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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 28.10.1999, Seite 16

Ostdeutsche als westdeutsches Medienkonstrukt

Nicht nur "Spiegel"-Leser wissen bekanntlich mehr, wenn es um das rätselhafte Wesen des Ostlers geht. Ob seltsames Wahlverhalten, überdimensionaler Alkoholkonsum oder niedrige Geburtenrate - ostdeutsche Besonderheiten werden von westdeutschen Medien immer wieder gern aufgegriffen.
Wird Ostidentität also vom Westen konstruiert? Mit Sicherheit spielt die Darstellung von Ostdeutschen in den Medien eine Rolle bei der Herausbildung dieser Identität. Gerade die Auseinandersetzung mit westdeutschen Beschreibungen über Ostler befördert die Formulierung einer eigenen Identität. Zu den gemeinsamen Erfahrungen der Ostdeutschen gehört eine oft verzerrte Darstellung der eigenen Realität durch Hamburger Redakteure. Wenn Ostdeutsche etwas verbindet, dann ist es wohl die gemeinsame Empörung darüber, wenn ein westdeutsches Journalistenteam aus Bitterfeld vermeldet, es sähe dort schlimmer aus als in Hiroshima. Dieses Phänomen kann durchaus als anti-kolonialer Reflex bewertet werden, der eine Quelle für Ostidentität ist.
Welche Strategie verfolgt also die Beschreibung Ostdeutscher? Anhand von Artikeln zum Thema im Spiegel, dem westdeutschen Meinungsführer, soll dieser Frage nachgegangen werden.

Ostler ist nicht gleich Ostler
Bereits 1993 stellte Spiegel-Autor Cordt Schnibben fest: den Ostdeutschen gibt es gleich in dreifacher Ausführung. "Erstens der Misch-Typ, zweitens der West-Typ, der so riechen, reden und aussehen möchte wie ein Düsseldorfer und drittens der Ost-Typ, der immer noch hinter der Mauer lebt und leben will." Es gibt also solche und solche. Schon zwei Jahre später stellte der Spiegel fest, dass es darüber hinaus auch Junge und Alte im Osten gibt. In Ostdeutschland "wächst eine neue vielversprechende Generation heran", war man sich seinerzeit in den Hamburger Redaktionsräumen einig. Die Ostjugendlichen fügen sich dem neuen Deutschland, "verhalten sich westlicher als ihre Altersgenossen im Rest der Republik", werden schneller erwachsen und studieren schneller. Also rundum "fit für die Marktwirtschaft und das große Deutschland"! Doch die Jugend im Osten ist zerrissen: quasi "zwischen Chaos und Karriere". Den ostdeutschen Karrierekids steht das "große Heer der Hoffnungslosen" gegenüber. Diese sehen "Gewalt als attraktive Möglichkeit" und lassen "gesellschaftliche Auflösungsprozesse" erkennen. Rechtsradikale Gewalt im Osten, liest sich im Spiegel folgendermaßen: "Ostkids sind nach Rostock so selig herumgelaufen, wie viele Westkids nach Woodstock." Weiter geht es mit: "In den Kinderzimmern Ostdeutschlands marschiert die SA. Zonen-Teenies rüsten sich für den nächsten Sturm. Langes Holz und grüne Jacken standen auf den weihnachtlichen Wunschzetteln der jüngeren Gymnasiasten Zittaus ganz oben."
Doch Ambivalenz ist angesagt und so beschreibt der Spiegel das widersprüchliche Ostdeutschland: "hier der deutsche Osten als Reservat tumber Horden, die besoffen, grölend und prügelnd durch noch immer nicht erblühende Landschaften ziehen - dort die Kinder der DDR, die den Wandel von der Einheitsjugend zum marktwirtschaftskompatiblen Hochgeschwindigkeitsnachwuchs scheinbar mühelos geschafft haben." Die "Verlierergeneration" ist die der 40- bis 50-Jährigen. Die Älteren können sich mit der Marktwirtschaft nicht richtig anfreunden und schwören auf "Wertarbeit made in GDR". Sie essen mehr Fett und treiben weniger Sport als Westdeutsche.
Verschwörungstheorien haben bei ihnen Konjunktur und sofern sie sich nicht sowieso umbringen (höhere Selbstmordrate als im Westen), entdecken sie immer neue Facetten der Nörgelei. In dieser Welt des Umbruchs und der Ungewissheit hat sich unter den Ostdeutschen eine depressive Stimmung verbreitet. Dabei kommen die ostdeutschen Männer noch ein wenig besser weg, denn bei ihnen "überwiegt die Freude, dass die Teilung überwunden ist". Frauen dagegen "haben mehr Angst vor den Problemen, die damit verbunden sind". So unterschiedlich junge und alte Ostler, Gewinner und Verlierer bzw. Frauen und Männer auch sind, das Trauma DDR haben sie immer noch gemeinsam.

