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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 30.09.1999, Seite 3

Welthandelsorganisation

Neue Rhetorik, alte Politik

Mit einer "Millennium"-Runde will die gerade vier Jahre alte Welthandelsorganisation (WTO) im November nicht nur das neue Jahrtausend einläuten, sondern auch maßgebliche Weichen stellen. Das Pathos entspricht durchaus dem öffentlichen Interesse. 1500 Journalisten waren 1996 zur ersten Ministerrunde nach Singapur gekommen. Mehr als 4000 Medienvertreter erwarten die Organisatoren für das Jahrtausendtreffen im US-amerikanischen Seattle, mit dem eine insgesamt dreijährige Verhandlungsrunde beginnt.
Neben dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ist die WTO die dritte Säule der Weltwirtschaftsordnung. Ihre Entscheidungen sind für das ökonomische Geschehen auf dem Globus von einschneidender Bedeutung. Wichtigstes Ziel der 134 Mitgliedstaaten umfassenden WTO ist die weitere Liberalisierung des Weltmarkts.
Doch gerade dieses Ansinnen stößt zunehmend auf Widerspruch. Nicht nur mehr als 700 Basisinitiativen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus aller Welt haben für den 30.November Proteste gegen die Ausweitung des Freihandels angekündigt. Auch Institutionen wie die UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) konstatieren, dass sich vor allem die Situation der Entwicklungsländer durch die "Einbindung in das globale Handels- und Finanzsystem" enorm verschlechtert hat.
Seit der Finanzkrise in Asien ist die Sensibilität gegenüber den Auswirkungen des liberalisierten Welthandels enorm gewachsen. Zusätzlichen Auftrieb erhielten die Gegner der Liberalisierung, als nach massiven Protesten das von den Triadenmächten USA, EU und Japan vorangetriebene Multilaterale Investitionsschutzabkommen MAI nicht installiert werden konnte. Die Zielsetzung des Abkommens, das Transnationale Konzerne (TNCs) nahezu ungehinderte Investitionsbedingungen weltweit garantieren sollte, soll nun im Rahmen der WTO- Runde umgesetzt werden.

