Sozialistische Zeitung |
Wer die immer noch überwiegend männlichen Surfer befragt, wonach sie denn weltweit in den
Datenbanken und Katalogen suchen, bekommt durchweg unverfängliche Antworten: Bücher, Hard- und Software, Reisen, Musik-
CDs, Konzerttickets. Das Burda Advertising Center ermittelte auf diese Weise, dass "Erotik" mit 7,8% des Interesses erst auf Platz
16 der Netzgemeinde landet.
Die tatsächliche Bedeutung der Nachfrage nach Pornografie im Internet blitzt nur in wenigen spektakulären Episoden der
öffentlichen Wahrnehmung auf: So wurde im April der sächsische Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen von 89
Landtagsabgeordneten abgewählt, weil der 54-Jährige mit seinem Bürocomputer während der Dienstzeit in
erheblichem Umfang Pornoangebote aus dem Internet gesaugt hatte. Nur 20 Abgeordnete zweifelten an den Anschuldigungen und stimmten
dagegen.
Die Erregung der Herren Abgeordneten ist nicht völlig verständlich - schließlich können Spitzenbeamte für sich
beanspruchen, durchaus mitten im allgemeinen Trend zu surfen: der Fall des Landesbeauftragten markiert nicht die Ausnahme, sondern die
Regel. Bereits vor drei Jahren wurden Beschäftigte gleich betriebsweise geoutet. Die Zugriffe auf die Website des Softpornomagazins
Penthouse wurden in den USA statistisch ausgewertet. Innerhalb nur eines Monats kamen 4556 der Seitenaufrufe aus den Büros von IBM,
die Männer bei Apple brachten es auf 4462 und auf den Telekommunikationsriesen AT&T entfielen 3805 Besuche. Während
der Arbeitszeit benutzen offenbar die Hightechangestellten ihre Terminals um sich diskret Bilder auf den Monitor zu holen; indiskrete Bilder,
die sie sich noch nicht einmal verschämt an die Innentüre ihres Umkleidespinds zu hängen wagen.
Diskretion ist keine
Ehrensache
Andere Nachforschungen brachten an den Tag: Ein Viertel der Onlinerecherche vom Betrieb aus hat gänzlich private Motive. Dieser hohe
Anteil an zweifelhaft verwerteter Arbeitszeit alarmierte die Unternehmer. Sie versuchen aufwendige digitale "Feuerwälle"
um ihre Betriebe zu errichten um so die Kontrolle über ihre Beschäftigten zurückzugewinnen.
Auch wenn man diese Sorge der Chefetagen so nicht teilen mag und natürlich darüber erschreckt, wenn vermeintlich anonyme
Aktionen im Internet, das Lesen und das sich Treibenlassen von einer Webseite zur nächsten, ganz offensichtlich den Marketingforschern
und Betriebsdirektoren derart offen liegt: ein derart unverstellter Blick auf die seelische Verfassung der männlichen Arbeitswelt
ernüchtert.
Drei Viertel derer, die sich da vom Schreibtisch aus über die Datenautobahnen durch die weite Welt klicken, neigen aus
nachvollziehbaren Motiven dazu ihre Sexsuche vor Freunden, Kolleginnen und Familie geheimzuhalten. Und auch bei Umfragen tarnen sie sich
gegenüber den Feldforschern mit "sozial erwünschten Antworten". Wer jedoch die heimlichen Surfer am Arbeitsplatz
nicht offen nach ihrem Verhalten befragt, sondern unbemerkt bespitzelt, erhält ein klareres Bild.
"Erotika", wie pornografische Darstellungen schönfärberisch umschrieben werden, landen nicht mehr auf dem
angeblichen Platz 16, sondern gleich hinter den aktuellen Nachrichtentickern unversehens auf Platz 2 der täglichen Hitparade in den
Büros. Es folgen Börseninfos, Unterhaltung und Sport.
Pornografische Bilder gehören im Internet zu den Billigwaren. Sie werden schnell aufbereitet und für wenige Mark
"Mitgliedsbeitrag" angeboten. Dennoch erzielen sie den drittgrößten Umsatz, direkt nach Online-Trading und E-
Commerce, die jedoch in aller Regel weit hochwertigere Wirtschaftsgüter umschlagen. Die kalifornische Pornoindustrie erwirtschaftete
im vergangenen Jahr über 5 Milliarden Dollar, davon 875 Millionen bereits online.