Langzeitschaden DDR
Ob es die Ost-Berliner sind, "die im engen SED-Sozialismus groß wurden", oder der Kandidatenmangel bei Kommunalwahlen, der den Spiegel eine "Demokratie ohne Demokraten" befürchten lässt: die "Autoritätsfixierung aus fast 60 Jahren Diktatur" hält an. Kurzum: "den Ostdeutschen mangelt es an jenen Eigenschaften, die den Bürger vom Untertan unterscheiden".
Am Anfang war es nur die Staatssicherheit: "Die Stasi-Filialen haben die Menschen entmündigt und mutlos gemacht. Sie sind verantwortlich für die Aussitz-Mentalität, für den destruktiven Gehorsam, der den Nerv gelähmt und den Volkscharakter verbogen hat." Möglicherweise ist die Stasi auch dafür verantwortlich, dass "die Leute sich so leicht einseifen lassen, weil sie so unselbständig sind. Sie müssen erst lernen nein zu sagen, wenn ihnen die Verkäuferin im Schlachterladen 150 Gramm zuteilt, obwohl sie nur ein Viertelpfund verlangt haben." Damals konnten die armen Ostler noch nichts dafür.
Nach fünf Jahre stellt der Spiegel bestürzt fest: "Das Ost- Gefühl. Heimweh nach der alten Ordnung." Die Ostdeutschen sind nicht allein "stolz aufs eigene Leben", schlimmer: nur ganze 19% von ihnen halten den Sozialismus für ein zum Scheitern verurteiltes System.
In der Untersuchung zur DDR-Nostalgie schneidet das ehemalige System erstaunlich gut ab. Ostler vermissen neben der sozialen Sicherheit, das ruhige, einfache und geordnete Leben. Nur gewisse materielle Vorteile können sie der neuen Zeit abgewinnen.
Doch nicht nur, dass "je länger Mauersturm und Wiedervereinigung zurückliegen, desto liebenswerter erscheint die DDR", im Innern "pflegt der Ostdeutsche diese tiefgreifende Überzeugung, er sei im Grunde der bessere Mensch". Zu dieser absurden Auffassung kommen die Ostler aber nur deshalb, weil hier "hingegen ein totalitärer Freiheitsbegriff überdauert hat".
Für die positive Bewertung der DDR hat der Spiegel eine einfache Erklärung: "Auf ein einziges Wort lassen sich fast alle nostalgischen Gedanken und Gefühle der Ostdeutschen zurückführen. Dieses (Haupt-)Wort heißt Sicherheit." Nach Meinung des Meinungsforschungsinstitut Allensbach wollen Ostdeutsche deshalb auch "soziale Sicherheit statt bürgerliche Freiheiten". Eine Untersuchung der Uni Potsdam pflichtet artig bei, dass den Ostlern Ruhe und Ordnung wichtiger sind als der Schutz der Meinungsfreiheit. Selbst die CDU-Anhänger im Osten wünschen sich mehr soziale Gerechtigkeit, auch wenn es auf Kosten der Marktfreiheit geht.
Was die Ostdeutschen jedoch nicht verstehen wollen, ist das "Nostalgie und Realitätssinn nicht identisch" sind. Offensichtlich "drang es nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung, dass die preisgünstige Grundversorgung die DDR in den Ruin trieb".
Die Ostler erscheinen als rätselhafte Wesen, die eine "Art von Zusammengehörigkeitsgefühl, das für moderne westliche Gesellschaften eher untypisch ist", aufweisen. Noch seltsamer ist, dass sich die Ostdeutschen um so stärker abgrenzen, desto stärker sich die Lebensbedingungen angeblich angleichen.
Die ungeheure Anpassungsleistung der Ostdeutschen wird einhellig bewundert, wie ein westdeutscher Sprachforscher, der akribisch auflistet, welche neuen Wörter die Ostler in den letzten Jahren lernen mussten. Die Sprachprobleme der Ostler, "langsames, ruhiges aber auch leierndes ja roboterhaftes Sprechen Ost, kontrastiert mit schnellem, akzentuierten Sprechen West", bringen zum Ausdruck: "nicht alle können Tempo und Ton" der neuen Zeit vertragen. Folge ist ein "Groll, der tief in den Drei-Raum-Wohnungen in Hellersdorf, Lichtenberg, Marzahn und Hohenschönhausen nistet".
Die vergangenheitsgeschädigten Ostler haben einen "trotzigen Stolz" oder blumiger formuliert "ein aus Abschottung geborener Fundamentalismus kennzeichnet diesen unzynischen Menschenschlag, dem der amerikanisierte Westbürger suspekt und liederlich erscheint". Da überkommt die meisten das Gefühl, doch nicht dazuzugehören. Und sie schaffen sich ihre Art von Mauer in Köpfen: eine Identität aus Trotz. "Das neue Selbstbewusstsein ist immer ein Ostbewusstsein. Der neue Stolz der Ossis ist ein Symptom tiefsitzender Ängste und Minderwertigkeitskomplexe. Die Menschen fühlen sich wie dringend bestellt und verdammt lange nicht abgeholt."
Manchmal drehen die Ostler auch richtig durch: "pure Ost- Gefühle" kommen zum Ausbruch. Dann wird "Sport zum Ventil gegen Einheitsfrust", "lässt die Gemeinschaftsgefühle der Bürger wachsen" und wird "fast zur Religion". Das alles, obwohl die Ostklubs gar nicht mehr Ost sind und die Ostdeutschen sich die Eintrittskarten eigentlich gar nicht leisten können. Deswegen sind Pädagogen gefragt, "die verhindern, dass ein dumpfes Wir-Gefühl entsteht". Zumindest bei jugendlichen Fußballfans in Jena.

