Sozialistische Zeitung |
In der aktuellen sozialpolitischen Diskussion hat "ehrenamtliche" oder "freiwillige"
Arbeit Konjunktur. Soziale Versorgung wird großflächig reprivatisiert, staatlichen Kürzungen zum Opfer fallende soziale
Einrichtungen werden der Wohlfahrt überantwortet bzw. der ehrenamtlichen Arbeit und Selbsthilfe übergeben.
All dies wird mit dem ideologischen Mäntelchen des Vorteils
menschlicher Wärme in kleinen sozialen Netzwerken im Vergleich zur Kälte der professionellen Hilfeexperten in
Betreuungseinrichtungen gnädig zugedeckt. Die Lage der ArbeitnehmerInnen wird ökonomisch wie sozial zunehmend unsicher.
Working poor, Armut trotz Arbeit sowie Armut durch Erwerbslosigkeit nehmen erschreckenden Umfang an. Damit wächst auch die Zahl
der Hilfsbedürftigen.
Zudem wird argumentiert, nicht alle Menschen wollten sich im Beruf
verwirklichen, sie fänden ihre Zufriedenheit in der Familie, beim bürgerschaftlichen Engagement und in der Nächstenhilfe.
Wenn es gelänge, weitere ehrenamtliche "Potenziale" zu gewinnen, könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen:
der Arbeitsmarkt würde entlastet und noch mehr Hilfsbedürftige würden zum Nulltarif versorgt.
Undifferenziert wird heute von freiwilliger Arbeit, vom "neuen
Ehrenamt", vom bürgerschaftlichen Engagement, von Selbsthilfe, Bürgerarbeit etc. gesprochen. Darunter wird alles
subsumiert: von der freiwilligen Feuerwehr, über die Übungsleitung im Sport bis zur unbezahlten Altenpflege. Die
geschlechtsspezifischen Aspekte der "ehrenamtlichen" Arbeit bleiben zumeist unberücksichtigt.
Ehrenamtliche Tätigkeit ist kein eindeutiger Begriff, sondern
Ausdruck situativer Vieldeutigkeit. Mit dem Entstehen der Wohlfahrtsverbände, der Entwicklung des Sozialstaats und beruflich
organisierter personenbezogener Dienstleistungen wurde das Ehrenamt zum unverzichtbaren Bestandteil sozialer und gesundheitlicher
Sicherung. Seither bezeichnen die Begriffe "ehrenamtliche Arbeit" und "freiwillige Arbeit" unbezahlte, scheinbar
unbezahlbare, Arbeit.
Notwendig ist die Unterscheidung zwischen dem politischen Ehrenamt in
den Vorständen der Wohlfahrtsverbände, in den Aufsichtsräten kultureller, gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher,
wissenschaftlicher und kirchlicher Gremien, und der ehrenamtlichen Arbeit im sozialen Bereich als unbezahlte, fürsorgerische Arbeit
ohne Schutz und ohne Sicherung der Arbeitsbedingungen.
Meist sind es helferische Funktionen im Sinne von sozialen und
pflegerischen Dienstleistungen für Menschen, die sich nicht selbst helfen können. Ohne ehrenamtliche Arbeit würde das
System der sozialen Dienste zusammenbrechen. Damit blieben viele der Sorge und Hilfe bedürftigen Menschen unversorgt.
80% dieser Arbeiten werden von Frauen im Sozial- und
Gesundheitsbereich ausgeführt. Bewusst benutze ich den Begriff "Arbeit", weil es sich um gesellschaftlich notwendige, meist
unabdingbare Arbeit handelt, die, wie jede andere Arbeit, messbar, bezahlbar, abgrenzbar, teilbar und verteilbar ist. Der Begriff ehrenamtliche
Arbeit wurde und wird immer wieder in Frage gestellt, weil die Arbeit weder mit Amt noch mit Ehre verbunden ist.
Ein Topf ohne Henkel?
