschen Ford-Werke und
Mitglied des Konzernvorstands von VW, hat als "Querdenker" seine Managerkarriere - nicht ganz freiwillig - aufgegeben. Seine
bitteren Erkenntnisse über den zerstörerischen Charakter des "Turbokapitalismus" hat er in seiner Autobiografie Wie
ein Vogel im Aquarium und dem jetzt erschienenen zweiten Buch Mit Träumen beginnt die Realität öffentlich gemacht.
Gerade weil er glaubt, es sei möglich "die kreativen Kräfte des Kapitalismus freizulegen", ihnen ein
"menschliches Gesicht zu geben" und so der Zerstörung Einhalt zu gebieten, gewinnen seine Aussagen besondere
Glaubwürdigkeit.
"Der moderne Kapitalismus ist verrückt geworden. Er ist außer Rand und Band geraten und das Elend - überwiegend
psychisches auf der Nordhalbkugel und physisches auf der Südhalbkugel -, das auf dem Bodensatz seiner Skrupellosigkeit gedeiht, ist
zum Erbarmen", schreibt Goeudevert. Und: "In unserer Shareholder-value-Gesellschaft kommt immer erst die Rendite, dann die
Moral. Ich glaube, hier wird Amok gelaufen, die Wirtschaft überdreht. Die Amerikaner nennen diesen Geschwindigkeitsrausch
‚Turbokapitalismus … Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, die unser Gefühlsleben und unser Denken am tiefsten
verstört. Wir befinden uns nicht in einer Globalisierungsfalle, sondern in einer Beschleunigungsfalle. Was die moderne Wirtschaftswelt
prägt, das ist die Unsicherheit, Ungewissheit, Schnelllebigkeit. Hatte man als Manager vor zwanzig Jahren noch längere
Zeiträume im Blick, zwei, drei, fünf oder gar zehn Jahre, so gilt heute schon ein Einjahresplan als langfristig."
Der ehemalige Manager berichtet, dass, als Jürgen Schrempp im Mai 1995 die Führung von Daimler-Benz übernahm, Fokker
und AEG stilllegte und ankündigte, er würde im Laufe der folgenden drei Jahre mehr als 50000 Stellen streichen, die Daimler-
Aktie sofort um satte 20% in die Höhe schnellte. Die Aktionäre wurden praktisch über Nacht um rund 10 Milliarden reicher.
Wall Street Journal und Business Week feierten Schrempp dafür quasi zur Belohnung als Revolutionär, der den deutschen
Schmusekurs mit den Arbeitnehmern endlich aufgegeben habe. "Welch eine perverse Entwicklung", kommentiert Goeudevert.
"Für andere Maßnahmen, Erfindung neuer Produktlinien, Förderung von Teamgeist und Kreativität, hat der
Manager in der kurzen Frist, in der er sich beweisen muss, gar nicht genug Zeit. So resultiert aus dem Zwang zum Erfolg eine zunehmende
soziale Kälte, eine Gleichgültigkeit gegenüber der sozialen Realität."
Von einem Düsseldorfer Bankier zitiert Goeudevert Folgendes als Beschreibung der Börsen der Welt: "Etwa eine Million
Finger liegen auf 100000 Computertastaturen bereit, die in Sekundenschnelle aufgrund einer Miniinformation (‚Jelzin ist nüchtern)
die Kauf- oder Verkaufstaste drücken und mittels solcher ‚Fingerspiele täglich mehr als 2000 Milliarden US-Dollar in
Bewegung halten. Nur weniger als 10% dieser enormen Summe dienen dem Güteraustausch, haben also einen realen Gegenwert an
Dienstleistungen oder an Produkten. Der große Rest ist derivativ, virtuell oder wie immer man das nennen will. Da tickt in meinen Augen
eine Zeitbombe."
Goeudeverts Schlussfolgerung lautet: "Die Gesellschaft wird immer mehr zur Ressource, zum Appendix der Wirtschaft. Die
Ökonomie ist nicht länger Mittel zum Zweck, etwa um den ‚Wohlstand der Nationen, den ein Adam Smith noch im Sinn
hatte, zu mehren, sondern umgekehrt. Die zu Absatzmärkten und Arbeitskräftereservoirs, zu ‚Standorten degradierten
Nationen und Gesellschaften erscheinen nunmehr als Mittel zum Zweck um die Gewinne der Unternehmen und den ‚Wohlstand der
Aktionäre zu mehren. Das ist mehr als eine Verkürzung, es ist eine Perversion. Die freie Marktwirtschaft droht zu einem
bloß noch ökonomischen Regelsystem zu verkommen, das sich von allen gesellschaftlichen Bindungen ‚befreit - außer
von der nur beschränkt haftenden ‚Gesellschaft der Aktionäre."
Für Daniel Goeudevert scheint keine Demokratie ohne den Traum von Freiheit, kein Sozialstaat ohne den Traum von Gerechtigkeit, keine
Luftfahrt ohne den Traum vom Fliegen möglich. Darum auch: "Mit Träumen beginnt die Realität."