Nachts ist es kälter als draußen
Dabei sieht es in Thüringen gar nicht so schlecht aus: wo immerhin zwei Drittel an den Aufbau ihres Landes glauben. Das macht dann auch das spezifische Thüringer Landesgefühl aus: selbstsicher und traditionsbewusst. Eine ganze Spiegel-Serie hat sich der Aufgabe gewidmet, herauszufinden in welchem Bundesland die Ostdeutschen am glücklichsten sind.
Noch vor den Thüringern: "flink, fleißig und ein wenig bieder: die Sachsen". Dank ihrem sächsischen "Bürgersinn, Selbstbewusstsein und Tüftlergeist" nörgeln sie weniger als andere Ostbürger. "Systemwechsel nach Sachsenart" heißt: "fein sachte und mit starkem Drang zur Normalität". Leider haben die Sachsen neben ihrem Optimismus auch ein bisschen Größenwahn, was vielleicht die hohe Selbstmordrate erklärt.
Schlimmer sieht es dagegen in Mecklenburg aus, dort ist nicht mal die Hälfte vom kommenden Aufschwung überzeugt. Mecklenburg-Vorpommern steht für "Abwanderung und Niedergang, für dickes Blut und trübes Wetter, für trotzige Rückständigkeit und schlimmsten Suff".
Doch nicht hier und auch nicht in Sachsen-Anhalt, wo "die Bürger ihre Zukunft pessimistischer als anderswo im Osten" sehen, sondern in Brandenburg befindet sich die "Nachhut der DDR". Die Brandenburger sind, obwohl es ihnen eigentlich gar nicht so schlecht geht, "im neuen Deutschland noch längst nicht zu Hause".
Unter dem Motto "Der Osten wird bunt" wurde die unterschiedliche Lebensqualität in ostdeutschen Städten ermittelt. Ergebnis: die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern der Einheit geht immer weiter auseinander. Dabei ist nicht immer nachzuvollziehen, wer Gewinner bzw. Verlierer ist. So sind z.B. die Cottbusser mit der Situation in ihrer Stadt sehr zufrieden, obwohl die Statistik alles andere als rosig ist. Wahrscheinlich weil "das Glück es leicht hat, sich in Cottbus auszubreiten, wo die meisten mit wenig zufrieden sind". So bildet sich in Cottbus statt einer destruktiven Ostidentität ein Wirgefühl der stolzen Cottbusser heraus. In Potsdam dagegen, wo die Bedingungen statistisch gesehen am besten sind, gibt es die meisten Unzufriedenen. Aber der Spiegel weiß sowieso: "die Potsdamer haben ein metaphysisches Verhältnis zum Griesgram", und "das Potsdamer Gefühl sucht die Niederlage, wo immer sie zu haben ist". Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen hat im Osten also nichts mit der Realität zu tun. Wichtig allein ist die persönliche Einstellung und ein bescheidener Anspruch. Aufschwung Ost kann so einfach sein.
Gewinner gibt es auch in Leipzig, "wo die Stadt hektisch tickt und ihre 30-Jährigen noch schneller als ihre Stadt ticken wollen". Die "Boomtown-Kids" fühlen sich auch "kapitalistischer als die Kapitalisten", denn: "Wir schämen uns nicht fürs Geldverdienen." Logisch, dass die Leipziger keine ausgeprägten Jammerossis sind. Dafür bleibt in der boomenden Stadt keine Zeit.
Jammern und Einheitsfrust sind eher etwas für ein Mecklenburger Dorf, wo "Freiheit und Eigenverantwortung für die Menschen immer noch angstmachende Fremdwörter sind". Oder eben im thüringischen Jena, wo der Sozialismus in den Köpfen noch lange nachwirkt - "mit nachhaltigen Folgen für die Stadt".