Auch die populären Suchmaschinen verdienen dabei mit. So wird über AltaVista im Jahr allein 3,3 Millionen Mal nach dem
Silikonwunder Pamela Anderson gefahndet - was eine Werbeeinnahme von geschätzt 200000 Dollar für die Anteilseigner dieser
Suchmaschine bedeutet.
Bei den in solchen Suchmaschinen von den Anwendern eingegebenen Suchbegriffen steht "sex" unangefochten an der Spitze. 60%
der 20 meistverwendeten Suchworte sind Schlüsselbegriffe zu pornografischen Angeboten, so z.B. nude, pics, anal, tits, adult, hardcore.
Eben die Nennung dieser Begriffe wird nun dem vorliegenden Artikel - angeboten auf der SoZ-Homepage unter www.soz-plus.de -
zusätzliche, wenn auch alsbald enttäuschte Nachfrager einbringen.
Humanisierung der Arbeitswelt
Bei den im Netz verbreiteten Bildern handelt es sich vor allem um professionelle Aufnahmen, die aus den einschlägigen Magazinen billig
abgescannt wurden. Diese "Zweitverwertung" aus anderen Medien ist durchaus typisch für das Internet. Das vorhandene
Bildmaterial aus 150 Jahren Aktfotografie, eine ungeheure Menge Abbildungen des ewig Gleichen, ist bereits etwa zur Hälfte auf diesem
Weg digitalisiert dem weltumspannenden Archiv zugeführt worden. Da posieren die Zwischenprodukte der kosmetischen Chirurgen als
sog. softe Pornos, weil in Spitzenunterwäsche verpackt. Andere
Sites brüsten sich, die Härte ganz ohne Rüschen zu zeigen, an gynäkologische Studienhefte erinnernde Nahaufnahmen -
sog. "closeups".
In dieser virtuellen Welt, in der Pornografie plötzlich nur noch aus reinen Bits und Bytes zu bestehen scheint, wird auch die Moral selbst
unwirklich. Angestrengt versucht darum Nicola Döring, diplomierte Psychologin an der TU Berlin, sich in ihrem Aufsatz über
"Sexualität im Internet" nicht dem Vorwurf des Konservatismus, der Sexualfeindlichkeit oder Prüderie
auszusetzen.
"Die Behauptung, Pornografie im Internet sei durch und durch langweilige Wiederholung des Altbekannten, scheint angesichts des
Interesses, auf das sie stößt, mehr den Charakter einer Beschwörung als einer Beschreibung zu haben. Was außerhalb
des Netzes gefällt, muss innerhalb des Netzes nicht plötzlich langweilig sein. Zudem ist die digitale Verbreitung von Fotos im Netz
mit beträchtlichem Mehrwert verbunden … Zunächst einmal lässt sich das Material diskret handhaben (anonymer Abruf,
unauffällige Lagerung auf der Festplatte). Der Zugriff am Rechner bzw. Arbeitsplatz erlaubt diverse Nebenbei- und
Zwischendurchnutzung, die durchaus als Beitrag zur Humanisierung der Arbeitswelt verstanden werden können, sofern man dabei weder
sich noch andere in Verlegenheit bringt … Spannungsgeladen ist dabei nicht nur das Aufstöbern neuer Bilder, sondern auch der langsame
Bildaufbau, der im Modus des Striptease nach und nach immer mehr Details preisgibt." Im Folgenden schwärmt die Autorin vom
Teilen und Tauschen, vom luststeigerndem Umgestalten, Kommentieren und Empfehlen von Pornografie als einer dem Internet eigenen neuen
"kommunikativen Rezeptionspraxis".
Bilder der Gewalt
und Gewalt der Bilder
Abwertende Abbildungen von Frauen als Mehrwert, als Humanisierung der Arbeitswelt? Die Gewaltsituation, die der pornografischen
Darstellung vorausgegangen ist, bleibt hier ausgeblendet. Scham oder Empörung über die demütigenden Inszenierungen
werden zur Verlegenheit verniedlicht. Das Ausleben von Allmachtsfantasien an den fotografierten Frauen wird zur zeichnerischen
Kreativität umgedeutet.
