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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 28.10.1999, Seite 4

Türkei

Attentat zur Stärkung des Regimes

Wie jeden Donnerstag begab sich Ahmet Taner Kislali auch am Morgen des 21.Oktober zu seinem Auto, das er vor der Tür seines Hauses in einem Vorort der Stadt Ankara geparkt hatte. Doch bevor der als kemalistischer Hardliner bekannte Professor und Journalist den Wagen wie gewohnt starten konnte, musste er an diesem Mogen noch eine Plastiktüte entfernen, die jemand auf seiner Windschutzscheibe zurückgelassen hatte. Kislali griff nach der Tüte und starb noch im selben Moment, als die Bombe explodierte.
Schuldige waren in der türkischen Öffentlichkeit schnell gefunden. Der private Fernsehsender NTV vermeldete bereits nach kurzer Zeit, die "Große Östliche Islamische Angriffsfront" habe sich zu dem Attentat auf den antiislamistischen Kritiker bekannt. Noch in dieser Woche, so wusste der Nachrichtensender, habe Kislali die türkische Regierung für ihre Nachlässigkeit im Umgang mit dem Islamismus attackiert.
Kislali, Politikwissenschaftler und ehemaliger Kulturminister in den späten 70er Jahren, der für die sozialkemalistische Tageszeitung "Cumhuriyet" schrieb, hatte sich in seinen letzten Artikeln gegen Mehmet Kutlular, einen islamistischen Führer gewandt, der des Erdbeben vom August als Gottesstrafe bezeichnet hatte und dafür derzeit wegen "Aufstachelung zum religiösen Hass" angeklagt ist. Mehr Beweise für die scheinbare Verantwortung der islamistischen Gruppe an dem Attentat hatte der Sender nicht vorzuweisen. Ein Bekenntnis liegt bis heute von keiner Seite vor.
Lediglich einige wenige mahnende Stimmen lassen sich in der Presselandschaft vernehmen. So meldet die "Turkish Daily News" erste Zweifel an der islamistischen Verantwortung an: "Die Ermordung von Professor Ahmet Taner Kislali ist ein weiterer Schlag gegen Demokratisierung, Frieden und Harmonie in diesem Land", leitet Chefredakteur Ilnur Cevik seinen Leitartikel ein. Cevik weiss genau, er könnte der nächste sein, denn Ceviks Profil als potenzielles Opfer, unterscheidet sich kaum von dem des kemalistischen Kollegen.
"Leider ist der Tod von Professor Ahmet Taner Kislali ein Klassiker", legt Cevik den Finger in die Wunde staatlicher Glaubwürdigkeit. "Es ist immer dieselbe Geschichte. Erst suchen sie sich eine Person, die als Säkularist bekannt ist und ein Leben lang für Atatürks Ideen gekämpft hat, heraus. Dann bringen sie ihn oder sie um und beschuldigen die Islamisten", klagt er die staatlichen Mafiastrukturen an.
Und in der Tat scheint in diesem Attentat der Versuch zum Ausdruck zu kommen, Geschichte zu wiederholen. So wurden bereits in der Vergangenheit verschiedentlich staatstragende Intellektuelle in staatlichem Auftrag ermordet - immer dann, wenn es darum ging, Krisen des Kemalismus mit Hilfe der Vertiefung antikemalistischer Feindbilder zu überwinden.
So wurden Anfang der 90er Jahre die Professoren Muammer Aksoy und Bahriye Ucok ebenso von "unbekannten Tätern" ermordet, wie der ehemalige Herausgeber der Zeitung Hürriyet, Cetin Emec, und der Journalist und Schriftsteller Ugur Mumcu. Speziell der Fall Ugur Mumcu gleicht dem Attentat gegen Kislali bis ins Detail. Und KennerInnen der innenpolitischen Szenerie des Landes haben ein ähnliches Attentat bereits seit einigen Tagen vorhergesagt.
Nach jedem der genannten Intellektuellenmorde wurden islamistische Gruppen beschuldigt und in jedem Fall verblieben die Täter bis heute im Dunkeln.
"Erst Jahre später", erinnert die "Turkish Daily News", "begannen die Leute all das in Frage zu stellen und zu sagen, dass die Morde auf das Konto derer gehen, die die Demokratisierung der Türkei verhindern und mit dem Regime der Ausplünderung, Korruption und Unregelmässigkeiten fortfahren wollten, vorgeblich um die Republik zu schützen."
In diesen Wochen versuchen die kemalistischen Eliten im Gleichklang mit den Verlautbarungen des Generalstabs, die islamistische Bedrohung erneut zu inszenieren und ins Zentrum des öffentlichen Interesses zu rücken.
Der nächtliche Polizeiüberfall auf das Haus der Parlamentsabgeordneten Merve Kavakci, der nach Erscheinen im Parlament mit einem Kopftuch die türkische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde; die Haftstrafe gegen den Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, der auf einer öffentlichen Kundgebung die falsche Poesie zitiert hatte; die Verhaftung des moderaten Islamisten Mehmet Kutlular, der das Edbeben vom August als Gottesstrafe deklariert hatte - sie alle dienten der nur scheinbar stümperhaft vollzogenen Reetablierung der Lüge von der islamistischen Gefahr.
Der Mord an Kislali spitzt diese Situation nun erheblich zu. Mit massenhaften Beileidsbekundungen und Distanzierungserklärungen von Seiten der ins Kreuzfeuer der öffentlichen Anschuldigungen geratenen IslamistInnen, kurdischen Organisationen, linken Parteien und demokratischen Gruppen sowie durch die massenhafte gesellschaftsübergreifende Teilnahme an der Beerdigung Kislalis könnte ein weiteres Mal einer Bewegung, die gerade beginnt, die überkommenen kemalistischen Prinzipien in Frage zu stellen, die Spitze abgeschlagen werden.
Kurz vor dem im November bevorstehenden Gipfel der OSZE in Istanbul benötigt auch die türkische Aussenpolitik weitere Beweise, warum der Kampf gegen den sog. "Terrorismus" auf der Seite der Menschenrechte keine Verbesserung der Situation zulässt.
Und denjenigen, die die Türkei mit Panzern und Hubschraubern sowie Lizenzen zur Herstellung von Panzermunition und Schnellfeuergewehren zu versorgen gedenken, wird dieses Attentat neue Argumente liefern, warum in der türkischen Regierung noch immer die vertrauensvolleren Verbrecher zu finden seien.
Knut Rauchfuss
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