Sozialistische Zeitung |
In den Dörfern und Kleinstädten Kurdistans häufen sich in diesen Tagen
ungewöhnliche Telefonanrufe. Söhne, Töchter, Neffen und Nichten, allesamt KämpferInnen der ARGK, melden sich
aus den Bergen bei Ihren Anverwandten. Sie bitten um die Überlassung von Zivilkleidung, die sie gegen die Guerillauniformen
austauschen können. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zieht sich ins Zivilleben zurück.
"Ich rufe dazu auf, ab dem 1.September 1999 den bewaffneten Kampf zu beenden und alle bewaffneten Kräfte auf Territorien
außerhalb der türkischen Staatsgrenzen zurückzuziehen", hatte Abdullah Öcalan, an die PKK gewandt, am
2.August seinen Anwälten in die Feder diktiert. Die PKK antwortete prompt. Nur drei Tage später erklärte der
Präsidialrat der PKK seine uneingeschränkte Zustimmung zum Rückzug. Am 9.August legte das Zentralkomitee nach und
kündigte einen außerordentlichen Parteikongress an, der über eine Änderung des Programms die Umwandlung von der
Guerilla zu einer zivilen politischen Partei beschließen soll.
Lassen Öcalan und die PKK demnach mit der Anweisung zum Rückzug die eigenen Truppen ins offene Messer laufen?
Rückzugsgarantien für die KämpferInnen aus den Bergen hat der türkische Staat nicht zugesagt. Man werde die
"Terroristen" weiter verfolgen und bekämpfen heißt es in Ankara lakonisch. Einen Dialog werde es
selbstverständlich nicht geben.
Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, wie sich das türkische Militär verhält. Denn ausschließlich von
dessen Friedensbereitschaft wird es abhängen, ob Hunderte oder gar Tausende von KämpferInnen während des mit Datum
und Zielrichtung öffentlich benannten Rückzugs ihr Leben lassen müssen. Und auch für jene, denen es gelingen sollte,
syrisches, iranisches oder irakisches Territorium zu erreichen, ist die Zukunft mehr als ungewiss.
Syrien hat unter türkischem Druck bereits im vergangenen Jahr seine Haltung gegenüber der PKK deutlich verändert. In
ähnlicher Weise sieht ein vor wenigen Tagen mit dem Iran geschlossenes Abkommen die gemeinsame Bekämpfung der
Aufständischen vor. Und im Nordirak führen türkische Truppen, mit Unterstützung der KDP des feudalistischen
kurdischen Clanführers Barzani, ohnehin seit Jahren Krieg gegen Stellungen der PKK. Vorsorglich hat die PKK nun für diese Front
ebenfalls einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen, der von der KDP umgehend zurückgewiesen wurde. Lediglich Clanführer
Talabani hat für das von der PUK kontrollierte Territorium signalisiert, dass er PKK-KämpferInnen, die als
"Flüchtlinge" kämen, nach den internationalen Vereinbarungen Zuflucht gewähren werde.
In dieser schier ausweglosen Situation hat Öcalan keine Bedingungen an den Rückzug geknüpft. Sein Auftreten
gegenüber den türkischen Machthabern bewegt sich ungetrübt weiter auf der Ebene einseitiger Vorleistungen, deren einzige
Grundlage die Hoffnung ist, die Türkei möge sich in Zukunft so verhalten, wie sie es bisher niemals getan hat. Diese zur
Friedensinitiative schöngeredete Kapitulation der PKK überlässt das Feld von Frieden, Demokratisierung und politischer
Lösung ausschließlich dem politischen Willen Ankaras und den gestalterischen Absichten von USA und Europäischer
Union.
So erklärt das Zentralkomitee der PKK auch unumwunden, dass die Hegemonie der USA und die "Neue Weltordnung" die
Zukunft des Nahen Ostens gestalten werden. "Welche Kräfte im Mittleren Osten auch immer dagegen Widerstand leisten, sie
werden sich früher oder später dieser neuen Ordnung gemäß anpassen müssen", heißt es in klaren
Worten.
Welche Kräfte auch immer Widerstand leisten oder auch nur einen gestalterischen Einfluss auf die Zukunft der Region nehmen wollen,
die PKK jedenfalls wird es folglich wohl nicht länger sein. Und so ist es auch nur konsequent, dass sich zwischen zahlreichen
Worthülsen in den Erklärungen der zukünftigen "politischen Partei" keine politischen Positionen oder gar
Forderungen mehr ausmachen lassen. Unterdessen basteln unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit längst andere an der
Veränderung der Türkei.
