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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 30.09.1999, Seite 6

Riesters Rentenreform

Die eigentliche Rentenlüge

In den letzten Tagen hat Bundeskanzler Schröder wiederholt behauptet, es gäbe "keine Alternativen" zu Eichels Sparpaket. Unter dem Eindruck der Wahlniederlagen sagte er sogar noch einmal, da wäre "aber überhaupt keine Alternative", und daran soll die wackelnde Sozialdemokratie sich halten. Riesters Rentenreform gehört zu diesem Sparpaket. In den letzten beiden Ausgaben der SoZ sind wir auf zwei Teile der Rentenpläne - die Aussetzung der gesetzlichen Erhöhungen für zwei Jahre und die Einführung einer privaten zusätzlichen Alterssicherung - eingegangen, in diesem Teil soll es um die Frage gehen, dass es natürlich Alternativen gibt.
Schröders Ausspruch, so eine Art medienwirksames "Machtwort" gegen Änderungen am Sparpaket, zeigt nur das Elend seiner Politik. Es ist ja auch Geld da in diesem reichen Land. Dass es keine Alternativen zur Kürzung gäbe, ist die eigentliche "Rentenlüge" der "rot"-grünen Regierung, zusätzlich zu der Nichteinhaltung der Wahlversprechen.
Wenn selbst angesichts der Wahldebakel "nicht gewackelt" wird, zeigt das nur, wie entschlossen Schröder und seine Regierung sind, unter anderem die Kriegsfolgekosten auf die Rentner und Arbeitslosen zu verteilen. Jeder Knappschaftsälteste oder Sozialversicherungsexperte könnte dieser Regierung natürlich verschiedene Alternativen aufzeigen - es kommt auf den Willen an.
Wer zu jung oder zu alt ist, um sich den Lebensunterhalt selber herzustellen, muss von den Überschüssen leben, die die Menschen im produktiven Alter zusammen mit ihren eigenen Lebensmitteln herstellen - eigentlich eine klare und einfache Sache.
Wenn diese Überschüsse aus der laufenden Produktion nun in Geldform als Löhne und als Renten auftreten, ändert sich am Prinzip nichts. Diejenigen, die "in Arbeit" stehen, müssen entweder für ihr eigenes Alter sparen - also auf sofortigen Verbrauch verzichten, oder aber die Überschüsse werden direkt den Älteren gegeben, und auch dann "verzichten" die produktiv Tätigen auf einen Teil des Produkts in der Erwartung, wenn sie selber alt sind, werden die dann Fähigen es ebenso für sie tun. Das ist der berühmte "Generationenvertrag", der auch dem deutschen Rentenversicherungssystem zugrunde liegt.
Aber im Unterschied zur allgemeinen Betrachtung gibt es im Kapitalismus auch andere "unproduktive" Einkommen: Gewinne, die ebenfalls Einkommen nicht produktiv arbeitender Menschen sind. So kommt es für die Frage, ob "die Rente sicher" ist, und welchen Anteil eine Gesellschaft dafür bereit ist abzustellen, nicht nur auf den Reichtum überhaupt an, sondern auch auf die Verteilung des Überschusses (vereinfacht gesprochen) zwischen Gewinnen und Renteneinkommen, noch genauer: zwischen Gewinnen und dem, was die produktiv Tätigen für ihre Renten (sei es als Beiträge oder Lohn für Sparzwecke) davon abzweigen.
Renten und ihre Höhe sind auch Machtfragen - beim Verteilungskampf, aber auf der Basis kapitalistischer Lohnarbeit, wo es nicht nur auf Verteilung nach erfolgter Produktion ankommt. Der aufgehäufte Reichtum wird davon ja nicht mehr berührt und ist doch eine entscheidende Ursache der Verschiebung der Vermögensverteilung, damit des Systems, aus dem die gesetzlichen Renten gerade nicht abgeleitet werden. Die jetzige und alle früheren Regierungen behaupten nun seit Jahren, die Renten seien nicht mehr finanzierbar, oder die Beiträge müssten zu stark steigen.
Zwei Gründe werden angeführt: die Geburtenrate sinkt, also die Zahl der jungen Menschen nimmt ab, und die Lebenserwartung steigt, also die Zahl der alten Menschen wird relativ zur Gesamtzahl der Bevölkerung größer. Nach dem von den Politikern an die Wand gemalten Schreckensbild kommt im Jahre 2050 nur ein Mensch im erwerbsfähigen Alter auf einen Rentner. Schon jetzt werden Jung und Alt gegeneinander ausgespielt.

