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Bekanntlich waren Gewerkschaften in Deutschland immer politisch. Die ersten Dachorganisationen entstanden
in Verbindung mit politischen Parteien, vor allem mit der Sozialdemokratie, aber auch mit dem Zentrum und den Liberalen. Als politische
Kräfte wollten die deutschen Gewerkschaften immer mehr als nur ihre aktuellen Mitglieder vertreten. Im Prinzip verstanden sie sich als
Organisation der gesamten Arbeiterklasse, also aller auf abhängige Arbeit angewiesenen Personen. Aber dabei gab es stets eine
Arbeitsteilung sowohl in der sozialdemokratischen als auch in der christlichen Arbeiterbewegung, und auch in der kommunistischen, und die
lautete vereinfacht: Gewerkschaften sind für das ökonomische Alltagsgeschäft zuständig, Parteien aber für die
großen Fragen der Politik, vor allem der Staatspolitik.
Bis 1933 haben die sozialdemokratischen Gewerkschaften diese
Arbeitsteilung zwar akzeptiert, aber sich niemals, wie etwa die kommunistische RGO [Revolutionäre Gewerkschaftsopposition],
bedingungslos einer führenden politischen Rolle der Partei unterworfen. Das war oft richtig, aber nicht immer - z.B. 1933 nicht, als der
ADGB sich, anders als die SPD, bei Hitler anzubiedern versuchte.
Auch nach 1945, in der formal überparteilichen Einheitsgewerkschaft
DGB, blieb faktisch die Arbeitsteilung mit der SPD zunächst erhalten, allerdings wuchs die Bündnisfähigkeit auch
gegenüber der CDU: Man denke etwa an den Pakt von Böckler und Adenauer, mit dem 1951 die Montanmitbestimmung gesetzlich
gesichert wurde.
Von Godesberg…
Brüchig wurde das arbeitsteilige System Ende der 50er Jahre mit
dem Godesberger Programm der SPD. Der DGB vollzog zwar das Bekenntnis zur Marktwirtschaft in seinem Grundsatzprogramm zwei Jahre
später nach - aber einen Schritt der SPD konnte er kaum mitgehen: die SPD wollte nicht mehr Partei der Arbeiterklasse, sondern
Volkspartei sein, d.h. alle gesellschaftlichen Interessen, auch die der Arbeitgeber, vertreten oder doch berücksichtigen und miteinander in
Einklang bringen. Die Gewerkschaften konnten aber nun nicht auch noch gleich "Volksgewerkschaft" werden, etwa so, dass sie
nunmehr die Interessen der Arbeitgeber gleichwertig mit denen der Arbeitnehmer mitzuvertreten hätten.
Bei aller Sozialpartnerschaft und bei aller aktiven und überzeugten
Mitwirkung als intermediäre Organisation am Interessenausgleich zwischen Lohnarbeit und Kapital - Interessenvertretung der
Arbeitnehmer, also durchaus einseitige Sozialpartei, mussten die Gewerkschaften schon bleiben, wenn sie ihren Existenzgrund nicht verlieren
und von ihrem Sozialpartner und der Regierung überhaupt noch ernstgenommen werden wollten.
Es ist kein Zufall, dass unmittelbar nach dem Godesberger Programm im
gewerkschaftlichen Umfeld erstmals eigenständige allgemeinpolitische Impulse und Inititativen entstanden, die sich dem Kurs der SPD
widersetzten oder mindestens andere Akzente setzten als die SPD-Führung. Otto Brenners IG Metall, vor allem im Umfeld der
Frankfurter Zentrale, war dabei besonders wichtig.
Während Herbert Wehners SPD ihren Bannstrahl gegen den
Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) schleuderte, formierte sich mit Unterstützung Brenners ein linksgewerkschaftlicher
Flügel im SDS, woraus eine Keimzelle der 68er-Bewegung wurde.
In der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze standen IG Metall und
IG Druck und Papier einerseits und die SPD-Führung andererseits auf verschiedenen Seiten der politischen Frontlinie. Die DGB-
Gewerkschaften, jedenfalls ein Teil von ihnen, hatten begonnen, eigenständig, jenseits der traditionellen Arbeitsteilung mit der
Sozialdemokratischen Partei, politische Positionen zu beziehen und Aktivitäten zu organisieren.
…zu Blair
In diesem Jahr 1999 hat, ähnlich wie 1959, ein neuer
Qualitätssprung der SPD stattgefunden, der die Gewerkschaften wiederum vor Probleme einer Neudefinition ihrer politischen Rolle
stellt.
