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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 19.08.1999, Seite 13

Öcalan, Ecevit, Fischer & Koh

Wer demokratisiert die Türkei?

In den Dörfern und Kleinstädten Kurdistans häufen sich in diesen Tagen ungewöhnliche Telefonanrufe. Söhne, Töchter, Neffen und Nichten, allesamt KämpferInnen der ARGK, melden sich aus den Bergen bei Ihren Anverwandten. Sie bitten um die Überlassung von Zivilkleidung, die sie gegen die Guerillauniformen austauschen können. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zieht sich ins Zivilleben zurück.
"Ich rufe dazu auf, ab dem 1.September 1999 den bewaffneten Kampf zu beenden und alle bewaffneten Kräfte auf Territorien außerhalb der türkischen Staatsgrenzen zurückzuziehen", hatte Abdullah Öcalan, an die PKK gewandt, am 2.August seinen Anwälten in die Feder diktiert. Die PKK antwortete prompt. Nur drei Tage später erklärte der Präsidialrat der PKK seine uneingeschränkte Zustimmung zum Rückzug. Am 9.August legte das Zentralkomitee nach und kündigte einen außerordentlichen Parteikongress an, der über eine Änderung des Programms die Umwandlung von der Guerilla zu einer zivilen politischen Partei beschließen soll.
Lassen Öcalan und die PKK demnach mit der Anweisung zum Rückzug die eigenen Truppen ins offene Messer laufen? Rückzugsgarantien für die KämpferInnen aus den Bergen hat der türkische Staat nicht zugesagt. Man werde die "Terroristen" weiter verfolgen und bekämpfen heißt es in Ankara lakonisch. Einen Dialog werde es selbstverständlich nicht geben.
Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, wie sich das türkische Militär verhält. Denn ausschließlich von dessen Friedensbereitschaft wird es abhängen, ob Hunderte oder gar Tausende von KämpferInnen während des mit Datum und Zielrichtung öffentlich benannten Rückzugs ihr Leben lassen müssen. Und auch für jene, denen es gelingen sollte, syrisches, iranisches oder irakisches Territorium zu erreichen, ist die Zukunft mehr als ungewiss.
Syrien hat unter türkischem Druck bereits im vergangenen Jahr seine Haltung gegenüber der PKK deutlich verändert. In ähnlicher Weise sieht ein vor wenigen Tagen mit dem Iran geschlossenes Abkommen die gemeinsame Bekämpfung der Aufständischen vor. Und im Nordirak führen türkische Truppen, mit Unterstützung der KDP des feudalistischen kurdischen Clanführers Barzani, ohnehin seit Jahren Krieg gegen Stellungen der PKK. Vorsorglich hat die PKK nun für diese Front ebenfalls einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen, der von der KDP umgehend zurückgewiesen wurde. Lediglich Clanführer Talabani hat für das von der PUK kontrollierte Territorium signalisiert, dass er PKK-KämpferInnen, die als "Flüchtlinge" kämen, nach den internationalen Vereinbarungen Zuflucht gewähren werde.
In dieser schier ausweglosen Situation hat Öcalan keine Bedingungen an den Rückzug geknüpft. Sein Auftreten gegenüber den türkischen Machthabern bewegt sich ungetrübt weiter auf der Ebene einseitiger Vorleistungen, deren einzige Grundlage die Hoffnung ist, die Türkei möge sich in Zukunft so verhalten, wie sie es bisher niemals getan hat. Diese zur Friedensinitiative schöngeredete Kapitulation der PKK überlässt das Feld von Frieden, Demokratisierung und politischer Lösung ausschließlich dem politischen Willen Ankaras und den gestalterischen Absichten von USA und Europäischer Union.
So erklärt das Zentralkomitee der PKK auch unumwunden, dass die Hegemonie der USA und die "Neue Weltordnung" die Zukunft des Nahen Ostens gestalten werden. "Welche Kräfte im Mittleren Osten auch immer dagegen Widerstand leisten, sie werden sich früher oder später dieser neuen Ordnung gemäß anpassen müssen", heißt es in klaren Worten.