ExpertInnen weisen besorgt darauf hin, dass die in
Wohlfahrtsverbänden und anderen "klassischen Trägern" zusammengeschlossene Ehrenamtlichkeit
rückläufig ist. Neue, jüngere Mitglieder zu finden, sei kaum möglich. Zunehmende Individualisierung,
"Wertewandel" und der Zerfall sozialer Netze werden dafür verantwortlich gemacht.
Dabei ist das Ausmass der geleisteten ehrenamtlichen Arbeit durchaus nicht
gering. Nach einer neuen Studie sind rund 20 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ehrenamtlich tätig (Globus,
Nr.2/98).
Aufsehen erregte eine Studie, die einen europäischen Vergleich
über bürgerschaftliches Engagement zieht (Gaskin u.a. 1996). Sie zeigt, dass die BRD keinesfalls an der Spitze, sondern nur auf
dem drittletzten Rangplatz unter den zehn untersuchten Ländern liegt. Spitzenreiter sind die Niederlande, Schweden, Belgien und
Dänemark. Schweden und Dänemark sind Länder mit (noch) hohen sozialstaatlichen Standards. Hieraus wird deutlich, dass
bürgerschaftliches Engagement (sog. volunteering) durch den Rückzug des Sozialstaats nicht erleichtert wird, wie konservative
Politiker immer wieder behaupten.
Die "Eurovol-Studie" zeigt, dass in der BRD nur 18% der
BürgerInnen ehrenamtlich aktiv sind. Das ist deutlich weniger als der internationale Durchschnitt von 27%. Weitere 16% würden
ehrenamtlich tätig, wenn entsprechende Strukturen dies ermöglichten. Diese 16% zu motivieren und aktivieren ist das Ziel der
sozialpolitischen Diskussion. Viele Bürger (!), so wird immer wieder hervorgehoben, könnten mobilisiert werden, wenn es
gelänge, traditionelle Angebote und die sich neu entwickelnde Nachfrage zusammenzubringen. Es gälte also, den passenden Henkel
für den vorhandenen Topf zu finden.
Den will die Bundesregierung mit der Stiftung "Bürger
für Bürger" (!) gefunden haben. Sie wurde von der alten Bundesregierung eingerichtet und von der neuen übernommen.
Neue Freiwilligkeit oder neues Ehrenamt
Selbsthilfe, neues Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement,
volunteering, Gemeinsinn, Bürgerarbeit sind "soziale Erfindungen" der letzten Jahre. Sie erscheinen als soziale Innovation,
scheinbar befreit von Muff und Staub, die dem alten karitativen Ehrenamt, ausgeführt durch ehrenwerte Damen, anhaften.
Der Selbsthilfebereich wurde in der Alt-BRD zuerst als "neues
Ehrenamt" bezeichnet. Dort war er zu Beginn der 70er Jahre oft ein Stachel im Fleisch der etablierten Wohlfahrtsverbände und
Sozialsysteme. SelbsthelferInnen treffen sich v. a. um eigene Probleme aus eigener Kraft, bzw. gemeinsame Probleme und Notlagen mit
gemeinsamer Anstrengung in einer Gruppe von gleichberechtigten Mitgliedern zu lösen.
Unter bürgerschaftlichem Engagement wird das Engagement in
unterschiedlichen selbstorganisierten Initiativen im sozialen Bereich, aber auch im Bereich Umwelt, Internationalismus, Soziokultur u. a.
verstanden. Es ist ebenfalls keine neue Erscheinung. In Westdeutschland fand es seinen Höhepunkt Ende der 60er Jahre in der
Bürgerinitiativbewegung, die sich in kommunale, staatliche und kommerzielle Planungsprozesse einmischte. In der seit den 80er Jahren
virulenten Debatte um den Kommunitarismus spielt bürgerschaftliches Engagement ebenfalls eine wichtige Rolle.
