Sozialistische Zeitung |
Klaus Zwickel ist vor jedem Gewerkschaftstag der IGM für eine Überraschung gut. Diesmal hat er
sich das Thema "vorzeitiger Rentenbeginn" ausgesucht, um Punkte zu machen - aber bei wem?
Die "Rente mit 60" gab es früher für einen
größeren Personenkreis: Wer lange Zeit vor dem 60.Lebensjahr erwerbslos war, Berufs- und Erwerbsunfähige und vor allem
Frauen konnten mit dem 60.Lebensjahr in den Ruhestand gehen. Für all diese Gruppen (außer langjährig unter Tage
beschäftigten Bergleuten) wurde unter Kohl - zum Teil mit Übergangszeiten - der Rentenbeginn auf das 65.Lebensjahr
heraufgesetzt. Versuche, den Vorruhestand über Altersteilzeit zu erreichen, schlugen sich kaum in mehr Arbeitsplätzen nieder.
Viele, die jetzt aus persönlichen Gründen oder wegen Erwerbslosigkeit früher mit der Erwerbstätigkeit aufhören
müssen, verlieren bis zu 18% ihrer Rente - für jeden Monat vor dem 65.Lebensjahr 0,3%. Aber der Arbeitsmarkt ist den Menschen
in diesem Alter längst verschlossen, bei einer Erwerbslosigkeit von 4 Millionen sind sie praktisch nicht vermittelbar und werden
dennoch mit Rentenkürzung bestraft.
Diesen Sozialabbau der alten Regierung hat die neue Koalition nicht
rückgängig gemacht, sie will noch eins draufsetzen: die allgemeine Rentenerhöhung zwei Jahre lang auf die
Preissteigerungsrate beschränken und zusätzlich Langzeitarbeitslosen geringere Rentenbeiträge anrechnen - d.h. Kurs auf
Altersarmut zu nehmen. Natürlich ist die Vorruhestandsregelung vor allem von den Großunternehmen genutzt worden, um sich von
abgearbeiteten Belegschaften günstig trennen zu können. Dass gerade diese Menschen den vorzeitigen Ruhestand wegen der
erfahrenen Arbeitsbelastungen aber auch nötig haben, wird gern vergessen, wenn vom Missbrauch die Rede ist.
Richtige Sache schlecht genutzt
Vor dem ersten "Bündnis-für-Arbeit"-
Gespräch der Metallbranche Ende September hat die IG Metall nun die Forderung nach "Rente mit 60" erhoben. Dies schaffe
über eine Million neue Arbeitsplätze. Zwickel drohte, aus den Bündnis-für-Arbeit-Gesprächen auszusteigen,
wenn Gesamtmetall dieser Forderung nicht entgegenkäme. Die Arbeitgeber erhoben die Gegenforderung nach mehr Flexibilisierung, und
behaupteten, "der Staat" könne eine Rente mit 60 nicht bezahlen.
Auch bei Walter Riester stieß die Forderung Zwickels auf deutliche
Ablehnung. Dafür seien Beitragserhöhungen nötig, die der Bundesarbeitsminister nicht machen würde. Die Tarifpartner
sollten einen Tariffonds vereinbaren, um die gesetzlichen Rentenabschläge bei vorzeitigem Ruhestand auszugleichen. Schröder
meinte ebenfalls, ein vorzeitiger Renteneintritt sei nicht bezahlbar. Die Gespräche würden durch Zwickels Vorstoß belastet.
Die von der IGM genannten Zahlen über mögliche
Arbeitsplatzeffekte (1,2 Mio.) scheinen sehr zweifelhaft. Im Alter von 60 bis 65 arbeiten nach Angaben der Rentenversicherung nur 420000
Beschäftigte, im Alter zwischen 55 und 60 Jahren sind es 2,1 Millionen. Aufgrund der bisherigen Entwicklung rechnen die
Versicherungsträger höchstens mit 400.000 zusätzlichen Ausscheidenden, denen aber keine gleich hohe Neubesetzung von
Arbeitsplätzen gegenüberstehen würde. Im Gegenteil, die Dienstleistungsbranche, die vor einem Rationalisierungsschub
steht, könnte sich auf diese Art auf Kosten der Sozialversicherung von älteren Angestellten befreien, die sie sonst nicht so einfach
"los" wird. Zwickels Vorstellung, die Regelung über fünf Jahre laufen zu lassen, würde nach Einschätzung
von Frau Engelen-Kefer, 2.Vorsitzende des DGB, zur Neueinstellung von rund 150000 Menschen führen.