Welche Kräfte auch immer Widerstand leisten oder auch nur einen gestalterischen Einfluss auf die Zukunft der Region nehmen wollen, die PKK jedenfalls wird es folglich wohl nicht länger sein. Und so ist es auch nur konsequent, dass sich zwischen zahlreichen Worthülsen in den Erklärungen der zukünftigen "politischen Partei" keine politischen Positionen oder gar Forderungen mehr ausmachen lassen. Unterdessen basteln unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit längst andere an der Veränderung der Türkei.
In einer nie dagewesenen Pendeldiplomatie gaben sich in den letzten Wochen US-Verteidigungsminister Cohen, die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestags, Claudia Roth, Bundesaußenminister Fischer und der für Demokratie, Menschenrechte und Arbeit zuständige Staatssekretär der US-Regierung Harold Koh die Klinken in Ankara in die Hand. Während Cohens Reise in erster Linie eine Lösung der Zypernfrage zum Gegenstand hatte, äußerten sich alle übrigen Gäste in einmütiger Eindeutigkeit auch öffentlich kritisch gegenüber der Menschenrechtssituation und mahnten - unter Betonung ihrer freundschaftlichen Verbundenheit mit der Türkei - demokratische Reformen und eine Gewährung kultureller Minderheitenrechte an.
Auf einer Pressekonferenz in der US-Botschaft erklärte Koh, bezogen auf die Situation der kurdischen Bevölkerung: "Sie wollen türkische Staatsbürger bleiben und die einfachsten Menschenrechte genießen, die allen Menschen nach internationalem Recht garantiert sind, unter Einschluss des Rechts, sich in der eigenen Sprache und Kultur auszudrücken und der Freiheit politische Parteien zu gründen, die ihre Interessen vertreten. Weit davon entfernt die territoriale Integrität der Türkei zu verletzen würde eine einbindende Politik, die diese Rechte anerkennt, den türkischen Staat stärken, indem sie die kurdische Bevölkerung zu einem natürlichen Pfeiler in der Zukunft des Landes macht … Es kann keine rein militärische Lösung der kurdischen Frage geben."
Unter Bezugnahme auf die Verfolgung von MenschenrechtsaktivistInnen fügte Koh hinzu: "Ich habe türkische Regierungsvertreter ermutigt, die Verteidiger von Menschenrechten, als ihre Verbündeten, nicht als ihre Gegner zu sehen, wenn sie sie sich auf den Weg begeben nötige Reformen einzuleiten."
Den inhaftierten ehemaligen Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal, hatte Koh ebenso im Gefängnis besucht, wie die seinerzeit aus dem Parlament heraus verhaftete kurdische Abgeordnete Leyla Zana. Claudia Roth war ein solcher Besuch wenige Wochen zuvor verweigert worden.
Auch Fischer hatte zu Beginn seines Besuchs in Ankara zunächst dem IHD seine Aufwartung gemacht, bevor er sich mit Regierungsvertretern traf.
Wie zuvor Fischer verlieh Koh seiner Hoffnung Ausdruck, in der Türkei sei der Startschuss für demokratische Reformen jetzt gefallen: "Diese Reise hat meine Hoffnung gestärkt, dass Premierminister Ecevit die Freiheit der Meinungsäußerung sichern, Folter und Straffreiheit [für Folterer] beenden, Menschenrechtler schützen und die Aussöhnung mit der kurdischen Bevölkerung der Türkei anstreben wird."
Und in der Tat deuten sich seit einigen Wochen erste zaghafte Reformchancen für die Türkei an. Außenpolitisch bestimmen Gespräche mit Athen den neuen Kurs, auch wenn dort bislang nicht über die Zypernfrage diskutiert wird.
Innenpolitisch steht die Diskussion über Demokratisierung hoch im Kurs. So hat die Ecevit-Regierung die Führungsspitze von HADEP aus der Untersuchungshaft entlassen. Staatspräsident Demirel traf sich gar mit einer Delegation von deren neu gewählten BürgermeisterInnen. Der Justizausschuss verabschiedete einen Gesetzentwurf, der das Strafmaß für Folterungen heraufsetzen soll. Auch ein Menschenrechtserziehungsprogramm für Staatsangestellte soll Folter künftig entgegenwirken. Und eine Lockerung des Gesetzes, das Parteien auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, wurde im Parlament gebilligt.
