Sozialistische Zeitung |
Nach SPD und KPD hat auch beider Erbin 1946 in der sowjetischen Besatzungszone, die Sozialistische
Einheitspartei Deutschlands, vor der Geschichte versagt. Die Sozialdemokratie hatte 1914 mit dem aggressiven, kriegstreiberischen deutschen
Imperialismus paktiert und ihm nach der militärischen Niederlage geholfen, seine Herrschaft zu retten. Die stalinistisch deformierte KPD
gab 1933 gleich der SPD die Errungenschaften der Arbeiterbewegung dem Faschismus preis. Die SED trug nach dem Zweiten Weltkrieg zwar
wesentlich zur Entnazifizierung, zur Entmachtung von Großkapital und Junkertum und Schaffung eines sozial orientierten Staates im neuen
Osten Deutschlands bei, unternahm aber trotz gegenteiliger Beteuerungen nichts, um dort auch demokratische Verhältnisse durchzusetzen.
Infolge dieses Versäumnisses war sie 1989 außerstande zur politischen Revolution, die allein noch Chancen für die Rettung
der DDR oder für einen einheitlichen und zugleich progressiven deutschen Staat mit sich gebracht hätte. Vielmehr öffneten
Politbüro und Zentralkomitee der SED am 9.November dem bundesdeutschen Imperialismus das Einfallstor.
Gleichzeitig mit dieser bitteren Erkenntnis ist festzuhalten, dass es in allen
Situationen Genossinnen und Genossen gab, die sich dem Abwärtstrend in der Politik der jeweiligen Führung widersetzten und
Gegenvorschläge unterbreiteten. Hier werden aus aktuellem Grund die SED-Opposition zur Zeit der "Wende" und ihr Ringen
mit der damaligen Parteispitze dargestellt. Ohne sich immer dessen bewusst zu sein, folgte die Opposition einer Traditionslinie von
SozialistInnen und KommunistInnen, die in der Vergangenheit stets erneut am diktatorisch-stalinistischen Entwicklungsweg Kritik geübt
hatten und dafür von der Führung gemaßregelt worden waren. In den späten 80er Jahren breiteten sich in der SED
ernste Zweifel und aufmüpfige Stimmungen aus, ohne dass der Apparat dies - entgegen früheren Zeiten - sonderlich behinderte. Der
Opposition von 1989 kam zugute, dass die SED-Spitze in der Sowjetunion keinen nennenswerten Rückhalt mehr hatte und selbst erbittert
gegen von dort ausgehende Glasnost- und Perestroika-Tendenzen focht. Ungeachtet martialischer Gebärden und einer für das kleine
Land gewaltigen Zahl Bewaffneter glichen die staatstragende Partei und ihre Führung einem gelähmten Koloss.
Reformer in den letzten Jahren der SED
Von Dezember 1988 bis Frühjahr 1989 erwogen sogar Teile der Führung eine politische Auflockerung und Reformen in der
DDR. Erich Honecker gab damals die Parole von der "Dialektik von Kontinuität und Erneuerung" aus und sagte,
"sozialistische Demokratie" im Land müsse "erlebbar gestaltet werden". Allerdings sollte das nach seiner
Meinung und der des Zentralkomitees auf typisch deutsche Art gründlich vorbereitet geschehen.
Zuerst, wurde festgelegt, müssten Genossen
Gesellschaftswissenschaftler die im "Realsozialismus" wirkenden Widersprüche erforschen und eine "Konzeption des
modernen Sozialismus" erarbeiten, dann sollte der für 1990 anberaumte XII.Parteitag der SED darüber befinden. In
elitären Kreisen, von denen der um das Projekt "Moderner Sozialismus" unter Prorektor Professor Dieter Klein sowie
Professor Michael Brie an der Humboldt-Universität Berlin der wichtigste war, führte der Beschluss zu verschiedenen
Ausarbeitungen und teilweise heftigen Diskussionen. Doch das geschah im stillen Kämmerlein, nichts durfte darüber nach
außen dringen. Das Endergebnis waren rund 100 Studien, die auf den SED-Führungsetagen in Panzerschränken gestapelt,
aber selten auch nur überflogen oder gar gelesen wurden.