Akzeptanzkrise des Freihandels
Handelsminister, Regierungschefs und Direktoren der supranationalen Organisationen sind sich der Akzeptanzkrise durchaus bewusst. Sie haben an ihrer Rhetorik gefeilt und schwingen anders als in Singapur und auf der zweiten WTO-Ministerrunde 1998 in Genf nicht mehr den neoliberalen Holzhammer.
Das Gesicht der Organisation hat sich verändert. Die EU-Kommission sucht als maßgebliche Verfechterin einer WTO- Kompetenzerweiterung den "Dialog mit der Zivilgesellschaft", lädt NGOs aus dem Umweltbereich zu Gesprächen ein, will kritische Regierungen aus Entwicklungsländern von den Vorteilen ihrer Mitarbeit im globalen Handelssystem überzeugen und beteuert bei jeder Gelegenheit ihren Einsatz für Umweltschutz und Sozialstandards. Auch in den USA werden Gewerkschafter und Umweltschutzgruppen konsultiert. Bereits die zweite Ministerkonferenz der WTO hatte im vergangenen Jahr beschlossen, ihre Öffentlichkeitsarbeit zu "intensivieren", um der Welt die "Vorteile des Freihandels" zu erklären.
Als ehemaliger Sozialarbeiter und Gewerkschaftsfunktionär scheint auch der neue WTO-Direktor Michael Moore nicht den neoliberalen Klischees zu entsprechen. Mit dem Neuseeländer steht erstmals ein Nichteuropäer an der Spitze der Welthandelsorganisation. Seine erste Rede als Direktor hielt er am 14.September in Marrakesch, dem Geburtsort der WTO. Das Publikum stellten dort nicht etwa Vertreter der Triadenmächte, sondern er sprach als erster WTO-Direktor auf einem Treffen der Gruppe der 77, einem Zusammenschluss von Ländern aus der Dritten Welt, die sich als gemeinsame Interessenvertretung gegenüber den Industrienationen verstehen.
"Die WTO ist eine Familie, in der jedes Mitglied seinen gleichberechtigten Platz am Tisch hat", ließ er seine Zuhörer wissen.
Tatsächlich funktioniert die WTO nach dem Prinzip "ein Land, eine Stimme". Dass Moore diese Selbstverständlichkeit in seiner Antrittsrede dennoch hervorhebt, liegt an der zunehmenden Kritik einiger Drittweltländer. Zwar gehört eine starke Gruppe, darunter Argentinien, Chile, Mexiko, Thailand sowie alle osteuropäischen Mitglieder (Russland und China sind keine WTO- Mitglieder) zu den Befürwortern einer neuen Liberalisierungsrunde. Doch auf der anderen Seite stehen federführend Indien, Ägypten und Malaysia, sowie die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (LDC).
Sie fordern mit unterschiedlicher Akzentuierung, die WTO solle zunächst die Auswirkungen der vorangegangenen Maßnahmen überprüfen, bevor sie Verhandlungen über neue Sektoren angeht. Die Jahrtausendrunde in Seattle solle sich auf den Handel mit Agrarprodukten und Dienstleistungen beschränken.
Vor allem die EU, Japan und osteuropäische Staaten wollen die Themenpalette erweitern: Wettbewerbsrecht, Auslandsinvestitionen, öffentliches Beschaffungswesen und Umweltstandards stehen auf dem Programm. Nicht ohne Widerspruch auch im Lager der Triadenmächte.
Die USA befürchten, dass die veranschlagte Zeit für die Verhandlungsrunde nicht ausreichen könnte und wollen die Begrenzung auf drei Jahre möglichst beibehalten. Auch wenn sie punktuell ebenfalls für eine Erweiterung sind - z.B. im Investitionsektor, streben die USA besonders schnelle Erfolge bei der Liberalisierung des Dienstleistungssektors, vor allem in der Telekommunikations- und Informationstechnologie, an. Bei der langen Themenliste vermuten Handelsbevollmächtigte der USA auch eine Ablenkung von den heißen Themen: Sowohl die EU als auch Japan stecken mehrere Milliarden in die Subventionierung ihrer Agrarwirtschaft. Sie gilt als eine Achillesferse der kommenden Verhandlungsrunde.
Einflussreiche Agrarlobbygruppen wie die amerikanische Cairns-Gruppe wollen Exportsubventionen völlig abschaffen. Die schon im März von den EU-Regierungschefs verabschiedete Agenda 2000, deren Reformmaßnahmen für den europäischen Agrarsektor auch im Hinblick auf die kommende Jahrtausendrunde der WTO ausgehandelt worden sind, bezeichnet die Cairns-Gruppe als unzureichend.

