Sozialistische Zeitung |
Die blau uniformierten Gendarmen mit den schmucken, weißen Pistolentaschen ruhen im Schatten vor
dem Polizeigebäude. Um sie herum ist hektische Betriebsamkeit: Hunderte, Tausende von Menschen, die sich als Dolmetscher andienen,
für schwere Arbeiten, einen Laster anbieten, einen Bagger oder Geländewagen. Fähren aus Istanbul kreuzen ununterbrochen,
die Autos und Lkw sind beladen mit Wäsche, Wasser, Maschinen, Lebensmitteln. Eine Elektrofirma betreibt eine große
Suppenküche. Der türkische Großkonzern Koc ist mit einemEinsatz an Geräten und Leuten zugange, der den
internationalen Rettungsmannschaften Respekt abnötigt. Eine private Zivilgesellschaft führt die Liste der identifizierten
Toten.
In den Tagen extremer Not reichen Türken sich die Hände. Das Industriegebiet der Türkei ist u.a. Fabriksitz von drei
internationalen Autokonzernen und der beiden größten europäischen Acryl- und Textilfaserhersteller. Viele Türken, die
dort lebten und starben, zählten zur technischen Elite des Landes: zahlreiche Akademiker, gut ausgebildete Fachleute, der Kern der
qualifizierten Arbeiterschaft.
Nur der Staat ist abwesend. Vor dem kleinen Fußballstadion von Yalova, das nun als Trümmerlandschaft daliegt, steht der
türkische Armeechef, ein kleiner, rundlicher Herr mit weichen, verbindlichen Bewegungen. Den zwölf Männern aus
verschiedenen Ländern, die abgerissen und mit Drei-Tage-Bärten vor ihm stehen, widmet er einige höfliche Worte, in denen
der Begriff Danke nicht vorkommt. Dann legt er die Hand an die Mütze zu einem laschen militärischen Gruß und
wünscht den Anwesenden noch einen erfolgreichen Aufenthalt.
Als der Armeegeneral davongewieselt ist, ergreift in der sprachlosen Runde ein finnischer Offizier das Wort: Weil das türkische
Militär auch fünf Tage nach der Katastrophe immer noch nicht sagen kann, welche Schäden in der Region zu beklagen seien
und welche Art von Hilfe benötigt werde, sei der heutige Tag der finnischen Rettungsequipe mit systematischen Erhebungen
draufgegangen. Weil es von türkischer Seite keine weiteren Hinweise für Einsätze gebe, kündigt er den Rückflug
seiner Rettungseinheit an. Der Chef der spanischen Delegation sieht das ähnlich.
Wenn Yalova von allen größeren Städten dennoch diejenige ist, der bei Weitem am meisten Hilfe zuteil wurde, liegt dies
daran, dass ein junger Offizier des österreichischen Bundesheers sich eine Stadtkarte besorgt hat. Er übernahm auf eigene Faust die
Einsatzplanung, erstellte eine Liste der internationalen Hilfstrupps mit deren Stärke, Ausrüstung, Einsatzspezialitäten, teilte
die Stadt in Sektionen auf. Er hat "die Rettung der Stadt übernommen", sagen die Bewohner.
Unterdessen stehen in Karamürsel, an der Küstenstraße zwischen Yalova und Izmit, die Militärs in sorgsam
gebügelten Uniformen zu Dutzenden mit vorschriftsmäßig angelegten Maschinengewehren herum und blockieren die einzige
freie Straße des Ortes. In den Zelten der staatlichen Hilfsorganisation Roter Halbmond liegen junge Offiziere und telefonieren aus
Langeweile.
Nach Bekanntwerden der Katastrophe reagierten Länder wie Russland, Aserbaidschan, Griechenland, Schweden, Israel und die USA,
auch die UNO und die EU, sofort: die benötigten Hilfsmittel seien bereits verladen, die Rettungsmannschaften abflugbereit. Die
türkische Regierung aber ließ sich 24 Stunden Zeit, ehe sie die ersten Einheiten ins Land ließ - und die wurden noch
stundenlang auf dem Flughafen von Istanbul festgehalten, bevor sie ihre Arbeit beginnen konnten.
Die USA hatten der türkischen Regierung vorgeschlagen, drei Schiffe der 6.Flotte als "schwimmendes Krankenhaus" zur
Verfügung zu stellen. Gesundheitsminister Osman Durmu, Mitglied der faschistischen MHP, reagierte abweisend: "Nicht
nötig." Abgewiesen wurde auch das Angebot Athens, ein komplettes Feldkrankenhaus mit Personal aufzubauen; ebenso die
Angebote aus Aserbaidschan und Iran, Spezialeinheiten zur Bekämpfung des Feuers in der größten Raffinierie des Landes zu
schicken. Auch Spezialisten der Brandbekämpfung aus Deutschland wurden unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt. Die
empörten Feuerwehrleute erklärten bei ihrer Abreise, die Leiter der staatlichen Raffinerie hätten sie ohne Begründung
nicht arbeiten lassen.
In dem Tage nach dem Erdbeben gebildeten Krisenstab verhindern insbesondere Mitglieder der MHP alles, was ihnen politisch nicht korrekt
erscheint. Die Hilfsangebote aus Griechenland, Armenien und dem Iran werden nicht angenommen, weil die Türkei diese Länder zu
ihren Feinden erklärt hat. Über die Hilfe aus Italien wird fast nicht berichtet. Auch die Regierung in Rom ist zum Feind geworden,
seit sie Öcalan kurzzeitig Unterschlupf gewährte.