Der Unterschied zum Qualitätssprung vor 40 Jahren liegt darin, dass
damals die SPD eine linke Volkspartei in der reformistischen Tradition der Arbeiterbewegung werden wollte. Heute dagegen möchte
jedenfalls derjenige Flügel, der sich im innersozialdemokratischen Machtkampf gegen Lafontaine durchgesetzt hat, die SPD zu einer
modernen Wirtschaftspartei machen, bei den Wählern um eine sozialstrukturell ganz ungenau definierte Mitte werben und sich explizit
und demonstrativ aus der lästig gewordenen politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschieden. Tony Blair hat es vorgemacht,
dass sich damit Wahlen gewinnen lassen; bei ihm ist die Distanz zu den Gewerkschaften ein besonders stolz und deutlich vorgezeigtes
politisches Markenzeichen.
1959 bedeutete programmatisch die Abkehr vom Klassenkampf, von der
marxistischen Tradition, von der Erwartung eines Zusammenbruchs des Kapitalismus und von der Option für möglichst viel
Gemeineigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutete eine Hinwendung zu keynesianischer Globalsteuerung, zu einem starken
Interventionsstaat, der für soziale Verteilungsgerechtigkeit sorgen will und versucht, die Mechanismen von Markt, Kapital, Profit und
Akkumulation nutzbar zu machen, zu zivilisieren und gemeinwohlorientiert zu regulieren.
Im Übrigen entsprach der programmatischen Theorie auch die
spätere Regierungspraxis: Karl Schiller gehörte zu den Konzeptoren des Godesberger Programms und setzte dieses Programm ab
1966 als Wirtschaftsminister um. Es war ein dezidiert sozialdemokratisches wirtschaftspolitisches Konzept, das als modern und gestalterisch
empfunden wurde und sich deutlich von dem altbackenen Wirtschaftsliberalismus der Erhard-CDU und der FDP absetzte. Es enthielt die
Konzertierte Aktion als Institution der Einbindung der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Bundesbank in die Wirtschaftssteuerung.
1999 hat der 1959 siegreiche keynesianische Flügel der SPD,
vertreten durch den Parteivorsitzenden und Finanzminister Lafontaine, den Kampf um Programmatik und Politik verloren, und dies gerade
infolge einer erneuten Regierungsübernahme der SPD. Parteivorsitzender wurde ein Bundeskanzler, der zwar oft betont, die SPD sei eine
Programmpartei, von dem aber wenig Programmatisches zu ökonomischen und sozialen Fragen bekannt ist.
Überliefert sind Sprüche wie die, es gebe keine spezifisch
sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, er sei der Kanzler aller deutschen Autos und ohne die Zustimmung der Wirtschaft laufe mit ihm gar
nichts. Zwar wurde angesichts der Massenarbeitslosigkeit von den Wählern der SPD die höhere Kompetenz zur Bewältigung
dieses Problems zugetraut als der CDU/FDP - aber dies nicht auf der Basis eines klar vertretenen Konzepts, jedenfalls nicht beim
Schröder-Flügel.
Gewiss scheint nur zu sein, dass man von Keynes, Schiller und Lafontaine
Abschied nehmen und sich den weltweit ideologisch und materiell herrschenden neoliberalen und monetaristischen Ideen der Deregulierung
und des minimal state zuwenden möchte. Dabei wird der Staat als nationaler Wettbewerbsstaat, der wie ein Privatunternehmen um die
Gunst der großen Kapitale zu werben und zu konkurrieren hat, gedacht. Als Erklärung für Arbeitslosigkeit wird weitgehend
die neoklassische Theorie, nach der der Preis der Arbeit eben zu hoch sei, übernommen.
Wo dabei die Grenze ist, die noch das spezifisch Sozialdemokratische
dieser Politik markieren könnte, ist im Augenblick schwer auszumachen. Klar scheint jedenfalls, dass eine Politik, die sich auf eine
"neue Mitte" richtet, mit den Benachteiligten und den Verlierern von ökonomischen Umwälzungsprozessen wenig zu tun
haben will.
Kurzum: der Qualitätssprung von 1959 bedeutete die Abwendung der
SPD von der Tradition des Marxismus. Der Qualitätssprung von 1999 besteht, wenn mich nicht alles täuscht, in der Abwendung
der SPD von der Tradition der Arbeiterbewegung überhaupt. […]
Neue Mitte
In ihrem Misstrauen gegenüber dem Staat sind Blair und
Schröder bemüht, hinter ihren Vorgängern Thatcher und Kohl/Rexrodt keineswegs zurückzubleiben. Zwar wird
zuweilen vom "aktiven" Staat, der "steuern" soll, gesprochen, aber bei näherem Hinsehen heißt das nur
Abbau eines gemeinwohlorientierten Interventionsstaats: Nicht nur die "Steuerbelastung von harter [sic!] Arbeit und
Unternehmertum" wird als zu hoch definiert, es wird auch eine ebenfalls zu reduzierende "Regulierungslast" entdeckt.