Die Vermengung einer sozialpolitischen, tariflichen und gesamtpolitischen
Argumentationsebene war komplett, als der zweite IGM-Vorsitzende, Jürgen Peters, nachlegte und sagte: Wenn die Rente mit 60 nicht
kommt, fordern wir die 32-Stunden-Woche. So kann man die Frage der Arbeitszeitverkürzung - sei es Lebens- oder Wochenarbeitszeit -
kaum zur Mobilisierung gegen die Regierungspolitik nutzen. Das führt eher zur Verwirrung der Mitglieder, die sich fragen, wofür
sie denn nun eintreten sollen. Das zeigte sich auch auf dem Gewerkschaftstag: als der Dampf sich verzog, vereinbarten Riester und Zwickel,
sich in der Frage Frühverrentung näherzukommen. Artig verteidigte Zwickel dann auch die Teilnahme der IGM am Bündnis
für Arbeit gegen massive Kritik mit den Worten, dies sei "unsere Regierung", man fordere eine "neue Politik",
aber keine neue Regierung.
Und nach dem Gewerkschaftstag?
So stellt sich die Frage: Wem nützte der Streit? Zwickel hatte wohl
keine Sorge, wiedergewählt zu werden - zwar mit weniger Stimmen, aber unangefochten. Peters bekam ebenfalls weniger Stimmen. Ist
jetzt eine weitere Arbeitszeitverkürzung vom Tisch? Werden über steuerliche Erleichterungen private Zusatzversicherungen
"attraktiv", mit denen ein vorzeitiger Ruhestand erreicht werden könnte? Und wer von den noch beschäftigten Metallern
könnte da einzahlen? Werden nun die gewerkschaftlichen Forderungen im Bündnis für Arbeit weiter reduziert? Zum Beispiel
mit Zwickels Vorschlag, man könne sich eine langfristige, tariflich abgesicherte Lohnpolitik vorstellen, wenn die Arbeitgeber
Arbeitsplätze schaffen?
Die Manie, vor und auf Gewerkschaftstagen mit immer neuen Ideen
herauszuplatzen, um hinterher kleine Brötchen backen zu müssen, kann nicht gut sein für die Entwicklung einer
kämpferischen Position der Gewerkschaftsmitglieder gegen den weiteren Sozialabbau und gegen die Sparpolitik. Dabei gäbe es
sehr wohl Alternativen dazu. Auch bei der Rente.
Hoffentlich setzt sich jetzt nicht nur Zwickel mit dem interessanten
Kommentar von Jutta Roitsch in der Frankfurter Rundschau (4.10.) zu diesem Thema auseinander. Nicht dass man alles unterschreiben sollte,
aber die Schwachstellen der IGM-Forderung legt sie dar. Sie weist daraufhin, dass die Unterschiede zwischen den Lebensverhältnissen
von Männern und Frauen sowie zwischen Ost und West bei dieser Forderung nicht berücksichtigt werden. "Männer
dieser Generation" mit ihrem damals problemlosen Einstieg in den Arbeitsmarkt und einer oft "lupenreinen" Erwerbsbiografie
"könnten sich einen früheren Ausstieg leisten, auch wenn er etwas kostet". Aber wer sonst, vor allem von den Frauen?
Sie endet: "Eine Gewerkschaft, die nicht nur an ihren eigenen
Machtspielen interessiert ist, müsste mit einer völlig anderen Vision ins 21. Jahrhundert gehen. Zum Beispiel: ein ,fester Job mit
30, für Männer und Frauen. Spätestens." Da ist was Wahres dran.
Adam Reuleaux
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