Gegenüber Fischer wurde - als Teil der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien, die die Aufnahme in die EU ermöglichen sollen - ein umfangreiches Justizreformpaket in Aussicht gestellt. Dessen Bestandteile drohen derzeit jedoch bereits im Keim zu ersticken. So soll ein umfangreiches Amnestiegesetz zwar Häftlinge entlassen, die wegen Mord, Vergewaltigung oder Entführung in türkischen Gefängnissen einsitzen, nicht jedoch SchriftstellerInnen, JournalistInnen, PolitikerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen, die wegen sog. "Verbrechen gegen den Staat" verurteilt wurden. Ein an sich begrüßenswertes neues Gesetz, das die mit dem staatlichen Apparat eng verknüpften Mafiastrukturen zerschlagen soll, schränkt allerdings gleichzeitig die Pressefreiheit weiter ein.
Die von Ecevit einst versprochene Abschaffung der Todesstrafe wird nicht mehr innerhalb der Regierung, jedoch wenigstens noch in den Medien diskutiert. Ob erste zaghafte Überlegungen zur Aufhebung des Ausnahmezustands in Kurdistan, wie von Mesut Yilmaz im Zeitungsinterview angedeutet, von der veröffentlichten Meinung gleichermaßen positiv aufgenommen werden, bleibt abzuwarten.
In den Kolumnen der Zeitungen findet derzeit der eigentliche Reformprozess statt. Mit ungewöhnlicher Offenheit fordern dort ehemalige Botschafter und landesweit als Sprachrohre staatlicher Meinungsmache bekannte Journalisten tatsächlich Demokratisierung, bis hin zu einer politischen Lösung für die kurdischen Gebiete, nach dem Vorbild von Palästina, Baskenland oder Nordirland.
Auch hohe Richter und Vertreter der Spitzenverbände der türkischen Wirtschaft sprechen sich in Erklärungen und Interviews für weitreichende Reformen, bis hin zu Verfassungsänderungen aus. Unterdessen aber setzt der türkische Staat den Kampf gegen die PKK und all jene Oppositionellen, die der Zusammenarbeit mit der PKK bezichtigt werden, unbeirrt fort. Aus Moldawien entführte der türkische Geheimdienst den ERNK-Kader Cevat Soysal, stilisierte ihn propagandistisch zur Nummer Zwei der PKK hoch, folterte ihn über eine Woche um anschließend auf ein vermeintliches Geständnis hin "die üblichen Verdächtigen" der HADEP zu verhaften. Die Anklage fordert die Todesstrafe für Soysal.
Täglich werden weiter ZivilistInnen ermordet, wie zuletzt bei einem Überfall auf einen Kleinbus in der Nähe der kurdischen Ortschaft Cigdemli, bei dem sechs Menschen umgebracht wurden. Auch das Attentat auf den bekannten türkischen Gewerkschaftsführer Semsi Denizer, bei dem dieser - auf dem Höhepunkt der Streikwellen gegen das geplante Strukturanpassungsprogramm des IWF - vor seinem Haus in Zonguldak mit sechs Kopfschüssen ermordet wurde, zeigt, dass Militär und Todesschwadronen weiter ungehindert ihr Unwesen treiben. Vor diesem Hintergrund und fortgesetzten Angriffen auf irakisches Territorium in Südkurdistan, überraschen auch die jüngsten Bombardierungen von aserbaidschanischen Dörfern im Iran kaum.
"Demokratisierung" in ihrer türkischen Variante bietet daher nach wie vor keinen Anlass für ungebremsten Optimismus. Inszeniert in den USA und in Europa stellt sie ein Schauspiel zur Beruhigung der Weltöffentlichkeit dar, das primär aus dem Angebot an alle Oppositionellen besteht, sich in staatstragende Strukturen eingliedern zu lassen. Im Austausch dafür ist mit einigen kleineren Verbesserungen zu rechnen. Das jüngst im Parlament eingereichte "Reuegesetz" richtet sich in diesem Sinne explizit an Mitglieder der PKK.
In Bezug auf die Führungsebene der PKK scheint diese Rechnung aufzugehen. Obgleich explizit vom Reuegesetz ausgenommen, bereuen sie am allerlautesten.
Für jene Opposition aber, die mit "Widerstand" jedoch gleichzeitig "Emanzipation", mit "Demokratie" stets auch "Freiheit" und mit "Frieden" in jedem Falle "Würde" verband und verbindet, wird der politische Kampf leider noch über lange Zeit fortgeführt werden müssen.
Knut Rauchfuss


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