Und beim Thema öffentlicher Dienst verfallen die "modernen
Sozialdemokraten" sogar in das Vokabular des Unmenschen: Es geht ihnen darum, "die Qualität öffentlicher Dienste
rigoros zu überwachen und schlechte Leistungen auszumerzen". Befehlston auch, wenn es um die Arbeitsbeziehungen geht: Blair
und Schröder sind sicher, "dass die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz überwunden werden müssen".
Gesellschaftlich wird mehr Ungleichheit nicht nur in Kauf genommen,
sondern angestrebt: "Soziale Gerechtigkeit" sei etwas anderes als "Gleichheit", "Diversität und
herausragender Leistung" gebühre mehr Belohnung, den Verlierern des Modernisierungsprozesses wird dagegen angeboten,
genauer: angedroht, dass "moderne Sozialdemokraten ... das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die
Eigenverantwortung umwandeln" wollen. Ein Niedriglohnssektor gilt als erwünscht, um Arbeitslosigkeit zu mindern.
Zusammengefasst: "Moderne Sozialdemokraten" fordern und
fördern eine Gesellschaft, in der alle Menschen als "Kapital"-Besitzer zueinander in Konkurrenz gesetzt werden und die
Verlierer noch mehr verlieren und die Gewinner noch mehr gewinnen. Die schon eingetretene und sich weiter verschärfende
Gesellschaftsspaltung ist für sie kein Problem. Sie zielen auf eine "neue Mitte" und meinen damit dasselbe, was einst ein
FDP-Generalsekretär meinte, als er seine Partei als "Partei der Besserverdienenden" anzupreisen versuchte. Es ist deshalb
ideologisch konsequent, wenn die FDP-Fraktion des Bundestags das Blair-Schröder-Papier als ihren Entschließungsantrag in den
Bundestag einbringt.
Gewerkschaften ohne politischen Arm
Wenn die Diagnose, dass die SPD sich unter Schröder definitiv aus
der politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschiedet hat, zutrifft, dann hat die traditionelle Arbeitsteilung zwischen SPD und
Gewerkschaften endgültig ihre Grundlage verloren, weil die SPD nicht mehr als der politische Arm einer Bewegung betrachtet werden
kann und will, deren ökonomischer Arm die Gewerkschaften sind.
Für die Gewerkschaften und ihre politische Selbstverortung stellt
sich eine völlig neue Frage - nämlich die, ob sie ohne eine bestimmte Partei, gewissermaßen auf sich gestellt und im
Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und mit einer etwa gleichen Distanz zu allen Parteien, die politische Tradition der
Arbeiterbewegung fortführen wollen.
Die Alternative wäre auch denkbar. Man könnte sie
Angloamerikanisierung nennen: Wie in den USA seit eh und je und zunehmend in England, gäbe es auch in Deutschland keine
sozialdemokratische Partei mehr, und die Gewerkschaften würden sich zu rein partikularen und gegeneinander konkurrierenden
Interessenvertretungen ihrer jeweiligen Mitgliedergruppen ohne jede politisch motivierte übergreifende Solidarität der Klasse
entwickeln.
In diesem Fall würden die Gewerkschaften die These akzeptieren,
dass sich die Tradition der einst sozialistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung politisch erschöpft hat, dass das, wie die
Wahlforscher es nennen, traditionelle Links-Rechts-Gefälle als sozioökonomisch fundierte politische Konfliktlinie nichts mehr
hergibt.
Die deutschen Gewerkschaften müssen die Diskussion führen,
ob sie diese These vom Ende der Arbeiterbewegung übernehmen wollen oder nicht. Diese Diskussion ist durch die Formelkompromisse
des Dresdner DGB-Grundsatzprogramms keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil denke ich, dass ein politisches
Programm, das wirklich handlungsanleitend ist und nicht gleich wieder in der Schublade verschwindet, dringender gebraucht wird denn je -
sonst droht den Gewerkschaften im Wirbel von verschärfter globaler Konkurrenz der Nationalstaaten und ihrer Einbindung in
Bündnis genannte Erpressungsverhältnisse rasch der Absturz in die politische Bedeutungslosigkeit. [...]
Nachdem sich im Jahre 1999 die SPD, mit der die Gewerkschaften bisher im Sinne einer arbeitsteiligen Tradition verbunden waren, aus
der politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschiedet hat, stehen die Gewerkschaften vor der Frage, ob sie als alleiniger Nachfolger
dieser Tradition willens sind und sich stark genug fühlen, diese Tradition ohne die Verbindung mit einer bestimmten Partei politisch zu
vertreten. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass die Gewerkschaften diesen Weg einer eigenständigen Politisierung und nicht
den Weg einer Reduktion ihres Anspruchs auf einen Interessenpartikularismus nach amerikanischem Muster beschreiten.
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