Imperiales Konfliktpotenzial
In der jüngsten Vergangenheit musste die EU einige Niederlagen einstecken. Vor dem WTO-Schiedsgericht ist die EU schon mehrmals gegenüber den USA unterlegen. Für das Importverbot von hormonbehandeltem Rindfleisch aus den USA musste die EU Wirtschaftssanktionen in Millionenhöhe hinnehmen. Ebenso hat die WTO die Bananenmarktordnung der EU verworfen, die den Import von Bananen aus Afrika und den karibischen Inseln gegenüber Lateinamerika bevorzugt.
Bereits auf ihrem letzten Gipfeltreffen in Köln haben die EU-Regierungschefs angesichts andauernder Handelskonflikte mit den USA die Einrichtung eines wirksamen "Frühwarnsystems" beschlossen. Damit wollen sie verhindern, dass "Handelsstreitigkeiten das allgemeine Klima der bilateralen Beziehungen beeinträchtigten".
Aber nicht nur innerhalb des Triadenlagers sowie zwischen Drittweltländern und den industrialisierten Staaten gibt es Differenzen. Auch die Forderungen der NGOs und Gewerkschaften nach Umwelt- und Sozialstandards stößt bei den meisten Regierungsvertretern der Dritten Welt auf Ablehnung, die damit einhergehend einen neuen Protektionismus der entwickelten Märkte befürchten.
Doch nach Angaben der deutschen NGO WEED gebe es Äußerungen aus der EU-Administration, dass sich die EU nur aus "taktischen Gründen" für Umweltstandards engagiere, und zu "einem geeigneten Zeitpunkt" darauf "verzichten" wolle, "um den Entwicklungsländern dafür im Gegenzug Zugeständnisse in der Agrarpolitik abzuringen". "Offiziell werden diese Absichten selbstverständlich dementiert", erklärt WEED.
In der Vergangenheit haben vor allem Drittweltländer die negativen Folgen der WTO-Politik zu spüren bekommen. Die UNCTAD berichtet über "stärkere Außenhandelsdefizite" und "instabile Volkswirtschaften", die in den letzten Jahren vermehrt zu beklagen seien. Die formaldemokratische WTO will nun den Vertretern aus der Dritten Welt Zugeständnisse machen. Vor allem die am wenigsten entwickelten Länder, deren Anteil am Welthandel gerade ein halbes Prozent ausmacht, sollen für ihre Exportprodukte zollfreien Zugang zu den Märkten erhalten, verkündete Moore in Marrakesch. Außerdem will er die Drittweltländer mehr in Diskussions- und Entscheidungsprozesse einbinden.
Die große Anzahl der gleichzeitig laufenden Verhandlungen zu einzelnen Sachgebieten und deren Komplexität erfordern entsprechendes Personal und technische Vorraussetzungen, wenn ein Land aktiv an den Entscheidungen in der WTO mitwirken will. Viele Mitgliedsländer aus dem Süden verfügen jedoch - wenn überhaupt - nur über kleine Vertretungen in Genf, dem Sitz der WTO. "Selbst einige auf Handelsfragen spezialisierte Nichtregierungsorganisationen verfügen über größere Ressourcen und bessere Informationen, was ein beträchtliches Demokratiedefizit der WTO signalisiert", beschreibt WEED.
Moore kündigte an, dass Dank der finanziellen "Großzügigkeit" der wohlhabenden Länder und einiger Konzerne nun außerordentliche Maßnahmen durchgeführt werden könnten, um dieses Defizit zu beheben. Anfang November sollen in Genf alle WTO-Mitglieder, die dort nicht über einen ständigen Sitz verfügen, für eine Woche zusammenkommen, um sich unter Anleitung von Experten auf die Verhandlungsrunde vorzubereiten.
Kurz zuvor, Ende Oktober, trifft sich der einflussreiche Lobbyverband 120 europäischer und US-amerikanischer Konzerne TABD in Berlin, um seine Strategie für die WTO-Runde festzulegen. Der Trans Atlantic Business Dialogue hat offiziell eine beratende Funktion für die EU-Kommission und das US-Außenhandelsministerium und verfügt damit über einen exklusiven Zugang zur Politik. Internationale Umweltabkommen lehnt der TABD ab und denkt überhaupt nicht an deren Implementierung in der WTO. Stattdessen popagiert er die "Selbstverpflichtung der Industrie".
Wie die WTO hat sich der TABD den freien Handel und die Deregulierung aller wirtschaftlich relevanten Gebiete auf die Fahnen geschrieben. Handelsbeschränkungen, auch zur Umsetzung politischer Ziele, wie z.B. gegen das Apartheidsregime in Südafrika, will der TABD verbieten lassen. Mit von der Partie sind führende europäische Konzerne: die Chemieriesen BASF und Bayer, BDI-Chef Olaf Henkel, DaimlerChrysler, France Telekom, der Baulöwe Philipp Holzmann, Siemens und Unilever.
Auf dem letzten Treffen im November 1998 war die Gästeliste nicht weniger prominent: die US-amerikanische Außenhandelsministerin Charlene Barshefsky, der damalige EU-Handelskommissar Leon Brittan und der Vorgänger von Moore, Renato Ruggiero, gaben sich die Klinke in die Hand. Auch für das Treffen im Oktober haben sich schon zahlreiche Regierungsvertreter angekündigt.
Ob sie sich einigen können, wird sich Ende November in Seattle herausstellen. Dort werden sie mit dem Protest einer heterogenen Widerstandsbewegung konfrontiert sein. Im August probten mehrere hundert Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten in einem Sommerlager, wie sie die WTO-Runde mit direkten Aktionen behindern können. Amerikanische Stahlarbeiter haben bereits in Seattle eine große Anzahl von Unterkünften reserviert, und zahlreiche NGOs mobilisieren für einen weltweiten Aktionstag. Die Unstimmigkeiten der offiziellen Verhandlungspartner wollen sie sich zu Nutze machen. Nach Ansicht der internationalen NGO Friends of the Earth bieten sie "Möglichkeiten für gezielte Aktivitäten, die es den Regierungen zusätzlich erschweren werden, der jetzt schon mächtigen WTO neue und gefährliche Bereiche der Liberalisierung zu öffnen".
Gerhard Klas


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