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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 14.10.1999, Seite 8

Tschetschenien

Der endlose Krieg

Am 30.September sind russische Streitkräfte auf einem Grenzstreifen von 10 bis 15 km Breite in Tschetschenien eingefallen. Der Invasion gingen eine totale Blockade des Landes und ein intensiver Bombenteppich voraus, dem zahllose Zivilisten zum Opfer fielen; über 100.000 Menschen wurden gezwungen, in die Nachbarrepublik Inguschetien zu fliehen.
Die Machthaber in Moskau haben ihren Willen erklärt, ein für allemal mit den "Terroristen" aufzuräumen, die von der Bevölkerung Tschetscheniens nicht unterschieden werden. Die staatliche Kriegshetze wird von fast allen politischen Kräften aufgegriffen. Dieser neue Krieg setzt die Kriegshandlungen der russischen Armee in Daghestan Ende August fort.
In keinem ihrer Kriege hat die russische Zentralmacht die Rechte der ortsansässigen Bevölkerung respektiert. In den verschiedenen autonomen Republiken, die zur ehemaligen Sowjetunion gehörten, haben sich die Mitglieder der einstigen Nomenklatura zur Marktwirtschaft bekehrt; dabei haben sie versucht, soviel Autonomie von Moskau wie möglich zu gewinnen und die örtlichen Ressourcen zum eigenen Voreil auszubeuten: Fischfang und Kaviar, Industrieanlagen, das Erdöl im Kaspischen Meer. Dabei haben sie sich in Chefs von mafiosen Banden verwandelt.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerungen ist in großes Elend abgestürzt. Schon 1997 lag die Erwerbslosenrate in Daghestan offiziell bei 21%, in Inguschetien bei 52% (in der Russischen Föderation beträgt sie im Durchschnit 11,2%). Das monatliche Durchschnittseinkommen betrug in Daghestan 328 Rubel, in Inguschetien 280 Rubel, in der Russischen Föderation 922 Rubel. Man darf sich also nicht wundern, wenn radikale islamische Strömungen vor allem unter Jugendlichen Zulauf haben.
In Tschetschenien kam Anfang der 90er Jahre Dudajew an die Macht. Das war ein typischer Repräsentant des neuen, mafiosen Machtgefüges vor Ort. Seine Opposition gegen Moskau war an Kliqueninteressen gebunden und hatte wenig mit der Verteidigung der Rechte der Bevölkerung in Tschetschenien zu tun. Dudajew war in der Bevölkerung sehr unpopulär. Erst die russische Invasion im Dezember 1994 und ihre Auswirkungen haben aus ihm einen Nationalhelden gemacht.
Machtpoker
Im August 1996 wurde ein Friedensabkommen geschlossen, das aber nicht den Status Tschetscheniens, also die Frage seiner Unabhängigkeit regelte; diese wurde um fünf Jahre verschoben. Moskau hoffte mit ausreichendem wirtschaftlichen Druck die Rückkehr Tschetscheniens in die Russische Föderation durchzusetzen. Die Verfechter der Unabhängigkeit ihrerseits versuchten einen Zustand der De-facto-Unabhängigkeit zu schaffen.
Seit dem Krieg führen die siegreichen Kommandeure in Tschetschenien ihren Streit um die Macht mit Clankriegen aus. Die Stellung Präsident Maschadows ist von zahlreichen bewaffneten Banden heftig umstritten; sie arbeiten mit Erpressung, Entführung, Geiselnahme. Die Zivilbevölkerung - zu ihre gehören Tschetschenen, Russen, Juden, Griechen, Armenier -, die an diesen Auseinandersetzungen nicht teilnimmt, kann sehen, wie sie überlebt.
Moskaus Politik besteht einzig in brutaler Gewaltanwendung und folgt der reinsten "imperialen" Logik. Dabei ist sie unfähig, die Lage im Kaukasus auch nur halbwegs zu normalisieren, und weckt damit die unterschiedlichsten Appetite, auch außerhalb Russlands: Das Erdöl im Kaspischen Meer und seine Weiterleitung interessieren viele Machthaber, angefangen bei der Türkei.