Bürgerschaftliches Engagement ist ebenfalls situativ vieldeutig. Wir
kennen Bürgerinitiativen, zu denen sich Eltern zusammengeschlossen haben, um Kindertagesstätten zu gründen, die ihnen die
Kommune nicht zur Verfügung stellt. Solche Initiativen können über den Bereich der Selbsthilfe hinausgehen, indem sie die
Misere, die mit der bürgerlichen Familienideologie verbunden ist, und die mit dem Primat der Hausversorgung einhergeht, in Zweifel
ziehen und sozialstaatliche Forderungen an pädagogische Betreuung stellen.
Wir kennen auch Bürgerinitiativen gegen Autobahnen und
Schnellbahnen, durch deren Bau die natürliche Landschaft weiter zerstört würde. Wir kennen aber auch
Bürgerinitiativen, die Asylantenwohnungen und Behindertenheime in dem Stadtteil, in dem die dort Engagierten wohnen, verhindern
wollen, und die damit diskriminierend und ausgrenzend wirken.
Auch die Konzepte, die sich auf den "dritten Sektor" beziehen,
werden oft zum "neuen Ehrenamt" gerechnet. Der "dritte Sektor" ist zwischen Markt und Staat zu verorten. Er hat das
"stärkste Wachstum aller Sektoren in den vergangenen 20 Jahren" und soll all diejenigen auffangen, die im ersten und zweiten
Sektor nicht mehr gebraucht werden (Jeremy Rifkin, Anthony Giddens).
Zudem weckt er Hoffnungen, die Probleme von schwindender
Solidarität in der Gesellschaft zu bewältigen. Diese Kriterien gelten auch für das von Ulrich Beck entwickelte Konzept der
Bürgerarbeit. Hier wird der "Gemeinwohlunternehmer" als "visionärer Pragmatiker" oder
"charismatische Führerpersönlichkeit" fantasiert, der Menschen verführen kann, "Dinge zu tun, die sie sonst
vielleicht nicht in Erwägung gezogen hätten". Ein streng hierarchisches Modell, dessen Vorsitzender dem Sozialprofil des
"örtlichen Sokrates" entsprechen sollte.
Die neuen Konzeptemacher sind ebensowenig wie die alten an einer
Aufhebung der sozialen und geschlechterspezifischen Ungleichheit interessiert. Reden ist Silber - Helfen ist Gold, so eine Kampagne der
Bundesregierung Mitte der 80er Jahre. "Lust aufs Ehrenamt" soll 1999 mit einem Fotowettbewerb der Stiftung "Bürger
für Bürger" geweckt werden. "Freiwilligenagenturen" schießen in größeren und kleineren
Städten wie Pilze aus dem Boden.
Es geht darum, Kosten zu sparen, Wunden zu heilen, und nicht darum,
(gleichzeitig) die Missstände anzuprangern. In dem Maße wie die bezahlte Arbeit schrumpft, soll die unbezahlte Arbeit wieder
attraktiv gemacht werden. Diejenigen, die sie ausführen, sind immer auf die Alimentation durch ein anderes eigenes oder fremdes
Arbeitsverhältnis angewiesen, meist ist es das des (Ehe-)Manns.
Die Gefahr, dass "die neueste Art, die Frauen aus der sich
verschärfenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu verdrängen", in Zukunft nicht mehr heißt: "Frauen
zurück an den Herd!", sondern "Vorwärts in die Bürgerarbeit!" sieht auch Ulrich Beck, dennoch
plädiert er weiter für Bürgerarbeit als Ersatzarbeit zur Erwerbsarbeit.
Von der Freiwilligenarbeit zur Pflichtarbeit
Ausdrücklich wird in den vorgestellten Konzepten betont, dass die
Arbeit freiwillig sein soll und für niemanden eine Verpflichtung vorgesehen ist. Die "neuen Freiwilligen" haben offensichtlich
keine Sanktionen in Form von Leistungskürzungen zu erwarten, wenn sie nicht im Freiwilligensektor, Dritten Sektor oder in der
Bürgerarbeit arbeiten wollen.
