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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 14.10.1999, Seite 9

Nach 130 Jahren

Bricht die SPD mit der Arbeiterbewegung?

Der erdrutschartige Einbruch der SPD bei den vergangenen Landtagswahlen in Ostdeutschland und im Saarland sowie bei den Kommunalwahlen in NRW, bei denen die SPD ihren historischen Tiefstand erreicht hat, haben die Debatte um den Charakter dieser Partei und ihrer Beziehungen zur Arbeiterklasse neu aufgeworfen. In der SoZ brachten wir zu dem Thema einen Beitrag von Heiner Halberstadt, der eine Regression zu einem Zwei-Parteien-System nach US-amerikanischem Vorbild und der SPD zu einer bürgerlichen Partei vom Typ der Demokratischen Partei der USA befürchtet. Im folgenden Beitrag - eine Rede vor dem Politischen Forum der IG Metall in Bad Orb am 4.Juni 1999 - entwickelt der Berliner Politikwissenschaftler BODO ZEUNER eine Alternative dazu.

Bekanntlich waren Gewerkschaften in Deutschland immer politisch. Die ersten Dachorganisationen entstanden in Verbindung mit politischen Parteien, vor allem mit der Sozialdemokratie, aber auch mit dem Zentrum und den Liberalen. Als politische Kräfte wollten die deutschen Gewerkschaften immer mehr als nur ihre aktuellen Mitglieder vertreten. Im Prinzip verstanden sie sich als Organisation der gesamten Arbeiterklasse, also aller auf abhängige Arbeit angewiesenen Personen. Aber dabei gab es stets eine Arbeitsteilung sowohl in der sozialdemokratischen als auch in der christlichen Arbeiterbewegung, und auch in der kommunistischen, und die lautete vereinfacht: Gewerkschaften sind für das ökonomische Alltagsgeschäft zuständig, Parteien aber für die großen Fragen der Politik, vor allem der Staatspolitik.
Bis 1933 haben die sozialdemokratischen Gewerkschaften diese Arbeitsteilung zwar akzeptiert, aber sich niemals, wie etwa die kommunistische RGO [Revolutionäre Gewerkschaftsopposition], bedingungslos einer führenden politischen Rolle der Partei unterworfen. Das war oft richtig, aber nicht immer - z.B. 1933 nicht, als der ADGB sich, anders als die SPD, bei Hitler anzubiedern versuchte.
Auch nach 1945, in der formal überparteilichen Einheitsgewerkschaft DGB, blieb faktisch die Arbeitsteilung mit der SPD zunächst erhalten, allerdings wuchs die Bündnisfähigkeit auch gegenüber der CDU: Man denke etwa an den Pakt von Böckler und Adenauer, mit dem 1951 die Montanmitbestimmung gesetzlich gesichert wurde.
Von Godesberg…
Brüchig wurde das arbeitsteilige System Ende der 50er Jahre mit dem Godesberger Programm der SPD. Der DGB vollzog zwar das Bekenntnis zur Marktwirtschaft in seinem Grundsatzprogramm zwei Jahre später nach - aber einen Schritt der SPD konnte er kaum mitgehen: die SPD wollte nicht mehr Partei der Arbeiterklasse, sondern Volkspartei sein, d.h. alle gesellschaftlichen Interessen, auch die der Arbeitgeber, vertreten oder doch berücksichtigen und miteinander in Einklang bringen. Die Gewerkschaften konnten aber nun nicht auch noch gleich "Volksgewerkschaft" werden, etwa so, dass sie nunmehr die Interessen der Arbeitgeber gleichwertig mit denen der Arbeitnehmer mitzuvertreten hätten.
Bei aller Sozialpartnerschaft und bei aller aktiven und überzeugten Mitwirkung als intermediäre Organisation am Interessenausgleich zwischen Lohnarbeit und Kapital - Interessenvertretung der Arbeitnehmer, also durchaus einseitige Sozialpartei, mussten die Gewerkschaften schon bleiben, wenn sie ihren Existenzgrund nicht verlieren und von ihrem Sozialpartner und der Regierung überhaupt noch ernstgenommen werden wollten.
Es ist kein Zufall, dass unmittelbar nach dem Godesberger Programm im gewerkschaftlichen Umfeld erstmals eigenständige allgemeinpolitische Impulse und Inititativen entstanden, die sich dem Kurs der SPD widersetzten oder mindestens andere Akzente setzten als die SPD-Führung. Otto Brenners IG Metall, vor allem im Umfeld der Frankfurter Zentrale, war dabei besonders wichtig.
Während Herbert Wehners SPD ihren Bannstrahl gegen den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) schleuderte, formierte sich mit Unterstützung Brenners ein linksgewerkschaftlicher Flügel im SDS, woraus eine Keimzelle der 68er-Bewegung wurde.
In der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze standen IG Metall und IG Druck und Papier einerseits und die SPD-Führung andererseits auf verschiedenen Seiten der politischen Frontlinie. Die DGB- Gewerkschaften, jedenfalls ein Teil von ihnen, hatten begonnen, eigenständig, jenseits der traditionellen Arbeitsteilung mit der Sozialdemokratischen Partei, politische Positionen zu beziehen und Aktivitäten zu organisieren.
