Sozialistische Zeitung |
Harsche Reaktionen aus Peking ließen nicht lange auf sich warten: Eine formale
Unabhängigkeitserklärung der Insel, die man als "abtrünnige Provinz" betrachtet, wäre für die
Führung der Volksrepublik ein Grund für eine Invasion, hieß es postwendend aus der chinesischen Hauptstadt. Laut
Meinungsumfragen unterstützen 97% der chinesischen Bevölkerung den Einsatz von Gewalt, um "die abtrünnige
Provinz zu befreien". Auch wenn die Zahlen etwas zurechtgebogen sein mögen, offensichtlich ist, dass die chinesische
Führung mit ihrer Linie im Land auf breite Zustimmung stößt. Verteidigungsminister General Chi Haotian reagierte dann auch
mit einer eindeutigen Warnung: "Die Volksbefreiungsarmee steht Gewehr bei Fuß, um die territoriale Integrität Chinas zu
verteidigen und alle Versuche, das Land zu teilen, zu zerschlagen", verkündete er am 14.7. Seitdem rasselt die Armee mächtig
mit dem Säbel. Eliteeinheiten werden in der Provinz Fujian gegenüber von Taiwan zusammengezogen, Manöver abgehalten
und bei jedem Schritt peinlich auf eine breite Berichterstattung in den Medien geachtet. Auch fünf Wochen nach Lees
Äußerungen haben die Spannungen noch nicht nachgelassen.
In Taiwans Hauptstadt Taipeh versucht man indes, die Sache herunterzuspielen. Lee sei in Peking missverstanden worden, meinte ein
führender Politiker. Taiwan halte durchaus am Ziel der Wiedervereinigung fest. Strittig seien allerdings die Bedingungen. Während
Peking die Regierung in Taiwan wie eine Provinzregierung behandle, so Koo, habe Lee mit seinem Schritt die Basis für gleichberechtigte
Verhandlungen legen wollen.
Dass er dabei hochgepokert hat, dürfte ihm durchaus bewußt gewesen sein. Ähnliche Äußerungen taiwanesischer
Politiker hatten bereits 1996 im Vorfeld der Präsidentenwahlen die beiden verfeindeten Brüder an den Rand einer
militärischen Konfrontation gebracht. Dennoch arbeitet die Führung der Inselrepublik unermüdlich daran, ihre internationale
Isolation zu durchbrechen. Noch in diesem Jahr soll nach Angaben Lees die Wiederaufnahme in die Vereinten Nationen beantragt werden. Bis
1971 hatte Taipeh den Sitz Chinas in der UNO inne. Dann führte die veränderte Zusammensetzung der Weltorganisation dazu, dass
es zugunsten der Volksrepublik ausgeschlossen wurde.
Anders als zu Chiang Kai-sheks Zeiten, der 1949 nach dem chinesischen Bürgerkrieg mit seiner Regierung auf die Insel geflohen war,
geht es heute nicht mehr um den Alleinvertretungsanspruch für China, sondern darum wie die "Ein-China"-Formel auszulegen
ist, die von beiden Seiten bemüht wird. In Taipeh beharrt die regierende Guomindang-Partei darauf, dass es zwei gleichberechtigte Teile
gibt. Die oppositionelle Demokratische Fortschrittspartei strebt gar eine formelle Unabhängigkeit an.
Aber auch wenn es an Bekundungen nicht mangelt, dass die Wiedervereinigung friedlich erfolgen soll, wird vor allem auf der Insel
kräftig aufgerüstet. 1990 erwarb Taipeh in den USA 150 F-16-Kampfflugzeuge. Das Argument für den Handel war, daß
Pekings Kauf von 50 russischen Su-27-Kampfjets ausgeglichen werden müsse. Zur gleichen Zeit kaufte Taiwan allerdings auch 60
französische Mirage ein. Außerdem stellt es eigene Kampfjets her (überwiegend mit importierten US-amerikanischen
Komponenten), die nach Angaben von James H. Nolt vom US-amerikanischen World Policy Institute allem, was auf dem Festland hergestellt
wird, überlegen sind. Derzeit sind in den USA der Verkauf von Aufklärungsflugzeugen und weiteren F-16-Komponenten geplant.