Musealisierung und Entpolitisierung
Ostdeutschen werden, das zeigt die Betrachtung der Berichterstattung im Spiegel, bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben. Eine Typisierung von Ostdeutschen findet statt, die Ostler auf bestimmte Merkmale reduziert.
Die Frage, wer Gewinner oder Verlierer der Einheit ist, wird zur Frage nach Alter, persönlicher Einstellung und Wohnort. Junge, zielstrebige Ostler sind in der Realität angekommen und eigentlich auch keine Ostler mehr, sondern Cottbusser oder Thüringer. Es ist eine Regionalisierung des Phänomens der Ostidentität zu erkennen. Jugendliche ohne Job und Ausbildungsplatz fallen dabei ebenso unter den Tisch, wie die massive Abwanderung gerade junger Leute aus ostdeutschen Regionen. Aktivität oder Lethargie, Optimismus oder Pessimismus entscheiden allen Ernstes darüber, welche soziale Stellung der Einzelne einnimmt. Bei der Betrachtung von regionalen Unterschieden im Osten wird vergessen, dass diese Unterschiede, die es bereits zu DDR-Zeiten gab, unter den neuen Bedingungen erst recht größer wurden. Doch das anzustrebende Ziel bleibt deutlich: Ostler sollen sich gefälligst als Sachsen oder Brandenburger fühlen.
Gemeinsame Erfahrungen werden auf die Zeit der DDR zurückdatiert. Die prägende Wendeerfahrung bzw. die gemeinsame Stellung im Transformationsprozess kommen als Ursachen für Ostidentität nicht vor. Indem kollektive soziale Erfahrungen der Ostler nur in der Vergangenheit verortet werden, findet eine Musealisierung von ostdeutscher Identität statt. Einzig und allein die Langzeitschäden des DDR-Sozialismus sind dafür verantwortlich, dass Ostdeutsche in der Bundesrepublik noch nicht angekommen sind.
So schwierig dieser Schaden zu kurieren ist, so absehbar ist, dass er sich in ein paar Jahren von selbst erledigen wird. Nicht die strukturelle Benachteiligung und Abhängigkeit des Ostens sind Thema einer ostdeutschen Identität, sondern die nostalgische DDR-Erinnerungsgemeinschaft.
Damit wird die gesellschaftliche Relevanz von Ost-West-Unterschieden heruntergespielt und eine politische Debatte darüber für überflüssig erklärt. Schließlich sind alle Differenzen vorbei, so bald die DDR endlich vergessen ist. Auf der anderen Seite werden Ostdeutsche durch die starke Betonung ihres "DDR-Traumas" entmündigt und ihnen eine aktive gesellschaftliche Rolle abgesprochen. Diktaturgeschädigte Opfer, zu denen die Ostler gemacht werden, haben Aufholbedarf und keine Mitspracherechte.
Einhergehend mit der Musealisierung lässt sich die Entpolitisierung von Ost-West-Widersprüchen beobachten. Die nostalgische Vorliebe von Ostdeutschen für Rotkäppchen-Sekt kann schließlich nicht ernsthaft Thema politischer Auseinandersetzungen sein. Ebenso haben die Ferienlagererinnerungen der Ostler auch nicht unbegrenzte Haltbarkeit. Die Folklorisierung von ostdeutschen Besonderheiten verschleiert ihren politischen Hintergrund.
Vielleicht liegt ja genau hier ein zentrales Problem vieler Westlinker mit Ostidentität. DDR-Nostalgie, Sehnsucht nach Law and Order und kleinbürgerlichem Einheitsfrust wie im Spiegel ausführlich dargestellt, kann, völlig zu Recht, nichts emanzipatorisches abgewonnen werden. Doch Ostidentität ist abseits von westdeutschen Medien eine ernstzunehmende gesellschaftliche Realität. Es bleibt letzlich Aufgabe einer ostdeutschen Linken aufzuzeigen, welche Potenziale Ostidentität für sozialistische Politik birgt.
Matthias Naumann/Rainer Stefan

Mit freundlicher Genehmigung aus "telegraph", Nr.2, 1999. Alle Zitate aus Spiegel-Ausgaben von 1991 bis 1997.


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