Sozialistische Zeitung |
Der Balkankrieg 1999 war zwar in erster Linie von US-Interessen bestimmt. Es war jedoch nicht
ausschließlich ein US-Krieg und der militärische Sieg ist nicht allein ein Sieg der US-Regierung bzw. des militärisch-
industriellen Komplexes in Nordamerika. Die EU-NATO-Länder haben in diesem Krieg keineswegs einen Vasallenstatus gehabt, auch
wenn der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski von eben einem solchen Abhängigkeitsverhältnis der EU von
Europa ausgeht und sogar von "tributpflichtigen Staaten" spricht. Eine differenzierte Analyse der Ursachen und Hintergründe
dieses Krieges lassen Aussagen als vereinfacht erscheinen, wonach es sich um einen "guerre contre l Europe", um einen
"Krieg gegen Europa" gehandelt habe, wie teilweise in Le Monde und vielfach in der jungen Welt argumentiert wurde.
Doch auch eine entgegengesetzte Sichtweise erscheint unzureichend differenziert. Hermann Gremliza hat in Konkret eine Interpretation der
Gründe für diesen Krieg, die in die entgegengesetzte Richtung weisen, vorgetragen. Danach habe Deutschland die USA "in
diesen Krieg hineinmanövriert". Gremliza schrieb, als er von dem konkreten Ende des Balkankriegs - ein Friede weitgehend nach
deutschem bzw. EU-Plan - noch nichts wissen konnte: "Denn der kleinste Preis, ein Friede nach deutschem Plan, wäre zugleich der
für die Amerikaner höchste: die notarielle Beurkundung, dass nach der Sowjetunion die USA der zweite Verlierer der
weltpolitischen Wende geworden sind. Weshalb die Schlacht zwischen der Pax americana und der Pax germanica noch viele
Kollateralschäden … anrichten wird."
Letzteres trifft zu. Den Grundtenor, wonach die Bundesregierung gewissermaßen pünktlich zum Ortswechsel nach Berlin erneut
erfolgreiche Großmachtpolitik gegenüber den USA hätte treiben können und die USA in diesen Krieg gezogen
hätte, teile ich nicht. Wenn die deutsche Seite jemand in den Krieg "hineinmanövriert" hat, dann waren das diejenigen
Teile der Europäischen Union, die nicht wie Großbritannien von vornherein an vorderster Front im Kosovo stehen wollten. Die
Bundesregierung konnte dabei latente Widerstände in anderen EU-Mitgliedstaaten überwinden, weil es ein gemeinsames
Eigeninteresse in der EU an einer aktiven Beteiligung an diesem Krieg gab.
Die EU-NATO-Länder "investierten" mit diesem Krieg in ihre militärische Zukunft. Sie wollten als Juniorpartner der
USA ihre Fähigkeit, imperialistische Kriege dieser Art führen zu können, weiterentwickeln. Tatsächlich wurden
während des Balkankriegs erhebliche Fortschritte hinsichtlich einer institutionalisierten EU-Militärpolitik, die in die Struktur
"Westeuropäische Union" (WEU) gegossen ist, erzielt.
An dieser Stelle ist ein Blick auf die Geschichte der WEU lehrreich. Die Westeuropäische Union wurde 1948 in einer Vorform als
"Brüsseler Pakt" und 1954 als europäisches Sicherheitsbündnis gegründet. Ironischerweise hatte die WEU
damals, so Karl Rössel, "die Funktion, den deutschen Militarismus zu kontrollieren, um gleichzeitig die Wiederaufrüstung der
BRD im Rahmen der NATO zu ermöglichen."
Die WEU war von vornherein auf eine enge Zusammenarbeit mit der NATO ausgerichtet; sie schien als eine westeuropäische
Konkretisierung der NATO konzipiert. Praktisch konnte sie solange nicht lebensfähig sein, wie sie nicht über eigene Truppen,
eigene Kommandostrukturen und einen ausreichend ausgestatteten eigenen Finanzetat verfügte. In der Zeit des Kalten Krieges spielte die
WEU keine größere Rolle, da sich die gemeinsamen militärischen Interessen des Westens gegen den Warschauer Pakt
richteten und da die Konkurrenz USA/Westeuropa erst eine latente war. 1981 empfahl die WEU ihren Mitgliedsländern, sich mit
Truppenstationierungen in Sinai zu beteiligen. Noch vor der Zeitenwende meldete sich die WEU deutlicher zu Wort - oder, wie Marx sagte:
Meist reifen die neuen Verhältnisse bereits im Schoß der alten Gesellschaft.