Die Führung hatte sich inzwischen von kurzzeitig wirksam gewesenen
"Aufweichungstendenzen" wieder befreit. Das gefälschte Kommunalwahlergebnis vom Mai 1989 als Stütze im Nacken
und die blutige "Abrechnung mit dem Klassenfeind" auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im Juni desselben Jahres als
Vorbild im Blick, orientierte sie auf Unnachgiebigkeit gegenüber den verstärkt hervortretenden Bürgerrechtlern, vor allem
aber darauf, den 40.Jahrestag der DDR-Gründung am 7.Oktober als bombastische, jeden Rahmen sprengende Kette von Festivitäten
zu zelebrieren.
Die Lage in der Republik war unterdes durch wachsende wirtschaftliche
Schwierigkeiten, Versorgungsengpässe, allgemeine Unzufriedenheit und - seit Öffnung der ungarischen Grenze nach
Österreich im August 1989 - einen rasch anschwellenden Strom vornehmlich junger Leute, oft ganzer Familien, über Ungarn, die
Tschechoslowakei und Polen in die BRD gekennzeichnet.
Innerhalb der SED bildete sich damals eine Legende, die bis heute geglaubt
wird. Demnach war die Schweigsamkeit des Politbüros, das in Abwesenheit des erkrankten bzw. in Urlaub befindlichen Honecker unter
Wirtschaftsdiktator Günter Mittag amtierte, den alarmierenden Vorgängen gegenüber hauptverantwortlich für alle
weitere Unbill. In der Tat war die faktische Ein-Mann-Herrschaft an der Spitze der SED so weit gediehen, dass bei Nichtanwesenheit des
Generalsekretärs des ZK keine Entscheidungen mehr getroffen wurden und Mittag jede dem entgegengesetzte Initiative
pflichtgemäß abblockte. Zweifellos hat diese Tatenlosigkeit auch politisch geschadet. War aber der Generalsekretär im Amt,
wie das vor und nach der "Schweigsamkeitsperiode" der Fall gewesen ist, wurde es keineswegs besser. Honecker goss in der
Regel Öl aufs Feuer und richtete dadurch noch größeren Schaden an. So, als er öffentlich die DDR-Bürgern
verhasste Möglichkeit heraufbeschwor, die Mauer könnte noch 50 oder 100 Jahre stehen bleiben, wenn sie gebraucht würde.
So, als er am 1.Oktober eine ADN-Meldung über den Transport DDR-Ausreisewilliger aus Prag in Sonderzügen über
Dresden in die Bundesrepublik mit dem dummdreisten Kommentar versah, diese Bürger hätten "durch ihr Verhalten die
menschlichen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine
Träne nachweinen."
In den SED-Organisationen hatten die Wahlfälschungen im Mai mit
Zynismus vermischte Empörung und die Solidarisierung mit Chinas Führern Besorgnis hervorgerufen. Brutale Polizei- und
Staatssicherheitsattacken um den 7.Oktober herum, vornehmlich in Dresden und Berlin, lösten an der Parteibasis teils Entsetzen, teils
ohnmächtige Wut über die eigene Obrigkeit aus. Spontan fasste die übergroße Mehrheit innerhalb der SED den
Entschluss, der Führung fortan nicht mehr gegen ihre Widersacher im Volk beizustehen.
Die Situation in den sächsischen Metropolen war besonders
prekär. In Dresden wegen der schon erwähnten Sonderzüge, auf die jüngere Bürger aufzuspringen versuchten, um
mitfahren zu können, und wegen des bis zur Straßenschlacht eskalierenden Einsatzes der Sicherheitskräfte hiergegen. In
Leipzig wegen der schon erreichten Stärke der Bürgerrechtsbewegung und der Absicht maßgeblicher Kräfte der Partei-
und Staatsführung, diese Bewegung gerade hier zu treffen und niederzuschlagen. Dazu sollten, wie es in einem von Honecker
unterzeichneten Befehl hieß, die in der Stadt massierten Bewaffneten aus Polizei, Kampfgruppen, Volksarmee und Staatssicherheit
"offensiv vorgehen".
