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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 02.09.1999, Seite 13

Leben ohne Mafia

Der Konflikt in Dagestan

Dagestan ist ein Bergland am westlichen Ufer des Kaspischen Meeres; im Norden und Westen grenzt es an Tschetschenien, das sich in den Jahren1995-1998 nach einem blutigen Kampf, bei dem 60000 Menschen ihr Leben ließen, eine zwar nicht anerkannte, aber de facto Unabhängigkeit erkämpft hat; im Süden an Aserbaidschan und im Südwesten an Georgien. Das Land von der Größe Niedersachsens zählt zwei Millionen Einwohner, deren Geschick den Herren im Kreml wohl herzlich egal wäre, gäbe es da nicht eine Ölpipeline, die vom Kaspischen Meer quer durch den Kaukasus führte. Um diese Ölpipeline und die damit verbundene Kontrolle über die Ausbeutung der Ölfelder im Kaspischen Meer sowie über die transkaukasischen Gebiete Georgien und Aserbaidschan geht es der Moskauer Regierung. Diese hat Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Fallschirmjäger gegen etwa tausend sog. "islamische Rebellen" eingesetzt, die seit dem 7.August versuchen Teile des Landes zu besetzen und einen "unabhängigen islamischen Staat" auszurufen.
Wer sind diese "Rebellen"? Die bewaffnete "Befreiungsbewegung", wie sie sich nennt, wird von einem Tschetschenen angeführt, Chamil Bassajew. Ihr Militärkommandant kommt aus Jordanien. Sie konzentriert sich im Grenzgebiet zu Tschetschenien, wo mehrheitlich Awaren leben (mit 500000 Menschen die größte und am stärksten islamisierte Gemeinde in Dagestan). Sie stützt sich auch auf die muslimischen Sufi-Bruderschaften, die im tschetschenischen Befreiungskrieg eine zentrale Rolle spielten, in Dagestan allerdings eine viel geringere Bedeutung haben. Diese Tatsachen veranlassen einige dazu, den Konflikt als einen Stellvetreterkrieg zu betrachten, der aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny ferngesteuert und im Grunde eine Verlängerung des tschetschenischen Unabhängigkeitskampfs sei, diesmal mit dem Ziel, der Republik einen Zugang zum Meer zu erkämpfen.
Eine Vielzahl von Gewalttaten zwischen Ethnien, Clans und Parteien scheinen diese These zu stützen. Die Region lebt, so berichtet die französische Tageszeitung Le Monde (15.8.), vom Handel mit Erdöl, Kaviar und Geiseln. Pro Monat wird durchschnittlich ein Attentat gezählt. Die Zeitung berichtet, im Mai 1998 habe Nadir Chatschilajew, Abgeordneter der russischen Duma und Vorsitzender der Union der Muslime in Russland - ein Parteigänger der Vereinigung Dagestans mit Tschetschenien -, zusammen mit seinem Bruder Mohammed, der die Kaviar-Mafia in Dagestan kontrollieren soll, kurzzeitig mit etwa 100 bewaffneten Männern die Lokalregierung besetzt.
Die beiden forderten mehr Rechte für die Ethnie der Laks, der sie angehörten (und die etwa 5% der Bevölkerung ausmacht). Drei Monate später wurde der Mufti von Dagestan, Saud Mohammed Abudakarow, ein führender Vertreter des traditionellen Islam, in einem Bombenattentat getötet; die örtlichen Behörden lasteten es der muslimischen Sekte der Wahabiten an, die in Tschetschenien ausgebildet werde.
Anders als Tschetschenien ist das kleine Land zwischen den Bergen und dem Meer ein Mosaik aus über dreißig Nationalitäten. Jeder Versuch einer ethnisch begründeten Sezession muss in einem Blutbad enden. Die Forderung nach Unabhängigkeit scheint in Dagestan deshalb auch nicht viel Unterstützung zu genießen.
Bislang hat die Region mit großer Mehrheit für prorussische Kandidaten zur Duma gestimmt; Russland werde von vielen Ethnien als eine Art Schiedsrichter, als Garant des Gleichgewichts betrachtet, zitiert Le Monde eine Kennerin der Region und Dozentin an der Universität Caen. Ihrer Meinung nach hat die Bewegung keine ausreichende Basis in Dagestan.
Die These vom "importierten Konflikt" stößt aber auch auf Ablehnung, z.B. beim Mitglied des Kaukasischen Studienzentrums in Moskau, Alexander Iskandarian. Er leugnet nicht die Einmischung der Tschtschenen wie übrigens auch die anderer Machthaber der arabischen Welt. Aber die Mehrzahl der Rebellen seien Ortsansässige, ihre Motive hausgemacht. "Im Nordkaukasus schafft das Zusammentreffen von radikalisierten Intellektuellen mit einer Masse armer und unzufriedener Jugendlicher eine explosive soziale Situation."
Die mafiosen Verhältnisse, die nach der Auflösung der (desorganisierten) Planwirtschaft und im Zuge der Wiedereinführung des Privateigentums entstanden sind, drängen viele dazu, im Islam eine Alternative zu sehen, was nicht notwendig heißt: in seiner radikalen Variante. Aber die einzigen Parteien, die an Boden gewinnen, sind solche, die sich auf den Islam berufen.
Die Verfechter der Unabhängigkeit hingegen haben keine Mehrheit. Allerdings scheint es nicht wenige Menschen in Dagestan zu geben, die mehr Angst vor russischen Soldaten als vor den Islamisten haben.


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