1988 verabschiedete die WEU eine Erklärung, in der sie die überseeischen Märkte und Energiequellen zu den "vitalen
(!) Interesssen Europas" zählte und festhielt, dass diese gegebenenfalls "auch militärisch" zu sichern seien. Zur
gleichen Zeit zeigte die WEU erstmals auch militärisch Flagge: am Ende des ersten Golfkriegs entsandte das Militärbündnis
Kriegsschiffe als "Geleitschutz für Tanker" in die Golfregion.
Im zweiten Golfkrieg 1990/91 trat die WEU in der Kriegsregion bereits mit eigener Kommandostruktur auf. In dieser Zeit, als in der Linken
eine heftige Debatte über mögliche Differenzen zwischen der imperialistischen Politik der USA und derjenigen der BRD tobte,
wurde von beiden Seiten der Debatte weitgehend übersehen, dass zumindest maßgebliche Vertreter der deutschen Politik und des
deutschen militärisch-industriellen Komplexes bereits auf die WEU setzten. Im März 1991 erklärte der damalige CDU-
Generalsekretär und spätere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe, dass eine Streitmacht "im Rahmen der WEU
gebildet und nicht nur unter dem Dach von NATO und UN, sondern auch in eigener Regie außerhalb europäischen Territoriums
tätig werden" sollte. Im Juni 1992 knüpfte die "Petersberger Erklärung" der EU-Staaten an diese Tradition
an. Gemäß dieser Erklärung gehören "Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung" und
"friedenserhaltende und humanitäre Maßnahmen" ebenso zu den Aufgaben der WEU wie Kampfeinsätze bei der
Krisenbewältigung.
Gerhard Klas bilanzierte in der SoZ die bereits im Vorfeld des neuen Kosovo-Kriegs festgelegte Marschroute: "1996 beschlossen die
NATO-Außenminister in Berlin, dass die WEU künftig unter Rückgriff auf die Infrastruktur der NATO militärische
Operationen in eigener Verantwortung durchführen könne - auch ohne aktive Beteiligung der USA. Die politische Entscheidung
behalten die USA allerdings fest in ihren Händen: Auf dem Berliner Treffen haben die USA ihr Vetorecht durchgesetzt und können
damit eine militärische Mission der europäischen Staaten jederzeit verhindern."
Zurück zur Gegenwart des Balkankriegs 1999: Die nunmehr strategischen Schritte zur Aktivierung der WEU wurden während
dieses Kriegs unternommen. Am 10. und 11. Mai 1999 trafen sich in Bremen die Außen- und Verteidigungsminister der
Westeuropäischen Union (WEU). In einer Schlusserklärung des Treffens unterstützten sie die Verschmelzung des
Militärbündnisses WEU mit der Europäischen Union, die bereits bis Ende des Jahres 2000 vollendet sein soll.
Anfang Juni, in den letzten Kriegstagen, wurde diese Orientierung auf dem EU-Gipfel in Köln bekräftigt. Zuvor war am 1. Mai der
EU-Vertrag von Amsterdam in Kraft getreten, der eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU vorsieht. Die NATO
wiederum hatte auf ihrem Jubiläumsgipfel in Washington das Projekt Aktivierung der WEU begrüßt und erklärt, dieser
die erforderlichen militärischen Mittel zur Verfügung stellen zu wollen. Selbst das Problem der unterschiedlicher Interessenlagen
in der EU, die sich gerade bei militärischem Eingreifen noch zuzuspitzen pflegen, wurde geregelt und eine sibyllinische Formel für
eine "gemeinsame" EU-Militärpolitik gefunden. Die GASP sieht die Möglichkeit einer "konstruktiven
Enthaltung" vor. Mitgliedstaaten, die sich bei einer geplanten Miliäraktion enthalten, sind danach nicht verpflichtet, an dieser
teilzunehmen. Indem der ausscheidende NATO-Generalsekretär Javier Solana als erster "Mr. GASP", als "Hoher
Vertreter für die gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik" bestimmt worden war, wurde auch die große Bedeutung
des Militärischen für diese GASP verdeutlicht.
