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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 28.10.1999, Seite 4

Tampere-Gipfel

Widerstand gegen Integrationsprojekt

Zum Abschluss ihres Sondergipfels im finnischen Tampere haben sich die EU-Regierungschefs auf einen gemeinsamen Rechtsraum geeinigt, in dem die Verbrechensbekämpfung intensiviert und Flüchtlingsbewegungen gesteuert werden sollen. Nach dem Binnenmarkt und der Einheitswährung gilt dieses Vorhaben als größtes europäisches Integrationsprojekt.
Die Verwirklichung wird jedoch längere Zeit dauern", so der deutsche Aussenminister Josef Fischer. Zunächst soll eine Liste mit gemeinsamen Gesetzesvorhaben im Innen- und Justizbereich mit konkreten Terminen vorgelegt werden. Neben einer Kompetenzerweiterung für die europäische Polizeibehörde Europol, der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsurteilen, einer Vernetzung der europäischen Staatsanwaltschaften und dem Fahrplan zur Erarbeitung einer europäischen Grundrechtecharta stand die Angleichung des Asylrechts in Tampere auf der Tagesordnung. Als Zieldatum für die Umsetzung haben die Regierungschefs das Jahr 2004 genannt.
Der Flüchtlingspolitik messen die Teilnehmer des Gipfels auch im Hinblick des nun von sechs auf zwölf Beitrittskandidaten erweiterten Kreises große Bedeutung bei. Für die Anwärter - neben Ungarn, Polen, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern nun auch Bulgarien, Rumänien, Lettland, Litauen, die Slowakei und Malta - ist Bedingung, die europäischen Standards der restriktiven Visa-Politik sowie der Aufrüstung und Kontrolle der Außengrenzen zu übernehmen. Schon heute gelten sie als sichere Drittstaaten, die zur Rückübernahme von Flüchtlingen verpflichtet sind, wenn diese über ihr Land in die EU eingereist sind.
Gegenüber einem Vorschlag der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR, auch nichtstaatliche Verfolgung zusätzlich als Asylgrund anzuerkennen, zeigten sich die Teilnehmer des Gipfels in Tampere reserviert. Es sei zu schwer, Grenzen zu ziehen und die Gründe für das Asylbegehren nachzuprüfen, so die Regierungschefs. Auch ein ursprünglich geplanter Hilfsfonds für Bürgerkriegsländer, die wie im Falle Bosniens oder dem Kosovo mit einer starken Fluchtbewegung einhergehen, ist an der ablehnenden Haltung der deutschen Bundesregierung zunächst gescheitert.
Unterdessen protestierten in mehreren Teilen Europas Flüchtlinge, Migranten und antirassistische Gruppen gegen die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik. Unter dem offiziellen EU-Motto, einen Raum "der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu schaffen, werde "in Wahrheit Ausgrenzung, Rassismus, Kontrolle und Abschottung vorangetrieben", so die bundesweite Kampagne "Kein Mensch ist illegal".
Unter dem Motto "Menschenjäger - Schreibtischtäter" protestierten am vergangenen Freitag mehr als 200 Menschen gegen die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik in Koblenz. Die bundesweite Demonstration startete auf dem Platz vor der Direktion des Bundesgrenzschutzes. Dem unscheinbaren Gebäude in der Stadt am Rhein sieht man nicht an, dass dort täglich tiefgreifende Entscheidungen über das Schicksal von Menschen getroffen werden. Nur ein paar unauffällig installierte Infrarotkameras deuten an, dass in dem Haus die zentrale Abschiebebehörde der BRD untergebracht ist.
Deutschland ist einer der Vorreiter der europäischen Abschottungspolitik. Seine Grenzen zu Polen und Tschechien gelten inzwischen als die bestbewachten Grenzen Europas. Der Bundesgrenzschutz als ausführende Behörde ist zu diesem Zweck personell und technisch hochgerüstet worden. Allein im vergangenen Jahr standen ihm 2,4 Milliarden Mark zur Verfügung. Das Geld verwendet der BGS für seine Einheiten, die an Flughäfen, Bahnhöfen und in mobilen Kommandos eingesetzt werden. Hinzu kommen 6200 Beamten an den Ostgrenzen und deren Ausrüstung, z.B. hochempfindliche Wärmebildgeräte und Kohlendioxiddetektoren, mit denen etwa unter Lkw-Planen ausgestoßene Atemluft angezeigt werden kann.
Besonders zimperlich gehen die Beamten bei ihrer Fahndung nicht vor. Im Juli 1998 mussten sieben Flüchtlinge sterben, als bei der Verfolgungsjagd des BGS der Bus der Fluchthelfer verunglückte. Seit 1989 haben mindestens 70 Menschen ihr Leben bei dem Versuch gelassen, über die Ostgrenze nach Deutschland zu fliehen.
Doch die Demonstranten kritisieren nicht nur die Umsetzung formaler gesetzlicher Aufgaben. Der BGS habe sich in den letzten Jahren vielmehr zu einem "organisatorisch und logistisch hocheffizienten Repressionsapparat" entwickelt. Die Grenzschutzbehörde analysiere internationale Fluchtrouten und sei dafür verantwortlich, sie zu blockieren.
Zu den weiteren Aufgabenbereichen gehören Zwangsvorführungen in Botschaften zur "Herkunftsfeststellung" und die Organisation von Charterflügen für Massenabschiebungen. Für die Veranstalter der Demonstration tragen die "SchreibtischtäterInnen" der Grenzschutzdirektion besondere Verantwortung für die "Toten an der Grenze, in der Abschiebehaft, während der Durchführung von Abschiebungen und nach erfolgter Abschiebung in den Herkunftsländern".
Ein afrikanischer Flüchtling der Selbsthilfeorganisation "The Voice" stellte in einem Redebeitrag heraus, dass die Wirtschaftspolitik der "westlichen Welt maßgeblich für die weltweiten Flüchtlingsbewegungen" verantwortlich sei. Solange diese "Politik der Ausbeutung" fortgesetzt werde, müsse jeder Flüchtling das Recht erhalten, sich "den Platz auszusuchen, wo er leben möchte".
In Paris und in anderen französischen Städten demonstrierte das Flüchtlingsnetzwerk der "Sans Papier", ebenso gingen mehrere hundert Menschen in Wien, Polen, Tampere, Berlin und den Niederlanden auf die Straße. In Frankfurt am Main blockierten Aktivisten mit Luftballons, die 150 Meter über der Erde schwebten, die Flugbahnen des größten Flughafens in Deutschland. Von dort aus werden jährlich 10.000 Menschen abgeschoben. Angesichts der Vereinheitlichung von EU-Flüchtlings- und Migrationspolitik forderte ein Sprecher von "Kein Mensch ist illegal", "weitere Perspektiven der europäischen Zusammenarbeit von antirassistischen Gruppen" zu entwickeln.
Gerhard Klas
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