Wieviel steht bereit?
Dabei gerät völlig aus der Sicht, dass die Menge des produzierten Reichtums, und damit die Menge dessen, was für Rentner und Gewinne zur Verfügung steht, durch die massive Steigerung der Produktivität der Arbeit sehr stark gewachsen ist, und weiter wächst. Und dass diese Überschüsse von immer weniger immer kürzer arbeitenden Menschen erbracht werden - unter anderem mit der Folge der Arbeitslosigkeit.
Die Lohnquote - der Anteil der Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit - ist auf einem historischen Tief in der Kohl-Ära angekommen, während die Gewinnquote entsprechend gestiegen ist. Weil gleichzeitig das gesamte Einkommen stark gestiegen ist, steht insgesamt allein aufgrund der Produktivitätssteigerung eine große Überschussmenge zur Verfügung.
Professor Schui (Hamburg) kommt in der Frankfurter Rundschau zu folgenden Zahlen: Jeder Erwerbstätige in der Privatwirtschaft produzierte doppelt so viel wie dreißig Jahre zuvor, wegen der insgesamt gestiegenen Produktivität. Daraus wurde nicht nur die steigende Lebenshaltung der Erwerbstätigen, sondern auch die der "Nichterwerbstätigen", also der Rentner und der Gewinneinkommensbezieher, bestritten.
Wenn die Produktivität im gleichen Maße weiter steigt, wird sie sich bis in dreißig Jahren erneut verdoppelt haben. Selbst wenn dann viel mehr Rentenbezieher im Verhältnis zu den produktiv Tätigen ihr Einkommen beziehen müssen - er berechnet etwa 1,6- bis 1,7mal so viele - so können beide Gruppen dennoch ihr Einkommen steigern, die Produktivität reicht vollkommen aus. Auch hier wird es darauf ankommen, wieviel die jeweils Aktiven bereit sind, für ihre eigene Altersversorgung an die Seite zu legen - ein steigender Rentenbeitrag ist kein Grund, das Scheitern des Systems auszurufen.
Aber die eigentlich Betroffenen werden ja gar nicht gefragt, ob sie für eine sichere Rente 9, 10 oder 11% bereit sind von ihrem Lohn an die Seite zu legen. Das Scheitern des Systems, oder zumindest die Notwendigkeit von erheblichen Änderungen, wird von interessierten Kreisen ausgerufen, denen der Anteil der Löhne zusammen mit den Rentenbestandteilen am Lohn vom erwirtschafteten Produkt zu hoch ist.
Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen stellt ja gar nicht mehr die Frage nach der Umverteilung - sie befindet sich im Kielwasser der alten CDU-FDP-Koalition, und die Grünen sind in den Fragen des Sozialstaats nicht besser als die FDP.
Die Gewinnsteigerungen der letzten Jahre haben gezeigt, wohin das Geld "verschwunden" ist. Jede Lohnerhöhung unterhalb der Produktivität - sei sie auch begründet mit gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung - bedeutet eine Senkung der Lohnquote, und damit eine Senkung des für Löhne und Renten zur Verfügung stehenden Anteils am Gesamteinkommen.
Die Unternehmen wollen nicht, dass die Renten zu Lasten der Gewinneinkommen finanziert werden - das ist der Kern des Lamentos. Es sind die 130 Milliarden Mark jährlich, die die Arbeitgeberseite in die Rentenkassen einzahlt, und die sollen abgebaut werden.