Der Balkankrieg 1999 diente damit der Reaktivierung einer EU-Militärinstitution, die entscheidend sein wird, wenn die EU
tatsächlich zur vollausgebildeten Weltmarktkonkurrenz gegenüber der NAFTA aufsteigen soll. Die Hoffnung der EU-Staaten, damit
würde das Ziel einer "europäischen Verteidigungsidentität" erreicht, ist jedoch verfrüht. Zu dieser
"Identität" gehören nämlich zwei Elemente - eine gemeinsame westeuropäische Rüstungsindustrie als
materielle Basis und eine gemeinsame westeuropäische institutionalisierte Militärpolitik als institutioneller
Überbau.
Wie so oft beim Projekt "Europäische Union" scheint der Überbau vor der Basis errichtet zu sein. Und das kann sich
noch als Sprengstoff herausstellen - auch für eine gemeinsame EU-Militärpolitik.
An dieser Stelle ist nochmals auf das Thema Euro zurückzukommen. Nicht nur, weil bei der Einheitswährung ebenfalls versucht
wird, zuerst einen finanztechnischen Überbau herzustellen, in der Hoffnung, die materielle Basis eines einheitlichen
westeuropäischen Nationalstaats oder wenigstens einer gemeinsamen Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik in Westeuropa werde sich
über den Euro aufzwingen lassen. Am Beispiel Euro lässt sich darüber hinaus gut die Widersprüchlichkeit des Ja der
EU zu diesem Krieg dokumentieren.
Der Verfall des Euro während des Balkankriegs hatte die beschriebenen negativen Seiten: Attraktiv wurde auf diese Weise der
"Finanzplatz Euroland" nicht. Dollarbesitzer, die vor dem Krieg Aktien oder Grundstücke in einer Euro-Währung
gekauft hatten und diese nach dem Krieg verkaufen und den Erlös in Dollar wechseln wollten, hatten gut 10% Verluste gemacht. Die
negativen "klimatischen" Auswirkungen dieses Vorgangs wurden durchaus offen zugegeben. "Das Vertrauen in den Euro ist
lädiert - und das gleich mehrfach." So eine Bilanz des Spiegels. "Mit Besorgnis registrieren viele Ökonomen, dass die
im Maastricht-Vertrag fixierten Stabilitätskriterien eher lax gehandhabt werden. Italien darf ganz offiziell 20% mehr Staatsschulden
machen als verabredet. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Anleger in aller Welt sind unsicher geworden … Seit einigen Tagen melden die Banken
einen deutlichen Rückzug vor allem der Japaner - ein für Deutschland höchst alarmierendes Zeichen."
Vielerorts wurde auch explizit der Krieg als Ursache für die Euro-Schwäche ausgemacht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
versuchte sich dabei in die Gefühlswelt der sensiblen ausländischen Kapitalanleger einzufinden: "So lastet der Konflikt auf
dem Balkan seit Wochen auf dem Euro. Die geographische Nähe des Euro-Raums zum Schauplatz des Krieges lässt bei den
internationalen Anlegern ein unbehagliches Gefühl zurück. Der Dollar dient ihnen in diesem Sinn als sicherer
Anlagehafen."
Doch wenn der Krieg dem zentralen Projekt der EU derart und möglicherweise dauerhaft schadete, weswegen fand der Krieg dann
dennoch die kaum getrübte Unterstützung der Eurolandstaaten? Hierfür spielen natürlich unterschiedliche - teilweise
bereits erwähnte - Gründe eine Rolle. Die geringe Beachtung der Kriegsfolgen für den Euro hängt jedoch auch mit der
widersprüchlichen Wirkung des kriegsbedingten Euro-Kursverlusts zusammen.
Verkürzt gesagt wurde mit dem Krieg und mit dem Kursverfall des Euro erreicht, dass die schmerzhaften Auswirkungen des Euro auf die
Mehrzahl der EU-Ökonomien hinausgezögert wurden. Objektiv zu Recht verwiesen viele Euro-Propagandisten darauf, dass der
Euro-Kursverfall eine Hilfe für die EU-Exporte in die Nicht-Euro-Regionen (also z.B.in den Dollarraum) sei. In dem Maß, wie der
Euro im Verhältnis zum US-Dollar oder zum Yen, zum Schweizer Franken oder auch zum britischen Pfund sinkt, in dem Maß
verbilligen sich die Exporte aus Euroland. (Hier sei höflich darüber hinweg gesehen, dass dieselben Banker, Politiker und Euro-
Befürworter zuvor einen "starken Euro" verhießen und, wenn man so will, "schlechte Exportchancen" in die
Regionen außerhalb von Euroland akzeptiert hatten.)
