Sozialistische Zeitung |
Frau Steven, was wird Ihnen konkret vorgeworfen?
Das Amtsgericht Tiergarten hat gegen mich einen Strafbefehl erlassen. Angeklagt werde ich, weil ich "gemeinschaftlich mit weiteren als
,Erstunterzeichner aufgeführten Personen öffentlich durch Verbreitung von Schriften … zu einer rechtswidrigen Tat,
nämlich zur Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung aufgefordert" hätte. Selbstverständlich habe ich Widerspruch
eingelegt.
Auch die Staatsanwaltschaft Bonn ermittelt gegen mich, weil der Aufruf an die Soldaten der Bundeswehr, sich nicht an diesem grundrechts- und
völkerrechtswidrigen Krieg zu beteiligen, als Flugblatt auf der Hardthöhe in Bonn verteilt worden ist. Außerdem habe ich auf
einer Kundgebung bei einer Sitzblockade vor dem Kriegsministerium zur Verweigerung jeder Beteiligung an diesem Krieg aufgerufen. Auch
deswegen ermittelt die Staatsanwaltschaft Bonn.
Welche Personen sind von der Ermittlungen betroffen?
Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt gegen alle 28 UnterzeichnerInnen eines entsprechenden Aufrufes, der in einer Anzeige in der Taz vom
21.April 1999 erschienen ist. Darunter sind auch Wolf-Dieter Narr und Roland Roth, beide Politikwissenschaftler und im Vorstand des
Komitees für Grundrechte und Demokratie. Wolf-Dieter Narr hat ebenfalls einen Strafbefehl erhalten, an Roland Roth erging von einer
Richterin eine begründete Ablehnung des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft angekündigt,
dass sie Widerspruch einlegen will.
Wie bewerten Sie die laufenden Ermittlungen?
Hier wird gegen die Falschen strafrechtlich vorgegangen. Ermittelt werden müsste gegen die, die diesen Krieg und all die Greuel, die
durch ihn begünstigt oder verursacht wurden, zu verantworten haben. Offenkundig sollen gewaltfreie, pazifistische Kritikerinnen und
Kritiker in Zukunft dadurch abgeschreckt werden, dass die kriegführende Seite die kriegsgegnerische finanziell büßen
lässt. Das ist zu allem sonstigen Übel auch noch massiv antidemokratisch.
Ist die Argumentation auf einer "juristischen Schiene" nicht problematisch? Sollte es den GegnerInnen des NATO-Krieges
gegen Jugoslawien nicht in erster Linie um die Formulierung einer politischen Grundüberzeugung und der Kritik an einer
fragwürdigen, die angeblich angestrebten Ziele nicht erreichenden Politik gehen?
Den Gegnern und Gegnerinnen dieses Krieges geht es nicht um ein "Glaubensbekenntnis", sondern um gute Gründe und
Argumente gegen diesen Krieg und die immer weiter betriebene Militarisierung der Politik. Die Bundesregierung hat gleich in mehrfacher
Hinsicht durch ihre Beteiligung an diesem Krieg gegen Gesetze verstoßen. Das wird vor Gericht geprüft werden müssen.
Klagen gegen die Bundesregierung wegen des verbotenen Angriffskriegs sind jedoch damals von der Bundesanwaltschaft kurzerhand
abgeschmettert worden. Dieser Krieg verstieß gegen das Völkerrecht, die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland
verstieß gegen das Grundgesetz und gegen den Zwei-Plus-Vier-Vertrag.
Menschenrechtlich-demokratische Argumente gegen diesen Krieg gehen noch weit darüber hinaus. Die Art der Kriegführung, in der
Zivilisten und zivile Einrichtungen kollateral oder gezielt zu Objekten der Kampfhandlungen gemacht wurden, widerspricht nicht nur
internationalen Vereinbarungen, sondern vor allem den Menschenrechten, in deren Namen dieser Krieg vorgeblich geführt wurde.
UNICEF hat kürzlich berichtet, dass 242 Schulen in Zentralserbien durch die Luftangriffe beschädigt oder zerstört worden
sind. Anzuklagen ist ferner die Wahl der Waffen - Grafitbomben, Clusterbomben und Bomben mit abgereichertem Uran - die gegen die Genfer
Rot-Kreuz-Konvention verstößt. Die humanitäre Situation im Kosovo ist durch diesen Krieg nur verschlimmert worden. Hilfe
war dringend geboten. Der Krieg war jedoch ein völlig ungeeignetes Mittel. Das konnte und musste man vorher wissen.