Beschlossen ist bereits die Übernahme der USS Pensacola, eines Truppentransporters der US Navy. Zum 1.10. soll das Schiff, das zuletzt
in der Adria im Krieg gegen Jugoslawien im Einsatz war, in den Dienst gestellt werden.
Taiwans Waffenimporte, so Nolt, sind in der vergangenen Dekade mehr als doppelt so groß wie die der Volksrepublik gewesen. Damit
nicht genug gab Taipeh im Juli 98 ein Zehn-Jahresprogramm zur Aufrüstung bekannt. In Bau und Entwicklung befinden sich vor allem
Radaranlagen mit einer Reichweite von bis zu 1000 Kilometern, Boden-Boden-Raketen, sowie Raketenabwehrsysteme. Schließlich
beabsichtigt Taiwans Führung, sich an der Entwicklung des sog. Theater Missile Defense System (TMD) zu beteiligen, dass sich in den
USA in einem frühen Teststadium befindet. Dabei handelt es sich ebenfalls um ein Raketenabwehrsystem, das nach dem Willen der US-
Militärs in Japan, Südkorea und auf Taiwan stationiert werden soll und in Peking schon für einige Verstimmung gesorgt hat.
Eine Stationierung auf der Insel, hatte man bereist vor einigen Monaten wissen lassen, würde als Verletzung der chinesischen
Souveränität betrachtet.
Die vielfältigen US-amerikanischen Waffenverkäufe an Taiwan spiegeln den Wandel in den chinesisch-amerikanischen
Beziehungen nach dem Zerfall der Sowjetunion wider. In den 70ern hatte es eine Annäherung zwischen den beiden Ländern auf der
Grundlage der gemeinsamen Rivalität mit dem seinerzeitigen Ostblock gegeben. 1979 kam es zur diplomatischen Anerkennung der VR
China durch die USA. Washington löste in der Folge seine Militärbasen auf Taiwan auf und zog alle Truppen ab. Seit dem stellen
einerseits die US-Regierungen den chinesischen Ein-China-Standpunkt nicht in Frage, andererseits behandeln sie den Inselstaat weiterhin als
quasi-unabhängig, auch wenn es keine diplomatischen Beziehungen zu Taipeh mehr gibt. 1982 reduzierte die Reagan-Administration die
Waffenlieferungen an Taiwan. Im Gegenzug versprach Peking, Meinungsverschiedenheiten mit Taipeh mit friedlichen Mitteln zu
lösen.
Mit dem Ende der Sowjetunion begann sich die Baisis dieser strategischen Partnerschaft aufzulösen. Gab es bis 1989 noch eine
militärische Kooperation zwischen den USA und der Volksrepublik, so wurden nach dem Tiananmen-Massaker alle Verträge
für die Modernisierung der chinesischen Arsenale durch US-Firmen von der Bush-Administration storniert. Seitdem gibt es keine US-
amerikanischen Lieferungen von Militärgütern und dual-use-Technologie in die Volksrepublik mehr. Stattdessen sind wieder
vermehrte Waffenlieferungen an Taiwan zu beobachten.
Dabei kann davon ausgegengen werden, dass die Vorfälle auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, wo die chinesische Armee
1989 gegen demonstrierende Oppositionelle vorging, nur der Anlass, nicht aber der Grund für die Aufkündigung der
militärischen Zusammenarbeit waren. In der US-amerikanischen Strategiediskussion hat sich seit 1990 ein Konsens herausgebildet, nach
dem als eines der obersten amerikanischen Interessen angesehen wird, keine neue Supermacht entstehen zu lassen. Als mögliche
Aspiranten werden Rußland und - häufiger - China genannt. (Auch die EU, Deutschland und Japan wurden übrigens als
potentielle Gegner ausgemacht.)