Tatsächlich zogen die Exporte der Euro-Länder im ersten Halbjahr 1999 gerade nach Übersee und teilweise auch wieder
nach Südostasien an. Beabsichtigt war diese Tendenz nicht, sollte der Euro doch vor allem auch dazu dienen, die innere Verflechtung der
EU zu stärken, also den Inner-EU-Handel - gegebenenfalls auf Kosten des Handels mit Regionen außerhalb der EU - zu
fördern.
Nun stellt aber die Möglichkeit zu verbesserten Exporten von Euroländern mit Ländern außerhalb der EU-
Einheitswährung ein ideales Ablassventil für innere Widersprüche in Euroland dar. Das hat zu tun mit dem Wegfall der
Abwertungsmöglichkeit, die mit der Einführung des Euro verbunden ist. Seit dem 1.1.99 sehen sich alle Euroland-Länder der
weitgehend unabgefederten inneren Konkurrenz ausgesetzt, der sie nicht mehr, wie bisher, durch Abwertungen teilweise ausweichen konnten.
Die schwächeren EU-Länder blieben in den letzten zwanzig Jahren gegenüber der westdeutschen - und z.T. gegenüber
der französischen - Wirtschaft nur durch massive Abwertungen ihrer jeweiligen Landeswährung konkurrenzfähig.
Allein im Zeitraum 1979 bis 1993 wurden gegenüber der DM die heutigen Euro-Währungen Escudo um 75%, Peseta um 54%, Lira
um 52%, das irisches Pfund um 37% und der französische Franc immer noch um 33% abgewertet. Dass trotz dieser Abwertungen - also
trotz der aliquoten Verteuerung deutscher Exporte in die entsprechenden Länder und trotz der ebenso großen Verbilligung der
Exporte dieser Länder in die BRD - die wirtschaftliche Dominanz der BRD in Westeuropa keine geringere wurde, ist allseits
bekannt.
Nun gibt es keinerlei einleuchtenden Grund, weshalb es nicht auch in Zukunft, nach Einführung des Euro, einen kontinuierlichen
Entwicklungsprozess geben sollte, bei dem die deutsche Ökonomie an Boden gewinnt und weswegen die schwächeren EU-
Nationalstaaten die Zuflucht in Abwertungen suchen würden - um ein völliges Niederkonkurrieren ihrer eigenständigen
Industrien zu verhindern -, wenn sie dies noch könnten. Solche Abwertungen sind weiterhin möglich in Griechenland oder in
Schweden - theoretisch auch in Großbritannien -, also in den Nicht-Euro-Ländern der EU. Sie sind jedoch - formal und juristisch -
nicht möglich in den Ländern, die seit dem 1.1.99 sich für die EU-Einheitswährung entschieden haben.
Die - zumindest in der offiziellen Politik - unerwartete Abwertung des Euro im ersten Halbjahr 1999 und damit in der wichtigen Startphase der
Einheitswährung - stellte nun für die schwächeren Euro-Länder, die sich einem wachsenden Konkurrenzdruck vor
allem von Seiten der deutschen Industrie ausgesetzt sehen, eine Atempause dar. Ihr eingeengter Spielraum für Exporte in die Euro-Zone
wurde mehr als ausgeglichen durch die verbesserten Exportchancen in Länder außerhalb der Euro-Zone.
Für diejenigen, die am meisten von dem Projekt einer EU-Einheitswährung profitieren, dürfte es darauf ankommen, die
beschriebenen, für schwächere EU-Länder negativen Wirkungen des Euro hinauszuzögern und den Euro
möglichst lange als scheinbar neutrales und die "europäische Einheit förderndes Projekt" glänzen zu lassen.
Eine schnelle Zuspitzung der negativen Folgen der Einheitswährung würde eine weit größere Gefährdung dieses
zentralen EU-Projekts darstellen als die10% Kursverluste, die der Euro im Verlauf des Balkankriegs erlitt. So gesehen können
diejenigen, die das Projekt der Europäischen Union als einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konkurrenz zu den
USA und zur NAFTA an erster Stelle betreiben, auch diesen Folgen des Balkankriegs auf die Einheitswährung etwas abgewinnen.
Winfried Wolf