In einer nie dagewesenen Pendeldiplomatie gaben sich in den letzten Wochen US-Verteidigungsminister Cohen, die Vorsitzende des
Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestags, Claudia Roth, Bundesaußenminister Fischer und der für Demokratie,
Menschenrechte und Arbeit zuständige Staatssekretär der US-Regierung Harold Koh die Klinken in Ankara in die Hand.
Während Cohens Reise in erster Linie eine Lösung der Zypernfrage zum Gegenstand hatte, äußerten sich alle
übrigen Gäste in einmütiger Eindeutigkeit auch öffentlich kritisch gegenüber der Menschenrechtssituation und
mahnten - unter Betonung ihrer freundschaftlichen Verbundenheit mit der Türkei - demokratische Reformen und eine Gewährung
kultureller Minderheitenrechte an.
Auf einer Pressekonferenz in der US-Botschaft erklärte Koh, bezogen auf die Situation der kurdischen Bevölkerung: "Sie
wollen türkische Staatsbürger bleiben und die einfachsten Menschenrechte genießen, die allen Menschen nach
internationalem Recht garantiert sind, unter Einschluss des Rechts, sich in der eigenen Sprache und Kultur auszudrücken und der Freiheit
politische Parteien zu gründen, die ihre Interessen vertreten. Weit davon entfernt die territoriale Integrität der Türkei zu
verletzen würde eine einbindende Politik, die diese Rechte anerkennt, den türkischen Staat stärken, indem sie die kurdische
Bevölkerung zu einem natürlichen Pfeiler in der Zukunft des Landes macht … Es kann keine rein militärische Lösung
der kurdischen Frage geben."
Unter Bezugnahme auf die Verfolgung von MenschenrechtsaktivistInnen fügte Koh hinzu: "Ich habe türkische
Regierungsvertreter ermutigt, die Verteidiger von Menschenrechten, als ihre Verbündeten, nicht als ihre Gegner zu sehen, wenn sie sie
sich auf den Weg begeben nötige Reformen einzuleiten."
Den inhaftierten ehemaligen Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal, hatte Koh ebenso im Gefängnis besucht, wie die
seinerzeit aus dem Parlament heraus verhaftete kurdische Abgeordnete Leyla Zana. Claudia Roth war ein solcher Besuch wenige Wochen zuvor
verweigert worden.
Auch Fischer hatte zu Beginn seines Besuchs in Ankara zunächst dem IHD seine Aufwartung gemacht, bevor er sich mit
Regierungsvertretern traf.
Wie zuvor Fischer verlieh Koh seiner Hoffnung Ausdruck, in der Türkei sei der Startschuss für demokratische Reformen jetzt
gefallen: "Diese Reise hat meine Hoffnung gestärkt, dass Premierminister Ecevit die Freiheit der Meinungsäußerung
sichern, Folter und Straffreiheit [für Folterer] beenden, Menschenrechtler schützen und die Aussöhnung mit der kurdischen
Bevölkerung der Türkei anstreben wird."
Und in der Tat deuten sich seit einigen Wochen erste zaghafte Reformchancen für die Türkei an. Außenpolitisch bestimmen
Gespräche mit Athen den neuen Kurs, auch wenn dort bislang nicht über die Zypernfrage diskutiert wird.
Innenpolitisch steht die Diskussion über Demokratisierung hoch im Kurs. So hat die Ecevit-Regierung die Führungsspitze von
HADEP aus der Untersuchungshaft entlassen. Staatspräsident Demirel traf sich gar mit einer Delegation von deren neu gewählten
BürgermeisterInnen. Der Justizausschuss verabschiedete einen Gesetzentwurf, der das Strafmaß für Folterungen heraufsetzen
soll. Auch ein Menschenrechtserziehungsprogramm für Staatsangestellte soll Folter künftig entgegenwirken. Und eine Lockerung
des Gesetzes, das Parteien auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, wurde im Parlament gebilligt.