Der kaukasische Sumpf ist zudem eine erstrangige Karte im innerrussischen politischen Machtspiel geworden. Am weitesten verbreitet ist die Meinung, dass die militärischen Operationen im Kaukasus ein Schachzug des Jelzin-Clans darstellt, um die Wahlen zur Duma im Dezember und die Präsidentschaftswahlen im Juni 2000 hinauszuzögern.
Auch die tödlichen Bombenexplosionen in Moskau und Wolgodnsk zwischen dem 9. und 15.September, die die Regierung islamischen Extremisten in die Schuhe schiebt, werden hartnäckig russischen Geheimdiensten und einer von diesen betriebenen Strategie der Spannung zugeschrieben. Es ist unmöglich, da durchzuschauen. Aber verschiedene Kräfte innerhalb und außerhalb Russlands sind am Werk, um die Lage im Kaukasus für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren oder zu beeinflussen.
Russland ist für Moskau zu groß geworden, das zeigt auch die Lage in Tatarstan, deren Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist: sie lehnt es ab, dass die Wehpflichtigen dem Einberufungsbefehl in den Kaukasus Folge leisten und will das kyrillische Alphabet abschaffen.
Imperiale Ohnmacht
Die Zentralmacht ruft auf zur Verteidigung der Unverletzlichkeit des russischen Territoriums. Die Opposition stimmt in diesen imperialen großrussischen Chor ein. So Juri Lujkow, Bürgermeister von Moskau und, zusammen mit Jewgeni Primakow, führender Vertreter des Wahlblocks "Vaterland", der seit 1993 "Personen mit kaukasischer Nationalität" verfolgt. So Gennadi Sjuganow, Vorsitzender der "Kommunistischen Partei der Russischen Föderation" (KPRF) (von September 1996 an haben führende Vertreter der KPRF die Ausweisung aller Tschetschenen aus Russland und die Konfiszierung ihrer Habe gefordert).
Die Medien stehen nicht dahinter zurück. Der Chefredakteur der Moskau News hat einen langen Artikel veröffentlicht, in dem er erklärte, die Tschetschenen seien ein Volk von Wilden, die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Im Fernsehen hat A.Newsorow die Bildung von Todesschwadronen im FSB (dem Nachfolger des KGB) gefordert. Die Tageszeitung Komersant hat die Großtaten des Direktors eine Erdölkombinats veröffentlicht, der nach der Entführung seines Bruders eigenhändig mehrere Dutzend "Banditen" umgebracht hat.
Die Bombenexplosionen in mehreren Städten haben in der Bevölkerung Zustimmung für eine solche Politik geschaffen - im ersten Tschetschenienkrieg war die Mehrheit der Bevölkerung noch gegen den Krieg. Vor diesem Hintergrund lassen sich Razzien gegen Tschetschenen in ganz Russland und auch die Militärintervention legitimieren.
Aber die Zentralmacht ist in der Krise und hat nicht die Mittel, ihre Politik auch durchzuführen. Die russische Armee ist heute noch weniger als gestern in der Lage, den Krieg zu gewinnen, aber sie kann bombardieren, massakrieren, plündern, vergewaltigen, zerstören. Die unbezahlten Offizieren handeln mit allem und jedem. Das Komitee der Soldatenmütter hat jüngst einen grauenerregenden Bericht über die gängigen Praktiken in der Armee veröffentlicht.
Die Flucht nach vorn der Zentralmacht, deren Zerfall und Ohnmacht nur vom Ausmaß ihrer Korruption aufgewogen wird, kann nur die schlimmsten Befürchtungen über die Zukunft der Russischen Föderation nähren.
Denis Paillard
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