…zu Blair
In diesem Jahr 1999 hat, ähnlich wie 1959, ein neuer Qualitätssprung der SPD stattgefunden, der die Gewerkschaften wiederum vor Probleme einer Neudefinition ihrer politischen Rolle stellt.
Der Unterschied zum Qualitätssprung vor 40 Jahren liegt darin, dass damals die SPD eine linke Volkspartei in der reformistischen Tradition der Arbeiterbewegung werden wollte. Heute dagegen möchte jedenfalls derjenige Flügel, der sich im innersozialdemokratischen Machtkampf gegen Lafontaine durchgesetzt hat, die SPD zu einer modernen Wirtschaftspartei machen, bei den Wählern um eine sozialstrukturell ganz ungenau definierte Mitte werben und sich explizit und demonstrativ aus der lästig gewordenen politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschieden. Tony Blair hat es vorgemacht, dass sich damit Wahlen gewinnen lassen; bei ihm ist die Distanz zu den Gewerkschaften ein besonders stolz und deutlich vorgezeigtes politisches Markenzeichen.
1959 bedeutete programmatisch die Abkehr vom Klassenkampf, von der marxistischen Tradition, von der Erwartung eines Zusammenbruchs des Kapitalismus und von der Option für möglichst viel Gemeineigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutete eine Hinwendung zu keynesianischer Globalsteuerung, zu einem starken Interventionsstaat, der für soziale Verteilungsgerechtigkeit sorgen will und versucht, die Mechanismen von Markt, Kapital, Profit und Akkumulation nutzbar zu machen, zu zivilisieren und gemeinwohlorientiert zu regulieren.
Im Übrigen entsprach der programmatischen Theorie auch die spätere Regierungspraxis: Karl Schiller gehörte zu den Konzeptoren des Godesberger Programms und setzte dieses Programm ab 1966 als Wirtschaftsminister um. Es war ein dezidiert sozialdemokratisches wirtschaftspolitisches Konzept, das als modern und gestalterisch empfunden wurde und sich deutlich von dem altbackenen Wirtschaftsliberalismus der Erhard-CDU und der FDP absetzte. Es enthielt die Konzertierte Aktion als Institution der Einbindung der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Bundesbank in die Wirtschaftssteuerung.
1999 hat der 1959 siegreiche keynesianische Flügel der SPD, vertreten durch den Parteivorsitzenden und Finanzminister Lafontaine, den Kampf um Programmatik und Politik verloren, und dies gerade infolge einer erneuten Regierungsübernahme der SPD. Parteivorsitzender wurde ein Bundeskanzler, der zwar oft betont, die SPD sei eine Programmpartei, von dem aber wenig Programmatisches zu ökonomischen und sozialen Fragen bekannt ist.
Überliefert sind Sprüche wie die, es gebe keine spezifisch sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, er sei der Kanzler aller deutschen Autos und ohne die Zustimmung der Wirtschaft laufe mit ihm gar nichts. Zwar wurde angesichts der Massenarbeitslosigkeit von den Wählern der SPD die höhere Kompetenz zur Bewältigung dieses Problems zugetraut als der CDU/FDP - aber dies nicht auf der Basis eines klar vertretenen Konzepts, jedenfalls nicht beim Schröder-Flügel.
Gewiss scheint nur zu sein, dass man von Keynes, Schiller und Lafontaine Abschied nehmen und sich den weltweit ideologisch und materiell herrschenden neoliberalen und monetaristischen Ideen der Deregulierung und des minimal state zuwenden möchte. Dabei wird der Staat als nationaler Wettbewerbsstaat, der wie ein Privatunternehmen um die Gunst der großen Kapitale zu werben und zu konkurrieren hat, gedacht. Als Erklärung für Arbeitslosigkeit wird weitgehend die neoklassische Theorie, nach der der Preis der Arbeit eben zu hoch sei, übernommen.
Wo dabei die Grenze ist, die noch das spezifisch Sozialdemokratische dieser Politik markieren könnte, ist im Augenblick schwer auszumachen. Klar scheint jedenfalls, dass eine Politik, die sich auf eine "neue Mitte" richtet, mit den Benachteiligten und den Verlierern von ökonomischen Umwälzungsprozessen wenig zu tun haben will.
Kurzum: der Qualitätssprung von 1959 bedeutete die Abwendung der SPD von der Tradition des Marxismus. Der Qualitätssprung von 1999 besteht, wenn mich nicht alles täuscht, in der Abwendung der SPD von der Tradition der Arbeiterbewegung überhaupt. […]
Neue Mitte
In ihrem Misstrauen gegenüber dem Staat sind Blair und Schröder bemüht, hinter ihren Vorgängern Thatcher und Kohl/Rexrodt keineswegs zurückzubleiben. Zwar wird zuweilen vom "aktiven" Staat, der "steuern" soll, gesprochen, aber bei näherem Hinsehen heißt das nur Abbau eines gemeinwohlorientierten Interventionsstaats: Nicht nur die "Steuerbelastung von harter [sic!] Arbeit und Unternehmertum" wird als zu hoch definiert, es wird auch eine ebenfalls zu reduzierende "Regulierungslast" entdeckt.