Umstritten ist allerdings, welche Rolle China derzeit spielt und welche Entwicklungspotentiale es besitzt. So sind denn in der
gegenwärtigen Taiwan-Krise zwei Linien in der amerikanischen Politik klar auszumachen: Auf der einen Seite verhält sich die
Clinton-Regierung auffallend neutral und versucht mäßigend auf Taiwan einzuwirken. Auf der anderen Seite gibt es in beiden
Häusern des Washingtoner Parlaments eine lautstarke Taiwan-Lobby, die sich nicht nur aus Abgeordneten der Republikaner
zusammensetzt. Anfang August besuchte eine US-amerikanische Parlamentarierdelegation, der Mitglieder beider Parteien angehörten, die
Inselrepublik. Nach Berichten Hongkonger Zeitungen fand Präsident Lee bei den Besuchern viel Verständnis. Zum Abschluss der
Visite erklärte Benjamin Gilmann, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, seine volle
Unterstützung für die Politik Taipehs. Lees Äußerungen seien vollkommen gerechtfertigt und die Verantwortung
für die gegenwärtige Krise liege allein bei Peking. Gilman versprach gegenüber Journalisten, auf die Clinton-Regierung
Druck auszuüben, damit Taiwan von amerikanischer Seite nicht zu Kompromissen mit Peking gezwungen wird.
Der ehemalige US-Vizepräsident Dan Quaile sprach sich bei einem Taiwan-Besuch gegen den Beitritt der Volksrepublik zur
Welthandelsorganisation (WTO) aus. Hier ist denn auch der ökonomische Grund für die antichinesische Politik eines Teil des
amerikanischen Establishments zu suchen: Während ein Teil der US-amerikanischen Unternehmer auf Zugang zu dem potenziell riesigen
chinesischen Markt hofft, versucht auf der anderen Seite eine nicht kleine Industrielobby den US-Markt gegen billig Importe vor allem von
Stahl, Textilien und anderen Industriewaren zu schützen. Bisher konnte sich letztere in der US-Regierung durchsetzen, so dass die
Verhandlungen trotz weitreichender Zugeständnisse der chinesischen Führung rgebnislos blieben.
Eine andere Stütze hat die pro-Taiwan-Fraktion bei den Militärs und Rüstungsproduzenten. Derzeit wird gegen erheblichen
Widerstand der Clinton-Regierung ein von den Abgeordneten Jesse Helms (Republikaner) und Robert Torricelli (Demokraten), die bisher vor
allem durch ihre Rhetorik gegen Kuba aufgefallen sind, eingebrachtes Gesetz verhandelt, das die Ausweitung der militärischen
Kooperation mit Taiwan dienen soll. Vorgesehen sind unter anderem ein heißer Draht zwischen dem Militär der Insel und dem US-
Pazifikkommando und die Belieferung mit Daten von Aufklärungssatelliten.
Auch wenn diese Initiative wahrscheinlich an Clintons Widerstand scheitern wird, so ist doch offensichtlich, dass die Zeit gegen Peking
arbeitet. Denn auch unter Clintons Regierung hat es eine Politik der militärischen Einkreisung Chinas gegeben. Bereits 1996 hatte er in
Seoul betont, dass die militärische Präsenz in Ostasien auf jeden Fall erhalten bleibt. Derzeit beträgt sie 100000 Mann,
davon 37000 in Südkorea und 47000 Mann in Japan. Zudem wurde mit Japan ein neues Verteidigungsabkommen geschlossen.
Desweiteren gibt es Flotten- und Hafenabkommen mit Singapur, Hongkong, Thailand, Indonesien, Malaysia und den Philippinen, wobei
letzteres dort heiß umstritten ist und noch nicht ratifiziert wurde.
In Peking ist man jedenfalls tief besorgt, dass die gegenwärtigen Spannungen mit Taiwan oder der geplante Raketentest in Nordkorea die
USA zum Eingreifen verleiten könnten. In einem Interview mit der Australian Financial Review warnte Chinas Botschafter in Canberra,
Zhou Wenzhong, Washington davor, die "Kosovo-Formel" zu wiederholen. "Asien ist nicht Europa", mahnte er und
bezweifelte gleichzeitig, dass sich die Verbündeten der USA in der Region einem derartigen Abenteuer anschließen
würden.
Wolfgang Pomrehn