Polizei, Armee und Behörden behindern aber auch die Selbsthilfe der Bürger. Die Jugendorganisation der Partei der Arbeit
(EMEP) hatte in Derince eine Zeltstadt für 1500 Menschen errichtet. Darin wurden Kleider und Lebensmittel gesammelt und ausgegeben.
Da kamen die Soldaten und untersagten die Verteilung der Hilfsgüter. Sie dürften nur vom Krisenstab verteilt werden. Die
Bewohner wurden wütend und fragten, wo der Staat denn bleibe. Dann kam der Bürgermeister von der Tugendpartei und
erklärte: "Ihr dürft hier nichts verteilen!" Als die Zeltlagerleitung erklärte, dies sei eine freiwillige Einrichtung,
sie werde ihre Arbeit fortführen, reagierten die Polizisten mit den Worten: "Hey, wir sind der Staat, und ihr werdet tun, was wir
euch sagen!"
Auch ein Gespräch mit dem Krisenstab verlief ergebnislos. Am Ende beschlagnahmten die Soldaten den gesamten Bestand an Kleidern
und Lebensmitteln, transportierten ihn in den Krisenstab und fingen an die Sachen an benachbarte Gebiete zu verteilen. Der EMEP-Vertreter
Namik Türker wurde wegen unerlaubter Hilfeleistung verhaftet.
Die Unfähigkeit des Staates und seine Arroganz werden vielfach auf sein bisheriges Selbstverständnis zurückgeführt.
Armee und Polizei sind so aufgebaut, dass ihre Gewaltfunktionen seit eh und je im Vordergrund stehen: die gewaltsame Unterdrückung
von Unruhen, die Kontrolle und Gängelung der Bevölkerung. Die Organe für "zivile Sicherheit" und
"Katastrophenschutz" sind schon lange nicht mehr in ihren eigentlichen Aufgabenfeldern tätig und dienen nur als
Mechanismus, um die Konterguerilla" zu decken. Eine andere Erklärung ist die völlige Entfremdung der Behörden von
der Bevölkerung, sei es, weil sie bürokratisch völlig verknöchert sind, sei es, weil sie größtenteils korrupt
sind und sich zwischen Parteien, Armee, Polizei, Geheimdiensten und Bauindustrie eine abgeschlossene Kaste gebildet hat, wo niemand dem
anderen weh tut und man nur darauf bedacht ist, das eigene Gewaltmonopol nicht in Frage stellen zu lassen.
Seit 1903 gab es in der Türkei 76 große Erdbeben, bei denen weit mehr als hunderttausend Menschen ums Leben gekommen sind.
Allein durch die Beben in den 90er Jahren starben 65000 Menschen. Die Folgen, die sie zeitigten, sind keine Naturkatastrophe, sondern u.a.
Ergebnis einer verfehlten Stadtplanung. In den Jahrzehnten zwischen 1943 und 1985 ergriffen die Regierungen gezielte
Vorsichtsmaßnahmen gegen Erdbeben, die auch gesetzlich abgesichert wurden. Schäden sollten damit möglichst gering
gehalten werden. In diesen Jahren wurden die gefährdeten Zonen registriert, das Bauministerium fertigte zusammen mit den
Universitäten entsprechende Landkarten an. Für die Bebauung der gefährdeten Gebiete wurden Sondergesetze
geschaffen.
Im Rahmen einer großangelegten Privatisierungswelle staatlichen Eigentums ab 1985 wurden all diese Gesetze jedoch ignoriert und
"übersehen". Privatinvestoren konnten nun bauen, wo und wie sie wollten. Die notwendigen Baugenehmigungen wurden
unbesehen und haufenweise vor Kommunal- und Parlamentswahlen erteilt. Nach den Beben in Erzincan, Dinar,und Adana verlangten
Ingenieure, Seismologen und Architekten immer wieder, in den gefährdeten Gebieten keine neuen Baugenehmigungen zu erteilen. Die
Regierung kümmerte dies nicht, sie schanzte den Bauunternehmern, die aus der Landflucht in der Türkei Profit schlagen wollten, die
Aufträge gegen Schmiergelder zu. Nach den Beben im vergangenen Jahr wurden strafrechtliche Ermittlungen gegen Bauherren und
technisches Personal eingeleitet - sie wurden nach kurzer Zeit wieder eingestellt.
Viele Menschen - SchülerInnen, StudentInnen, ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen, Rentner und Erwerbslose - haben in wenigen Tagen
gelernt, selbst die Initiative zu ergreifen und nicht darauf zu warten, was die Obrigkeit sagt. Der Bürger hat einen Schritt in die
Mündigkeit getan. Im industriellen Herzen der Türkei, das sich schon immer - im Gegensatz zum weit entfernten Ankara - als
westorientiert sah, ist dem autoritären, auf das Militär gestützten Staat Türkei mit den Überlebenden der
Katastrophe eine Gegnerschaft entstanden, die übrigens quer durch die industriellen Klassen geht. Viele sehen darin eine Befreiung vom
als anachronistisch empfundenen türkischen Nationalismus und verbinden damit die Hoffnung, diese Emanzipation werde den Weg in die
EU freimachen.
Der Beitrag stützt sich auf die deutschsprachige Sonderausgabe der Zeitung Evrensel, die von DIDF herausgegeben wird.