Führende Funktionäre der Bezirksleitungen suchten hingegen
deeskalierend auf die Lage einzuwirken. Im Einvernehmen mit dem ersten SED-Bezirkssekretär Hans Modrow nahm Dresdens
Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer den Dialog mit der Bürgerbewegung auf. Die Mitglieder der SED-Bezirksleitung Leipzig
Roland Wötzel, Jochen Pommert und Kurt Meyer riefen in bedrohlicher Lage gemeinsam mit Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, dem
Theologen Dieter Zimmermann und dem Kabarettisten Bernd Lutz Lange Demonstranten und Sicherheitskräfte zu beiderseitiger
Gewaltlosigkeit auf, was befolgt wurde.
Generell entscheidend für die weitere Entwicklung in der gesamten
Republik waren die Entschlossenheit der Parteimitgliedschaft, der Bürgerrechtsbewegung gegenüber Gewehr bei Fuß zu
bleiben, und die gleichartige Haltung der zahlreich anwesenden Sowjetstreitkräfte im Land. Hierdurch sah die SED-Spitze sich
veranlasst, den zitierten Honecker-Befehl zum "offensiven Vorgehen" durch einen anderen zu ersetzen, der Gewaltanwendung und
Schusswaffengebrauch verbot. Die mit 70.000 Teilnehmern, unter ihnen Bürgerrechtler und Genossen, bislang größte
Leipziger Montagsdemonstration am 9.Oktober 1989 markierte den Durchbruch zur Demokratisierung der DDR von unten.
Diese Bewegung konnte weder durch das Kommuniqué des
Politbüros des ZK vom 11.Oktober mit seiner darin bekundeten Dialogbereitschaft, noch durch die Palastrevolution vom 17. und
18.Oktober gegen Honecker, Mittag und den obersten Verhinderer der Verbreitung wahrheitsgetreuer Nachrichten, Joachim Herrmann, gestoppt
oder eingeengt werden. Egon Krenz, der Honecker in der gleichzeitigen Eigenschaft des Generalsekretärs, des Staatsratsvorsitzenden und
des Vorsitzenden des Verteidigungsrats ablöste, war von Anfang an diskreditiert: als oberster Wahlleiter der DDR bei den
gefälschten Kommunalwahlen im Mai sowie als Leiter einer Delegation, die nach dem Blutbad in Peking die chinesischen Führer
hofierte. Bloße Hinnahme der inzwischen durch die Demonstrationen in der DDR gewandelten Situation, die er der eigenen Partei als
Verdienst gutschrieb, und Reformversprechen reichten nicht aus, ihn populär zu machen.
Wer öffnete die Grenze?
Für die SED-Opposition war charakteristisch, dass sie die Bürgerrechtler, die unter der Losung "Wir sind das
Volk" die Straße erobert hatten, gewähren ließ. Am 4.November 1989 nahm sie zusammen mit ihnen an der
größten freien Demonstration und Kundgebung der DDR-Geschichte in Berlin teil, die massiv die verfassungsmäßig
garantierten Rechte einklagte. Zur Kooperation zwischen ihr und dem linken Flügel der Bürgerrechtsbewegung kam es dennoch
nicht, obwohl z. B. bei einer Leipziger Montagsdemonstration im September die "Internationale" gesungen, bei der vom 9.Oktober
ein "Zusammenschluss aller demokratischen Kräfte" und das "aktive Handeln der Reformkräfte in der SED"
verlangt wurden und auch führende Bürgerrechtler sozialistische Reformen in der DDR propagierten.