Gegenüber Fischer wurde - als Teil der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien, die die Aufnahme in die EU ermöglichen sollen
- ein umfangreiches Justizreformpaket in Aussicht gestellt. Dessen Bestandteile drohen derzeit jedoch bereits im Keim zu ersticken. So soll ein
umfangreiches Amnestiegesetz zwar Häftlinge entlassen, die wegen Mord, Vergewaltigung oder Entführung in türkischen
Gefängnissen einsitzen, nicht jedoch SchriftstellerInnen, JournalistInnen, PolitikerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen, die wegen sog.
"Verbrechen gegen den Staat" verurteilt wurden. Ein an sich begrüßenswertes neues Gesetz, das die mit dem staatlichen
Apparat eng verknüpften Mafiastrukturen zerschlagen soll, schränkt allerdings gleichzeitig die Pressefreiheit weiter ein.
Die von Ecevit einst versprochene Abschaffung der Todesstrafe wird nicht mehr innerhalb der Regierung, jedoch wenigstens noch in den
Medien diskutiert. Ob erste zaghafte Überlegungen zur Aufhebung des Ausnahmezustands in Kurdistan, wie von Mesut Yilmaz im
Zeitungsinterview angedeutet, von der veröffentlichten Meinung gleichermaßen positiv aufgenommen werden, bleibt
abzuwarten.
In den Kolumnen der Zeitungen findet derzeit der eigentliche Reformprozess statt. Mit ungewöhnlicher Offenheit fordern dort ehemalige
Botschafter und landesweit als Sprachrohre staatlicher Meinungsmache bekannte Journalisten tatsächlich Demokratisierung, bis hin zu
einer politischen Lösung für die kurdischen Gebiete, nach dem Vorbild von Palästina, Baskenland oder
Nordirland.
Auch hohe Richter und Vertreter der Spitzenverbände der türkischen Wirtschaft sprechen sich in Erklärungen und Interviews
für weitreichende Reformen, bis hin zu Verfassungsänderungen aus. Unterdessen aber setzt der türkische Staat den Kampf
gegen die PKK und all jene Oppositionellen, die der Zusammenarbeit mit der PKK bezichtigt werden, unbeirrt fort. Aus Moldawien
entführte der türkische Geheimdienst den ERNK-Kader Cevat Soysal, stilisierte ihn propagandistisch zur Nummer Zwei der PKK
hoch, folterte ihn über eine Woche um anschließend auf ein vermeintliches Geständnis hin "die üblichen
Verdächtigen" der HADEP zu verhaften. Die Anklage fordert die Todesstrafe für Soysal.
Täglich werden weiter ZivilistInnen ermordet, wie zuletzt bei einem Überfall auf einen Kleinbus in der Nähe der kurdischen
Ortschaft Cigdemli, bei dem sechs Menschen umgebracht wurden. Auch das Attentat auf den bekannten türkischen
Gewerkschaftsführer Semsi Denizer, bei dem dieser - auf dem Höhepunkt der Streikwellen gegen das geplante
Strukturanpassungsprogramm des IWF - vor seinem Haus in Zonguldak mit sechs Kopfschüssen ermordet wurde, zeigt, dass Militär
und Todesschwadronen weiter ungehindert ihr Unwesen treiben. Vor diesem Hintergrund und fortgesetzten Angriffen auf irakisches Territorium
in Südkurdistan, überraschen auch die jüngsten Bombardierungen von aserbaidschanischen Dörfern im Iran
kaum.
"Demokratisierung" in ihrer türkischen Variante bietet daher nach wie vor keinen Anlass für ungebremsten Optimismus.
Inszeniert in den USA und in Europa stellt sie ein Schauspiel zur Beruhigung der Weltöffentlichkeit dar, das primär aus dem
Angebot an alle Oppositionellen besteht, sich in staatstragende Strukturen eingliedern zu lassen. Im Austausch dafür ist mit einigen
kleineren Verbesserungen zu rechnen. Das jüngst im Parlament eingereichte "Reuegesetz" richtet sich in diesem Sinne explizit
an Mitglieder der PKK.
In Bezug auf die Führungsebene der PKK scheint diese Rechnung aufzugehen. Obgleich explizit vom Reuegesetz ausgenommen, bereuen
sie am allerlautesten.
Für jene Opposition aber, die mit "Widerstand" jedoch gleichzeitig "Emanzipation", mit "Demokratie"
stets auch "Freiheit" und mit "Frieden" in jedem Falle "Würde" verband und verbindet, wird der
politische Kampf leider noch über lange Zeit fortgeführt werden müssen.
Knut Rauchfuss