Blüms Kürzungen: 98 Milliarden
Jeder weiß, dass die Löhne seit den 80er Jahren ständig hinter der Produktivität herhinkten, dass die Realeinkommen zum Teil sanken, und dass dies vor allem der Arbeitslosigkeit, aber auch einer Arbeitszeitverkürzung in zu kleinen Schritten und öfter ohne Lohnausgleich zu danken ist. Dazu kommt, dass sog. rentenfremde Leistungen aus den Rentenkassen bezahlt wurden.
Dies betrifft insbesondere die Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben in den neuen Bundesländern. Hier wurden Steuervergünstigungen für Investoren indirekt durch Beiträge in die Sozialkassen finanziert.
Dazu kommt eine Umverteilung der Steuerlasten weg von der (progressiven) Einkommensteuer zur (allgemeinen) Mehrwertsteuer, weg von den gut Verdienenden zur Masse der Steuerzahler. Der Beitrag des Staates zur Rentenversicherung wird eben hauptsächlich von den Lohnsteuerzahlern selber finanziert.
Der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Blüm rühmte sich, im Verlaufe der Regierungszeit Kohls an den Arbeitslosen und Rentnern in einem Jahr 98 Milliarden Mark eingespart zu haben. Darauf baut Riester auf. Wenn nun noch ein beträchtlicher Teil der 130 Milliarden Mark, die die Arbeitgeber einzahlen, ebenfalls gekürzt wird und ersetzt wird durch Zahlungen der Beschäftigten in eine private Zusatzversicherung, so bedeutet das erneut eine Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen weg von den Lohneinkommen.
Riskante Zukunft Entscheidend dabei ist aber, dass diese Zusatzversorgung, wie Riester sie plant, um keinen Deut "sicherer" ist als eine spätere gesetzliche Rente. Das Problem liegt doch darin, dass eine kapitalgebundene Renten- oder Lebensversicherung darauf beruht, dass der Berechtigte im Rentenfall, z.B. mit 65 Jahren, sein Kapital auflöst, um daraus Einkommen zum Lebensunterhalt zu erzielen. Die Fondsanteile oder Aktien oder Rentenpapiere müssen dann verkauft werden. Sie sind damit den Kursschwankungen der Börse, der wirtschaftlichen Entwicklung unterworfen. Das Risiko trägt allein der dann bedürftige Rentner, der sich ja nicht den Zeitpunkt aussuchen kann, wann er sein Kapital braucht.
Auch die dann zu verbrauchenden Kapitalbestandteile und Zinsen müssen in diesem zukünftigen Zeitpunkt erwirtschaftet werden, also von der Produktivität der dann aktiv Beschäftigten. Sie müssen also auch dann - ähnlich als ob sie Beiträge in die gesetzliche Versicherung zahlen - aus dem von ihnen Produzierten zugunsten der jeweiligen Rentenbezieher auf Einkommen verzichten - nur dass es nicht die Form der Rentenbeiträge hat, sondern in die jeweiligen Kapitalfonds fließt.
Wie man es dreht und wendet: Rentner und Arbeitende können sich ihren Anteil nur gemeinsam erkämpfen, indem sie die Gewinne schmälern - als wirklicher Verteilungskonflikt. Hierüber geht Riester natürlich komplett hinweg - und der Kern des Geredes von "Es gibt keine Alternative" ist den Rentnern und Arbeitenden zu sagen: "Lasst die Finger von Änderungswünschen, die wären nur auf Kosten der Gewinne möglich."
Schui beendet seinen Artikel mit dem Satz: "Wie auch immer die Erwerbstätigen zu ihrem Anspruch auf Rente kommen: Ihre Beiträge (oder ihr Sparen) schmälern ihr verfügbares Einkommen in der Gegenwart, wenn sie sich nicht durch Lohnerhöhungen zu Lasten derer schadlos halten, die weder Erwerbstätige noch Rentner sind. Dass es von Jahr zu Jahr mehr zu verteilen gibt, stellt die steigende Arbeitsproduktivität sicher." Davon abzulenken, Aktive gegen Rentner, Junge gegen Alte auszuspielen ist ein ernstes Problem der jetzigen Rentenreformdebatte.

Altersarmut
Wenn es "nur" um die Verteilung des Erwirtschafteten ginge, wäre es bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen (die bekanntlich geändert werden können) schon schwer genug. Aber damit ist noch immer nicht das Problem gelöst, dass die produktive Arbeit der Kern des Erwerbs sowohl während der aktiven Zeit wie auch der Rentenbezugszeit bleibt.
Damit würden erneut die Probleme der Altersarmut und der unregelmäßigen "weiblichen" Erwerbsbiografien nicht gelöst. Das Problem der Arbeitslosigkeit bleibt. Die "nichtproduktive" Arbeit, Eigenarbeit oder Familienarbeit vor allem der Frauen kann damit nicht richtig bedacht werden. Lohnbezogene Rente führt für diese Menschen entsprechend zur Altersarmut, oder zur Abhängigkeit von Familienernährer-Strukturen, von Versorgungsehe.
Eine wirkliche Reform des Rentensystems muss sich daran messen lassen, inwieweit damit aufgeräumt wird, dass Überschüsse nicht zur Bereicherung Einzelner oder Anhäufung toten Kapitals (selbst solchem mit Rentenberechtigung), sondern zum Leben aller Menschen einer Gesellschaft dienen.
Die Grundsicherung scheint ein unerlässlicher Bestandteil eines solchen zukünftigen sozialen Sicherungssystems zu sein, das zuverlässig Altersarmut verhindern soll. Die private Zusatzversicherung ist nichts als die Überantwortung des Risikos der Alterssicherung an die Spekulation, an den Markt - mit möglicherweise verheerenden Folgen für die kommenden Altengenerationen.
Rolf Euler


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