Sozialistische Zeitung |
Gerade rechtzeitig vor dem europäischen Sondergipfel der Justiz- und Innenminister im finnischen
Tampere hat die belgische Regierung beispielhaft vorgeführt, welche Bedeutung Menschenrechte und die für sie eintretenden
Institutionen in Europa haben. Erstmals in der Geschichte des Gerichtshofs für Menschenrechte hat eine europäische Regierung eine
Eilentscheidung des Gerichts ignoriert. Die Straßburger Richter hatten beschlossen, die Abschiebung zweier Roma-Familien aus Belgien
in die slowakische Republik für eine Woche auszusetzen. Dennoch ließ der liberale belgische Regierungschef Guy Verhofstadt am
5.Oktober 74 Roma in das osteuropäische Land abschieben. Den Fall der beiden Familien hatte die belgische Menschenrechtsliga
stellvertretend für insgesamt 450 Roma vor den Gerichtshof gebracht, die die belgische Regierung im Laufe des Monats in die
slowakische Republik abschieben will. "Kein Staat hat jemals solch eine Aufforderung nicht befolgt, auch wenn sie nicht bindend
ist", erklärten die belgischen Grünen in einer Mitteilung.
Die Entscheidung des Gerichts, die u.a. von den Behörden eine
ausreichende Berücksichtigung der Situation im Heimatland fordert, sei erst nach dem Start des Flugzeugs nach Bratislava bekannt
geworden, beteuerte Verhofstadt auf Anfragen von Journalisten. Dabei ging die Eilentscheidung des Straßburger Gerichts nach Angaben
der Tageszeitung Le Soir bereits um 16 Uhr im belgischen Justizministerium ein - das Flugzeug startete um 17.50 Uhr.
Die neue belgische Regierung, bestehend aus Liberalen, Sozialdemokraten
und Grünen, hat eine Asylpolitik der "Menschlichkeit und Standhaftigkeit" angekündigt. 50.000 Migranten ohne Papiere
sollen Pässe erhalten. Doch gleichzeitig lässt sie keinen Zweifel daran, dass sie Abschiebungen künftig rigoroser
durchführen will. "Flüchtlinge aus Ländern wie der Slowakei und Bulgarien sind keine wirklichen Asylbewerber, denn
sie haben keine politischen Probleme, die das belegen könnten", meint Verhofstadt.
Darüber hinaus handele es sich dabei um ein Land, dass der EU
beitreten wolle. "Wir können nicht zulassen, dass währenddessen Massen von Illegalen von dort nach Belgien
kommen", erklärt der Premier kurz vor dem EU-Sondergipfel. Verhofstadts Vorgehen entspricht durchaus der politischen Praxis
anderer EU-Mitgliedsländer. Diese soll nun nun in der EU vereinheitlicht werden. Belgien hat sich von der Regierung in Bratislava die
Unterstützung für diese Abschiebeaktion zusichern lassen. Und auch mit den Regierungen von Albanien, Bulgarien, Makedonien und
Kosovo stehe Belgien in Verhandlungen über ein "Rücknahmeabkommen" für Flüchtlinge, erklärt der
Premier.
Unter der finnischen EU-Ratspräsidentschaft soll außerdem
über den Fahrplan zum Beitritt der Türkei verhandelt werden. Die Chancen stehen nicht schlecht, denn selbst Griechenland, von
jeher Gegner der türkischen EU-Mitgliedschaft, hat vor kurzem grünes Licht gegeben. Gerade im Fall der Türkei steht zu
befürchten, dass sich die EU mit Lippenbekenntnissen der türkischen Regierung zur Menschenrechtslage zufrieden geben wird.
Denn wie kein anderer Beitrittskandidat ist die Türkei als zuverlässiger Partner in einer krisengeschüttelten Region für
die geostrategischen Interessen der EU von größter Bedeutung und damit eine mittelfristige Einbindung unumgänglich.
In den aktuellen Berichten der hochrangigen EU-Arbeitgruppe
Flucht/Migration unter deutschem Vorsitz taucht die Türkei schon gar nicht mehr auf. Stattdessen - so steht es im ersten Bericht, den diese
Arbeitsgruppe nun den Innenminstern in Tampere vorlegen wird - soll die Türkei als "Aufnahmeland" für
Flüchtlinge aus dem Irak ausgebaut werden. Die aus hohen Beamten aus den Außen- und Innenministerien zusammengesetzte
Arbeitsgruppe hat die Aufgabe, Migrationsbewegungen nach Europa zu verhindern. Unter Beobachtung stehen derzeit Afghanistan, Irak,
Somalia, Marokko und Sri Lanka.
Von weltweit 16,5 Millionen Flüchtlingen hat die EU im vergangenen
Jahr gerade einmal 30.000 aufgenommen. Eine Chance haben nur die, die ihre politische Verfolgung nachweisen können und nicht
über ein "sicheres Drittland" eingereist sind. Gänzlich unmöglich ist eine Aufenthaltsgenehmigung für die
sogenannten "Wirtschaftsflüchtlinge". Dabei wird gerade in den Auseinandersetzungen um die kommende Jahrtausendrunde
der Welthandelsorganisation deutlich, wie sehr Migrationsbewegungen und Wirtschaftspolitik der mächtigen Staaten
zusammenhängen.
Doch soziale Aspekte wie Hunger und Armut spielen keine Rolle. Auch bei
der geplanten Ausarbeitung einer rechtlich bindenden Charta der Grundrechte in der EU sind soziale Rechte nachrangig und stehen in den
vorbereitenden Papieren unter dem Vorbehalt, "soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen".
Für die Charta sollen ebenfalls in Tampere die Weichen gestellt werden.
Der geplanten Verabschiedung der Grundrechtecharta Ende des kommenden
Jahres wird hoffentlich eine ausgiebige Debatte der sozialen Bewegungen um den Begriff der Menschenrechte vorausgehen. Bisher erkennt die
EU in der politischen Praxis als einziges Menschenrecht das auf Eigentum konsequent an. Davon profitieren diejenigen, die über
nennenswerten Besitz verfügen: Großgrundbesitzer, Industrielle, mittelständische Unternehmer und
Großaktionäre. Mit weitergehenden Forderungen nach politischen Menschenrechten könnten vielleicht u.a. die jedem
rechtsstaatlichen Prinzip hohnsprechenden Kompetenzen der Superpolizeibhörde Europol eingeschränkt werden. Doch das allein
reicht nicht aus. Einen Schritt weiter käme eine Bewegung, die mit einer sozialen Definition der Menschenrechte all den
Flüchtlingen, Erwerbslosen, prekär Beschäftigten, Behinderten, Kranken und Alten die Grundlage bieten würde, die
materiellen Grundlagen ihres täglichen Lebens gegen die Profitinteressen der europäischen und internationalen Multis einzufordern.
Gerhard Klas
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