So entgehen die Konzeptemacher dem Vorwurf, die Arbeitspflicht
einzuführen, auch wenn sie SozialhilfeempfängerInnen in Nicht-mehr-Erwerbslose verwandeln wollen, wie z. B. das Konzept
"Bürgerarbeit".
Andere Konzepte, wie das "Mehrschichtenmodell der Arbeit",
das für den Club of Rome entwickelt wurde, sprechen bereits offen über Arbeitspflicht. Sie ist für die sogenannte
"erste Schicht" vorgesehen. Die dort Arbeitenden leisten "produktive Tätigkeit" im Umfang von ca. 20
Wochenstunden und erhalten dafür einen Mindestlohn. Wer die Arbeit nicht annimmt, soll keine staatlichen Gelder erhalten. In der
"zweiten Schicht" hingegen kann bezahlte Arbeit für die Privatwirtschaft geleistet werden. Dort kann arbeiten, wer will (bzw.
wer den Zugang erhält) und solange er will. Die "dritte Schicht" umfasst Eigenarbeit und nicht bezahlte ehrenamtliche
"freiwillige Tätigkeiten".
Das Konzept ist nicht neu. Konzepte zur Pflichtarbeit wurden auch von den
"Dualwissenschaftlern" der 80er Jahre in die Diskussion gebracht. Sie forderten einen "Sozialdienst", zu dem alle
BürgerInnen des Landes "verpflichtet werden" sollten. Bereits damals wurden diejenigen, die dabei an faschistische
Institutionen wie den Reichsarbeitsdienst dachten, der Begriffsstutzigkeit bezichtigt.
SozialhilfeempfängerInnen werden schon heute immer häufiger
zur Aufnahme von Arbeit verpflichtet. Gemeinnützige zusätzliche Arbeit (GZA) soll die arm Gemachten zur Arbeit bringen. Wer
verweigert, hat zunächst erhebliche Kürzungen der eh schon knappen Sozialfhilfe zu erwarten; bei mehrfacher Ablehnung gibt es
dann gar nichts mehr. Die Verweigerungsquote ist offensichtlich gering.
Zwangsdienste sind für die Bundesrepublik jedoch nach Artikel 12
des Grundgesetzes verboten. Arbeitsdienste sollte es in einer demokratischen BRD nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geben. Die
Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten warum. Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Auch die unbezahlte Arbeit umverteilen
Heute erhofft sich die weitaus größte Zahl der
nichterwerbstätigen ehrenamtlichen ArbeiterInnen von der Aufnahme einer ehrenamtlichen sozialen Arbeit oder der Tätigkeit in
Selbsthilfegruppen und Initiativen die Erschließung neuer Handlungsfelder im Bereich der bezahlten Arbeit.
Sozialpolitische Lösungsmodelle, die wirklich aus der
"Krise" des Sozialstaats helfen sollen, müssen ehrenamtliche Arbeitsformen im Zusammenhang mit anderen bezahlten und
unbezahlten Arbeiten sehen. Es gälte vor allem, die Selbsthilfepotenziale der Ausgegrenzten und zu kurz Gekommenen zu stärken,
die soziale Ungleichheit anzuprangern und Handlungsstrategien für eine Gesellschaft von ebenbürtigen Individuen zu entwickeln.
Um dem Skandal der Ausgrenzung von 7 Millionen Menschen, die um
bezahlte Arbeit nachsuchen, aus ökonomischer Existenzsicherung und aus gesellschaftlicher Beteiligung entgegenzuwirken, wird es
unbedingt notwendig, dass (jetzt) bezahlt und jetzt unbezahlt geleistete sinnvolle Arbeit auf mehr Menschen und auf Menschen beiderlei
Geschlechts verteilt wird. Erst dann wird bürgerschaftliches Engagement möglich, das sich auf eigenständige Individuen
gründet, die auf Solidarität ausgerichtet sind und sich zusammenschließen, weil sie gemeinsam mehr und Besseres erreichen
können als allein.
Gisela Notz
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