Die Diplomsoziologin Sibylle Ruschmeier setzt sich in einem Aufsatz über Kinderpornografie im Internet von genau solchen
Argumentationen kritisch ab: "Um was es bei der Pornografie im Wesentlichen geht, nämlich um Macht, Entwürdigung,
Unterdrückung und Degradierung von Frauen und Kindern, um die Aufrechterhaltung von Geschlechterkonstruktionen und -hierarchien,
wird nicht thematisiert."
Die Bilder selbst, berichtet Sibylle Ruschmeier, werden häufig dazu benutzt, den abgebildeten Opfern die vermeintliche Normalität
der männlichen Gewalt zu demonstrieren. Darüber hinaus dienen sie als erpresserisches Druckmittel. Sie werden den Opfern
vorgehalten als angebliche Dokumentation der Mittäterschaft bei strafbaren Handlungen.
Zusammengefasst lautet die Kritik aus feministischer Sicht: auf einem kapitalistischen Markt wird die Menschenwürde systematisch
verletzt und Frauenverachtung manifestiert. Nicht nur die Darstellung wird zur Ware, auch die Körper selbst werden als Ware
angeboten.
Männerphantasien als Motor
Das Internet entstand in den Händen der Militärs. Nacht dem Ende des Kalten Krieges traten sie es an die Forscher ab.
Spätestens als die studentischen Freaks freien Zugriff auf die Rechner und ihre Festplatten erhielten, schwappte die pornografische
Bilderflut über die Universitäten herein. Hier blieben Männer weitgehend unter sich. Bis Mitte der 90er Jahre tauchten
Frauen im Datenstrom fast nur in Form von mühsam aus einzelnen Buchstaben zusammengewerkelten Graffiti auf, die an pubertäre
Schnitzereien an den Wänden der Herrenumkleide in Hallenbädern erinnerten.
Mit dem Siegeszug des weltweiten Netzes wurden dann ganz offenbar kommerzielle Angebote von Pornografie und die massenweise Nachfrage
zu einer der wichtigsten Antriebsmotoren beim anhaltenden Hype. Die rasante Einführung von Webkameras und der Übertragung
von Filmsequenzen wäre kaum denkbar ohne das unstillbare Verlangen auf dem Sexmarkt nach immer neuen Sensationen.
Diejenigen, die sich regelmäßig megabyteweise Bilder heruntersaugen, reden nicht gern darüber. Aber auch diejenigen, die
neue Absatzmärkte und Nischen im Auge haben, schweigen. Das Pornoimage ist für sie ein Hindernis für den großen
Coup des kommenden Jahrzehnts: die Installation von massenweisen Internetzugängen bei den Konsumenten der Zukunft, in den
Klassenzimmern der Kids.
Hunderttausende von PCs sollen in den Schulen aufgestellt werden - auf Staatskosten versteht sich. Bereits heute scheinen junge Mädchen
bei den unter 18-jährigen Internetnutzern und -nutzerinnen deutlich in der Überzahl sein. Und fast alle surfen ohne Aufsicht durch
das pralle Angebot im Netz. Es braucht gehörige Marketinganstrengungen, damit die Eltern, Lehrer und Politiker nicht selber einmal
genauer hinschauen - und vom Zukunftsglauben abfallen.
Wahr ist: ohne bewusstes Suchen und aktives Abrufen gelangen die Bilder nicht auf den Bildschirm. Niemand braucht also aus Selbstschutz
nach Zensur zu rufen. Doch die nervigen Hinweise auf die einschlägigen Angebote sind allgegenwärtig, in den Werbebannern der
Suchmaschinen, in den zusätzlich sich öffnenden Browserfenstern oder in den Hitlisten. Fast genauso nervig sind die bigotten
Versprechen anderer Sites und Dienstleistungen, im Netz jeglichen Schweinkram herausgefiltert oder unterdrückt zu haben.
Allabendlich verharmlosen Lilo Wanders und Co. in TV-Magazinen wie Wa(h)re Liebe Pornografie und ihre industrielle Herstellung. Die
Berichte kommen daher im Mäntelchen von Homestorys über die Pornodarstellerinnen. Oder sie berichten mit ihren
Voyeurkameras direkt von den Dreharbeiten für die Hinterzimmer der Videotheken, im Stil von "The Making of Episode
4711". Das Internet transportiert diese Banalisierung des Bösen konsequent rund um die Uhr in die Büros und Schulzimmer.
Die unaufgeklärte Normalität und Enttabuisierung wirken verheerender in die Köpfe der Kinder und ihrer Eltern hinein als
die Pornografie selbst.
Tobias Michel