Am 8.November traten Teile der Berliner Parteimitgliedschaft offen dem
Zentralkomitee der SED entgegen. Bei einer von den Parteiorganisationen der Humboldt-Universität, der Akademie der Wissenschaften
und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften getragenen, durch das DDR-Fernsehen live ausgestrahlten Manifestation vor dem ZK-
Gebäude forderten sie erstmals einen Sonderparteitag statt der von oben zugestandenen Parteikonferenz, der allein eine neue, nicht
diskreditierte Führung zu wählen in der Lage war. Damit leiteten sie die mehrere Etappen umfassende Wandlung der SED zur
nichtstalinistischen demokratischen Partei ein. Die alte Führung unter Krenz aber parierte schon den ersten schweren Hieb mit einem
verhängnisvollen Selbstbefreiungsschlag, der Öffnung der Westgrenzen. Damit wurde nicht nur ihr eigenes Erneuerungsprogramm
hinfällig, das trotz mancher Gewundenheiten über eine baldige Rückkehr zum vorangegangenen Zustand diverse brauchbare
Passagen enthielt, sondern auch die weitere Existenz des DDR-Staats.
Nicht geheimnisvolle Verschwörer in West und Ost, die KGB-
Gruppe "Lutsch", der ehemalige stellvertretende Staatssicherheitsminister Markus Wolf oder Rechtsanwalt Gregor Gysi hatten
diesen Zustand herbeigeführt, wie bürgerliche und nach eigener Einschätzung kommunistische Autoren weismachen wollen*,
das tat vielmehr die Führung der SED. Einesteils über einen längeren Zeitraum hinweg, in dem sie den DDR-Bürgern
das Interesse am staatlichen Eigentum und den Hang zum Sozialismus austrieb und die Parteiorganisationen zu unselbständigen, von oben
dirigierten Gebilden "erzog", die schwer wieder zu eigenem Denken und Handeln zurückfanden. Anderenteils indem sie durch
die unerwartete Öffnung der Westgrenzen nach 28 Jahren strenger Abschottung half, die deutsche Frage auf der Grundlage des Bonner
imperialistischen Strickmusters, zum Schaden weiter Bevölkerungskreise, zu lösen. Die SED-Basis erwies sich außerstande,
dies zu verhindern. Sie machte sich dadurch mitschuldig am Resultat.
Zu den Fehlern der Partei in der damaligen Übergangsperiode vom
Pseudosozialismus zum vollendeten Kapitalismus gehört auch, dass sie den übereilten Ausschluss der bisherigen Führung aus
der SED zuließ oder betrieb, statt deren Mitglieder, wie statutenmäßig geboten, strengen Parteiverfahren zu unterziehen. Mit
Ausnahme eines kurzen Verhörs mussten sie sich nicht, wie vordem Hunderttausende GenossInnen, für ihre Taten rechtfertigen, die
vielmals bösartiger und dem Sozialismus feindlicher waren als die schlimmsten nachweisbaren Vergehen einiger Erstgenannter.
Der von der Basis erzwungene Außerordentliche Parteitag der SED
im Dezember 1989 wies neben der Wahl eines neuen, nicht politbürokratischen Vorstands und der Namensänderung in SED-PDS
noch andere wichtige Neuerungen auf, vor allem den für definitiv erklärten Bruch mit dem Stalinismus als System, bei
gleichzeitigem Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus, zur Gleichberechtigung aller Mitglieder und zur Meinungsvielfalt,
schließlich auch zur Existenz unterschiedlicher Gruppen und Plattformen in der Partei. Der Kongress legte derart den Grund für
eine Entwicklung, in der sich die Partei des Demokratischen Sozialismus trotz vieler Misshelligkeiten und Fehler im Laufe der Zeit zur
mitgestaltenden Kraft in Ostdeutschland, stärksten linken Gruppierung der Gesamt-BRD und einzigen bundesdeutschen Oppositionspartei
wider einen neuen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg - den gegen Serbien 1999 - mauserte.
Um die PDS zur konsequent linkssozialistischen Partei heranzubilden,
insbesondere also die Gefahr einer Sozialdemokratisierung im schlechtesten Sinn und der Einverleibung ins staatstragende Parteiensystem von
ihr abzuwenden, werden Sozialisten und Kommunisten noch viel zu tun haben. Das hängt auch mit Versäumnissen der einstigen
SED-Opposition in ihrem insgesamt gerechtfertigten Kampf wider Politbürokratie und Parteiapparat zusammen.
Manfred Behrend