Und beim Thema öffentlicher Dienst verfallen die "modernen Sozialdemokraten" sogar in das Vokabular des Unmenschen: Es geht ihnen darum, "die Qualität öffentlicher Dienste rigoros zu überwachen und schlechte Leistungen auszumerzen". Befehlston auch, wenn es um die Arbeitsbeziehungen geht: Blair und Schröder sind sicher, "dass die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz überwunden werden müssen".
Gesellschaftlich wird mehr Ungleichheit nicht nur in Kauf genommen, sondern angestrebt: "Soziale Gerechtigkeit" sei etwas anderes als "Gleichheit", "Diversität und herausragender Leistung" gebühre mehr Belohnung, den Verlierern des Modernisierungsprozesses wird dagegen angeboten, genauer: angedroht, dass "moderne Sozialdemokraten ... das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln" wollen. Ein Niedriglohnssektor gilt als erwünscht, um Arbeitslosigkeit zu mindern.
Zusammengefasst: "Moderne Sozialdemokraten" fordern und fördern eine Gesellschaft, in der alle Menschen als "Kapital"-Besitzer zueinander in Konkurrenz gesetzt werden und die Verlierer noch mehr verlieren und die Gewinner noch mehr gewinnen. Die schon eingetretene und sich weiter verschärfende Gesellschaftsspaltung ist für sie kein Problem. Sie zielen auf eine "neue Mitte" und meinen damit dasselbe, was einst ein FDP-Generalsekretär meinte, als er seine Partei als "Partei der Besserverdienenden" anzupreisen versuchte. Es ist deshalb ideologisch konsequent, wenn die FDP-Fraktion des Bundestags das Blair-Schröder-Papier als ihren Entschließungsantrag in den Bundestag einbringt.
Gewerkschaften ohne politischen Arm
Wenn die Diagnose, dass die SPD sich unter Schröder definitiv aus der politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschiedet hat, zutrifft, dann hat die traditionelle Arbeitsteilung zwischen SPD und Gewerkschaften endgültig ihre Grundlage verloren, weil die SPD nicht mehr als der politische Arm einer Bewegung betrachtet werden kann und will, deren ökonomischer Arm die Gewerkschaften sind.
Für die Gewerkschaften und ihre politische Selbstverortung stellt sich eine völlig neue Frage - nämlich die, ob sie ohne eine bestimmte Partei, gewissermaßen auf sich gestellt und im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und mit einer etwa gleichen Distanz zu allen Parteien, die politische Tradition der Arbeiterbewegung fortführen wollen.
Die Alternative wäre auch denkbar. Man könnte sie Angloamerikanisierung nennen: Wie in den USA seit eh und je und zunehmend in England, gäbe es auch in Deutschland keine sozialdemokratische Partei mehr, und die Gewerkschaften würden sich zu rein partikularen und gegeneinander konkurrierenden Interessenvertretungen ihrer jeweiligen Mitgliedergruppen ohne jede politisch motivierte übergreifende Solidarität der Klasse entwickeln.
In diesem Fall würden die Gewerkschaften die These akzeptieren, dass sich die Tradition der einst sozialistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung politisch erschöpft hat, dass das, wie die Wahlforscher es nennen, traditionelle Links-Rechts-Gefälle als sozioökonomisch fundierte politische Konfliktlinie nichts mehr hergibt.
Die deutschen Gewerkschaften müssen die Diskussion führen, ob sie diese These vom Ende der Arbeiterbewegung übernehmen wollen oder nicht. Diese Diskussion ist durch die Formelkompromisse des Dresdner DGB-Grundsatzprogramms keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil denke ich, dass ein politisches Programm, das wirklich handlungsanleitend ist und nicht gleich wieder in der Schublade verschwindet, dringender gebraucht wird denn je - sonst droht den Gewerkschaften im Wirbel von verschärfter globaler Konkurrenz der Nationalstaaten und ihrer Einbindung in Bündnis genannte Erpressungsverhältnisse rasch der Absturz in die politische Bedeutungslosigkeit. [...]
Nachdem sich im Jahre 1999 die SPD, mit der die Gewerkschaften bisher im Sinne einer arbeitsteiligen Tradition verbunden waren, aus der politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschiedet hat, stehen die Gewerkschaften vor der Frage, ob sie als alleiniger Nachfolger dieser Tradition willens sind und sich stark genug fühlen, diese Tradition ohne die Verbindung mit einer bestimmten Partei politisch zu vertreten. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass die Gewerkschaften diesen Weg einer eigenständigen Politisierung und nicht den Weg einer Reduktion ihres Anspruchs auf einen Interessenpartikularismus nach amerikanischem Muster beschreiten.
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